Souvenirs, Amulette, Talismane und Devotionalien der modernen Kunst aus den Museumsshops der Welt.
Die kluge Fischerstochter, die weder nackt noch bekleidet vor dem König erscheinen durfte, verfiel auf die Lösung, sich in einem Netz zu präsentieren. Mit dieser intelligenten Spitzfindigkeit wurde die Fischerstochter zur Erfinderin einer neuen Klasse von Gegenständen: den theoretischen Objekten.
Die bekanntesten Beispiele für theoretische Objekte sind Lehrmittel, wie man sie in der Unterweisung von Lernenden seit alters verwendet. Man macht mit ihnen ein Funktionsprinzip oder ein Prozeßgeschehen anschaulich, ohne daß diese Lehrmittel selber leistungsfähige Maschinen oder chemische Anlagen wären. Sie vermitteln also zwischen der Maschine als geistigem Konstrukt und der Maschine als realem, funktionstüchtigem Gegenstand. Der Chemiebaukasten des Schülers ist also nicht ein verkleinertes Modell einer Bayer-Chemieanlage, aber er ist auch mehr als ein papiernes Chemielehrbuch. Der Chemiebaukasten ist ein theoretisches Objekt.
Das klingt komplizierter als es ist, wie jedes Kind weiß, da es Spielsachen benutzt. Auch Spielsachen sind theoretische Objekte, die dem Kind ermöglichen, zwischen einer gedanklichen Phantasie und der realen Welt eine Verbindung herzustellen. Spielen ist eine Form des Umgangs mit theoretischen Objekten.
Seit langem machen sich auch Erwachsene diese Leistung theoretischer Objekte zu nutze. Wer ein Souvenir kauft, z.B. bei einem Aufenthalt in Turin, einer Stadt, die beherrscht wird von dem in jeder Hinsicht auffälligen Turmbau der Mole, will angesichts des Souvenirs zu Hause offensichtlich seine Erinnerungen und Gedanken an den Aufenthalt in dieser Stadt aktivieren, ohne der realen Architektur tatsächlich gegenüberzustehen. Wäre diese Erinnerungsleistung genauso gut ohne die Souvenirs möglich, so würde sie niemand kaufen und in dem besagten Sinne nutzen. Mit dem deutschen Wort "Andenken" wird die Leistung der theoretischen Objekte gut gekennzeichnet. Sie veranlassen ein erinnerndes Nachdenken: sie sind Auslöser des Andenkens, und gleichzeitig geben sie dem Gedanken Struktur und Form. Damit sind die theoretischen Objekte auch mehr als bloße Symbole für eine abwesende Realität. Zwar haben sie sprachlichen Zeichencharakter, der gelesen werden kann, aber das Lesen wird begleitet von exemplarischer Anschauung, wie sie z.B. auch die kleine Opferfigur aus Ton vorgibt.
Wer diese Devotionalien – so heißen theoretische Objekte in rituellen Handlungen – etwa in einen Boutros, eine Opfergrube, wirft oder als Danksagung vor oder neben dem Altar eines Heiligen aufstellt, vollzieht eine reale und nicht nur symbolische Handlung, obwohl der geopferte Gegenstand nur einen Ersatz für eine viel zu kostbare Realie ist. Der Opfernde bringt nicht seinen wiedererlangten Gesichtssinn oder eines seiner geheilten Körperteile oder Realien seines Besitzes zum Opfer, sondern ein theoretisches Objekt, das einerseits ganz gegenständlich und materiell ist und andererseits das theologische Konstrukt des Opfers zugleich und gleichgewichtig veranschaulicht.
Auf die ähnliche Weise nutzen Menschen völlig selbstverständlich Amulette und Talismane. Auch sie sind nicht Erscheinungsformen von Naturkräften oder reale Ausformungen von Lebensenergie – es wäre viel zu gefährlich, ständig Geister mit sich herumzutragen, denn dann wäre man von ihnen besessen; stattdessen vermitteln Talismane und Amulette zwischen den eigenen vitalen und seelischen Energien des Trägers und den Wirkkräften der Natur in der Gestalt von Tieren, Pflanzen oder Mineralien. Deren Gestalt wird nämlich als Form der Auswirkung von Lebensenergie und Ordnungsprinzipien der Natur verstanden.
Seit mehr und mehr ZeitgenossInnen statt in Kirchen in die Museen gehen und ihre Lebensmittel und Realien des Alltagslebens im Shop erwerben, statt sie selber herzustellen, entwickeln sich auch im Bereich der Künste neue Objektcharaktere. Der Museumsshop wurde zum integralen Bestandteil der Museen. Mit ihm wurde nicht nur von cleveren Kaufleuten ein zusätzlicher Vermarktungsort gängigen Kunstgewerbes geschaffen. Er wurde vielmehr von Künstlern wie Claes Oldenburg, Andy Warhol oder Keith Haring als Ort künstlerischen Wirksamwerdens planvoll und mit guten Begründungen etabliert. Die Künstler meinten, mit den von ihnen für den Museumsshop gestalteten theoretischen Objekten auf die Art und Weise einwirken zu können, wie sich Betrachter auf Bilder, Zuhörer auf das Musizieren und Zuschauer auf ein theatralisches Geschehen einlassen. Die theoretischen Objekte des Museumsshops sollten also die Aneignung, die Rezeption der Arbeiten von Künstlern erweitern, erhellen und intensivieren.
Erhellend sind diese Museumsshop-Objekte, weil sie den Zeitgenossen klarmachen, daß wir Kunstwerke – vornehmlich autonom gedachte – wie Devotionalien behandeln, wie Kultbilder verehren. Auch lassen wir uns recht bedenkenlos dazu hinreißen, Kunstwerke als kraftspendend und vitalitätssteigernd wie Amulette zu verwenden. Viele Zeitgenossen gehen mit Kunstwerken wie mit Souvenirs um, die sie auf ihren kulturtouristischen Streifzügen durch die Welt der Künstler, Galeristen und Festivals kennengelernt haben.
Nach Meinung der Museumsshop-Künstler sollte man gegen solche Rezeptionsgewohnheiten nicht mit pathetischer Kulturkritik vorgehen, indem man den Betrachtern Oberflächlichkeit, Verdrängungs- und Entlastungsmentalität sowie bloß spielerisches Ersatzhandeln vorwirft. Die Museumsshop-Künstler meinen vielmehr, man sollte auch im Kunstbereich wie in der Touristik, an den Wallfahrtsorten und in den Therapieseminaren eine eigene Klasse von künstlerischen Arbeiten schaffen, die selber nicht originäres Kunstwerk sind, sondern ein Analogon oder Äquivalent, theoretische Objekte eben, in denen sich Formen der Rezeption und nicht des künstlerischen, autonomen Werkschaffens manifestieren. Betrachten, Zuschauen und Zuhören nehmen selber Gestalt an in den Museumsshop-Objekten.
In diesem Werkwerden der Rezeption als eigenständiger produktiver Tätigkeit kommt der Gedanke zum Ausdruck, die Tätigkeit von Betrachtern und Zuschauern zu erweitern. Denn in der Konfrontation des Betrachters mit den theoretischen Objekten der gegenständlich gewordenen Aneignung, wird das Betrachten auf eine neue Leistungsebene gehoben. Der Betrachter konzentriert sich nicht auf die betrachteten originären Werke; er wird vielmehr auch zur Betrachtung seines eigenen Betrachtens, zur Wahrnehmung seiner eigenen Wahrnehmungen veranlaßt. Das intensiviert die Arbeit der Rezipienten, aber auch ihren Genuß, der nicht mehr nur der Genuß der originären Kunstwerke ist, sondern Genuß der eigenen gedanklichen, anschaulichen und emotionalen Leistungen. Der Betrachter wird damit zum Beobachter des eigenen Verhältnisses zu den Kunstwerken. Seine Beziehung zum Werk und nicht nur das Werk selber wird Gegenstand seiner Orientierung auf die Kunst.
Damit erfüllen die theoretischen Objekte des Museumsshops spielerisch erprobend, ohne Angst vor Bildungsblamagen, jederzeit widerrufbar, auch in Abwesenheit von originären Kunstwerken zu lernen, sich zu erinnern, zu opfern, Gesundheil zu stiften – ohne daß man den Kunstwerken Gewalt antut, ihre Autonomieansprüche verfälscht, sie zu Lebenshilfen verkleinert. Das T-shirt von Keith Haring ist nicht nur ein multipliziertes Kunstwerk, was in sich bereits ein Widerspruch ist, es ist eine von Keith Haring vergegenständlichte Beziehung zwischen seinen Werken und seinem Publikum. Der kleine Rietveld-Stuhl aus dem Shop des Vitra-Museums ist nicht eine miniaturierte Massenauflage jenes berühmten Möbels der frühen Design-Moderne, sondern ein ganz eigenständiger Anlaß, sich Gedanken über den Unterschied von Stuhl und Sitzskulptur, von Original und Auflagenobjekt, von Maßstäblichkeit, von Form- und Farbbeziehungen, von Sitzen als Tätigkeit und geistiger Leistung zu machen. Er ist also ein hochleistungsfähiges theoretisches Objekt als Lehrmittel. Und was wollen wir mehr, als daß uns die Kunst etwas lehrt, etwas bedeutet, etwas erfahrbar macht: nämlich uns selbst in unseren Beziehungen zu den Werken der Künstler.