Action Teaching 24-Stunden-Happening

24-Stunden-Happening, Bild: Galerie Parnass, Wuppertal, 5.06.1965. + 1 Bild
24-Stunden-Happening, Bild: Galerie Parnass, Wuppertal, 5.06.1965.

Teilnehmer: Joseph Beuys, Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik, Eckart Rahn, Tomas Schmit, Wolf Vostell

Mit diesem Happening beendete der Architekt Rolf Jährling sein 1949 begonnenes Galerieprogramm. Alle Teilnehmer vollzogen ihre Aktionen gleichzeitig in den Räumen seiner Villa in Wuppertal.

Termin
05.06.1965

Veranstaltungsort
Wuppertal, Deutschland

Veranstalter
Galerie Parnass (Jährling)

Veranstaltungsort
Villa Rolf Jährling, Moltkestraße 67, 42115 Wuppertal

Length
24 min

Der Satz

Aktion im Rahmen des Happenings 24 Stunden

Das Aktions-Objekt „Der Satz“ (Dose) befindet sich jetzt in der Sammlung Baum, Wuppertal. Vgl. auch die Idee einer Maschine, die alle denkbaren Satzbildungen, ja Wortbildungen in 5 Mio. Jahren produzierte in ‚Vom Action-teaching zur Rezeptionsästhetik‘ (in: Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung, Köln 1977, S. 561ff.). Zum ‚Kopfstand‘, den Brock auch auf dieser Aktion als sein damaliges Markenzeichen vorführte, vgl. Der Kopfstand – ein Markenzeichen? (in: ÄV, S. 764).

24 Stunden Spuren des Lebens

1961/62 leitete ich in Frankfurt die Galerie am Polizeipräsidium, Platz der Republik. Die Galerie bestand aus einem Schaufensterkasten am Eingang zum Polizeipräsidium, in dem Objekte ausgestellt wurden, die im Zusammenhang mit der Aufklärung von Verbrechen eine Rolle spielen konnten. Das Laufpublikum sollte den Kriminalisten gegebenenfalls Aufklärung über die Objekte zutragen. Ich weiß nicht, wie erfolgreich die Polizei mit diesem Verfahren gewesen ist. Ich verstand die wechselnden Ausstellungen als meinen Galeriebetrieb, indem ich das Publikum dazu zu überreden versuchte, das ihm hier nahegelegte Verfahren auch auf den eigenen Alltag anzuwenden. Literarisch und künstlerisch waren solche Verfahren zumindest andeutungsweise von Proust oder Schwitters verwendet worden, wenn auch die Resultate solchen Vorgehens durch ihr Aufgehen im Kunstwerk eingeschränkt blieben. Das Offenhalten des Verfahrens konnte nur gelingen, wenn man es aus seinem angestammten Anwendungsbereich herausnahm, also in den Kontext künstlerischer Verfahren einführte, ohne allerdings die Absicht zu haben, Kunstwerke herzustellen. Die Rezipienten sollten nur die im Kunstkontext normale Erwartungshaltung mit Hilfe eines solchen Verfahrens vom Kunstwerk weg auf sich selbst übertragen lernen. Daher meine Deklaration des polizeilichen Schaukastens zur Kunstgalerie.
Einen weiteren Übertragungsversuch unternahm ich in dem 24-Stunden-Ereignis, Galerie Parnass, Wuppertal 1965. Ich sammelte aus dem Haushalt des Galeristen Jährling Alltagsgegenstände als Spuren des Lebens und stellte die Objekte (Hosen, Schuhe, Strümpfe, Kleider, Briefe, Zeitungsausschnitte, Seifen, Eßwaren usw.) aus. Vorausgegangen waren ähnliche Aktionen beim Bloomsday, Galerie Löhr, Frankfurt 1963 und in der Galerie [René] Block, Berlin 1965. Die Objekte wurden analog zu künstlerischen Vorgehensweisen durch Vereinzelung mit erhöhter Aufmerksamkeit und Bedeutung versehen – zur Anleitung des Publikums zeichnete ich einige Gebrauchsspuren an den Objekten durch Kreide aus. Ebenso verfuhr ich mit Texten, die ich zunächst als geschriebene Geschichte zu den Lebensspuren verfaßt hatte, dann aber in vielen Komplexen vereinzelte und in der Vereinzelung dem Publikum anbot. Ich versuchte dann in der 24-Stunden-Aktion, das Publikum zur Verknüpfung der vereinzelten Gegenstände und Texte zu einem neuen Kontext anzuleiten, wobei ich meine Aktion bei der Anleitung in die Rekonstruktion mit einbezog.
Der formale Bedingungsrahmen für die Rekonstruktion in Vereinzelung und Verknüpfung war durch den 24-Stunden-Aktionszeitraum vorgegeben, den ich dadurch strukturierte, daß ‚der Satz‘ in seine Buchstaben vereinzelt als Zifferblatt der ablaufenden Lebenszeit benutzt wurde (siehe den nachfolgenden Abdruck). Wer die gesamten 24 Stunden meine Aktion durchhielt, konnte so die gesamte Buchstabenfolge zu dem Satz zusammenfügen, mit dem ich die Einheit des Lebens über das hinaus, was es als Spuren hinterläßt, zu retten versuchte.
Die Spurensicherung ist später zu einer regelrechten Mode künstlerischer Attitüde geworden, ohne daß der entscheidende Gesichtspunkt aufgenommen, geschweige denn weiterentwickelt worden ist. Denn solches Vorgehen, wie ich es hier demonstrierte, darf sich über das künstlerisch-instrumentelle Aktionsmoment nicht zum Kunstwerk hochstilisieren. Es kann dann zwar marktträchtig werden, verliert aber für den Rezipienten seine Bedeutung als Erkenntnis- und Aneignungsmittel. Einem Nichtkünstler sollten Künstler nicht demonstrieren, daß und wie man Kunstwerke schafft, sondern wie man mit Hilfe künstlerischer Techniken Lebensanstrengungen bewältigen kann.

Der Satz

Thema: 24 Stunden (der alltägliche Thermidor). Realisation: Erscheinen eines Satzes in dem Zeitraum des Jahrhundertsatzes, durch Drehen einer Scheibe hinter ausgeschnittenem Fenster.
1 Buchstabe alle 15 Minuten, der Buchstabenmenge nach.
Da der syntaktische Zusammenhang abstrakt bleibt, wird zum Satzinhalt Vereinzeltes konkretisiert in Geschichten, die ich spiele.
Die Rezipierenden werden gezwungen, wie ich 24 Stunden aufmerksam zu sein, um dem Geschehen entsprechen zu können. Starker Charakter eines Exerzitiums wie damals in Hamburg über dreieinhalb Tage (Linienziehung mit Hundertwasser). Training des Rezeptionsvermögens. Reaktion des Publikums im Ausnahmezustand. Sonnenklarer Bericht an das Publikum über das eigentliche Wesen neuerer Kunst.
Motto: "Nach experimentellen Ergebnissen tötet ein Gramm Kobragift 83 Hunde, 715 Ratten, 330 Kaninchen oder 143 Menschen." Beschriftung am Kasten einer Kobra im Zoo zu Frankfurt/M. Dr. Grzimek.

Der Satz befindet sich pergamentiert in einer beschrifteten Dose im Hause der Familie Baum in Wuppertal. Er wird jeweils an die älteste Tochter vererbt. Der Satz ist stark genug, um sakramentalen Dienst zu tun. Er kann Sterbenden vorgelesen werden.

Beobachtungen in Feindesland

bis 1 Uhr: Bilde mein Image aus: Kopfstand auf dem äußersten Tischende; der erste Buchstabe und der erste Zuspruch. Man meint, ich würde nicht durchhalten. Vostell und Beuys sammeln die Aufmerksamkeit. Jenseits der Säulenlinie, der Grenze, des Strichs, jeweils höchstens zwei, drei Ratlose, die herumtasten.

Setze die Leidensgeschichte von IHM und IHR in den ersten gespielten Satz um:
Fettkreide auf dem Marmorboden. Vereinzeltes Moment: seine Hose (siehe Liste der Vereinzelungen). Dies ist (ist die?) die Hose, die er trug, als er sie zum letzten Male traf ...
bis 2 Uhr: Erst Uecker, dann Frau Hansen, dann Jens Priewe. Mehr brauchts eigentlich nicht. Die fünf aus Köln, mir noch nicht namentlich alle identifizierbar. Ich meine, sie zu kennen. Interesse von Vostell aus weiter auf Beuys in Ausschließlichkeit. Mike v. N. Y. named Don Pastiche. Mercedes linker Hand und rotes Haar im Lederetui. Die Buchstaben wandern. E wandert. Mehrere Vorstöße des prosaischen Publikums, immer bemüht, den Mechanismus der Apparatur als die Sache kennen zu lernen. Sie versuchen von der anderen Seite des Tisches her, die Scheibe zu drehen.

Vereinzelung: der Inhalt seiner Hosentasche. Die Fettkreide vom Boden wird abgetreten durch Besucher. Baums mit Bäumchen und leichtere getroffene Anstalten gegenüber halbschweren Damen, die ich nicht kenne.

bis 3 Uhr: Priewe bringt den Flaschenöffner, Sohm Wasser, Emaille den ersten Kaffee. Sie sah, wie einige Teilnehmer Vostells Rinderinnereien in den Suppentopf schnitten. Die Suppe soll bereits gegen 1/2 3 Uhr ausgelöffelt worden sein. Familie Jährling gelingt die Küchenkontrolle nicht mehr.

Spritzmädchen ziehen mit einem kleinen Stückchen Käse über den Marmor. Als eine ihren spitzen Stöckel hineinbohrt, läßt das Mitmädchen einen Träger herab und lacht ihren Freund an. Sohm diskutiert meinen Postkartenroman, zu dem er die technischen Einzelheiten liefern sollte. Verabschiedet sich wie Hofchronist: mit den Augenlidern umblättern.

Protokoll des Hauptakteurs von 0-12 Uhr

bis 4 Uhr: Priewes Eintragung „Frau Hansen fährt zum Schlafen. Fünf Mann besichtigen den ruhenden Brock. Jens Priewe läßt die Buchstaben sich voranbewegen, wie vorgeschrieben. Fünf Minuten Filmaufnahme.“

Ich lag in meinem Vormann, Vorfahren, Figurensarg, den Beuys am Nachmittag um mich mit grüner Fettkreide gezeichnet hatte, auf dem Jährlingschen Konferenztisch, auf dem mein Satz lief. Bei Verwischung der Konturen habe ich ihn jeweils zur Gestalt wieder nachgezogen. Ein Drittel seines Umrisses war gewiß jeweils zu sehen. Dachte an die Goldfingermädchen und Tänzer, die sterben müssen, wenn nicht ein Drittel der Körperfläche weiteratmen kann. Das Paar von vorhin taucht wieder auf. Ich frage Hennig, ob er gesehen habe, wie er ihre Brüste habe weiden wollen. Hebe mit gebeugtem linken Knie eine Bierflasche im Liegen, Augen zu, vom Bett, um sie den Angetrunkenen gegen die Bäuche zu donnern.

bis 5 Uhr: Jens nach argonautischer Fahrt im zweiten Stockwerk auf meinem Bett angelangt. Zänkische kleine Weiber ihrer angetrunkenen Burschen treiben sich umher. Bestehe mit Ruhe. Erniedrige mich selbst. Sehe zum ersten Male zu, wie diverse tun, was sie meiner Ansicht nach nicht tun sollten. Kümmere mich nicht. Lasse die Tunten auf meiner Wäsche herumtrampeln, ohne einzuschreiten (erinnere mich daran, daß ich normalerweise in Straßenbahnen und dergl. um mich zu treten pflege). Als sie meine Utensilien zerschlagen, den Kleiderstand umreißen und zerbrechen, gebe ich einen Hinweis. Die Antwort ist schlagend und trifft uns alle: „Ich denke, hier ist happening, da kann man machen, was man will.“

bis 6 Uhr: Der Satz läuft. Wir sind im Kriege: die Horde trampelt auf meinen Kleidungsstücken herum, Schmutzspuren nach Form der Sohlenprofile deutlich ablesbar. Ich sehe hin. Man schändet meinen habitus. Ich sehe hin. Vereinzelung: IHR Kleid und warum der Reißverschluß zur Hälfte geöffnet ist. War sie so abgemagert, daß sie so das Kleid ausziehen konnte? Wer könnte hinterher den Reißverschluß wieder halb zugezogen haben? Fettsätze auf dem Marmor. Grün und Blau.

bis 7 Uhr: Jens erscheint ausgeruht. Bettbedeckungen fehlen und anderes, sagt er.
Ich muß zum ersten Mal den weißen Saal verlassen. Aus meinem Koffer fehlen alle Handschriften. Die Gäste verlieren. Kondition läßt bei ihnen nach. Sie liegen in den Zimmerecken und schlafen schamlos. Verweise einige auf Jesus im Garten. Sie wollen nicht wachen. Der Rest gruppiert sich um mich. Tischgespräche unter Anleitung eines Leichtgläubigen, Malergeselle aus Wuppertal, und spricht durch die Nase sehr stark. „Als ich merke, dat wird nich so, hör ich uff. Weste, ich wollte auch mal Künstler werden. Da habe ich mir wat Solides jesucht.“ Er ist die Inkarnation der Volksfront jeder Schattierung und wie deren Teilnehmer gutmütig, lernbegierig. Will mir englische Seidentapeten nicht aufziehen, weil sie so altmodisch seien.

bis 8 Uhr: Gespräch wie oben, es bleiben aber nur noch 4 Zuhörer. Vereinzelung ist das Paar Frauenschuhe, mit der merkwürdig abgelaufenen Sohle und den deutlichen Einstichstellen von Reißnägeln. Fettsatz im dritten Marmorquadrat.

bis 9 Uhr: Frühstück wie stets, ausführlich mit Haro, der die Marmeladenstulle ißt.
Paik sei auf dem Klavier eingeschlafen, Charlotte entführt worden. Ich nehme eine halbe Effortil. Jens geht Zigaretten holen. Vostell und Beuys schlafen (wie versteht sich das mit der gestellten Aufgabe 24 Stunden bei Vostell, der nicht in seinem Raum ist?).

bis 10 Uhr: Botschaft an Beuys: GOLDFLECKEN IM BETT. Per Boten in Satin, Schnabelschuhen und griechischem Profil. Abendgäste sind wieder da. Baum wieder tätig und tapfer. Bäumchen blieb als einzige Besucherin tatsächlich 24 Stunden, hörte ich. Stimmt’s? Der Tag wird getragen von jener Botschaft. Ich sah Beuys.

Ich merkte es war richtig: Goldflecken im Bett. Frau Baum wird sogleich FILM erstehen, um mich zu lesen in Kühnheit. Heitere Tischrunde. Frau Jährling würdigt mich gebührlich in meiner literarischen Existenz. Stringenz durch Aufrichtigkeit. Der Satz wandert. Keine Vereinzelung.

bis 11 Uhr: Der Geselle „epiwöhn ist er, dat sacht er, der is so.“ Die Kölnaachener und meine Inthronisation. Der Weise unterm Mandelbrotbaum, um ihn die Gemeinde. „Gib uns Auskunft, was sollen wir tun.“ Ein feierliches Gespräch, sehr würdig. Der Weg zum rationalen Begriff des Schöpferischen. Die zugestandene psychosoziale Karenzzeit und wieweit sie jetzt als die erkennbar würden, die sie sein könnten. Man bedenkt meinen Satz. Der Satz in Bewegung. Ein Abstraktum der Syntax nach, die nicht wahrnehmbar wird. Ich konkretisiere IHRE Halskette aus Fruchtkernen.

Wiederum. Der Fettsatz ist unleserlich geworden. Ich steige auf den Tisch, um mich in die Zeit zurückzuversetzen, in der ich zu Ffm vom Balkon herab zum Volke sprach. In Köln soll derartiges institutionalisiert sein als ‚WIE-VEREIN‘. Gegenüber dem kindlichen „Warum“ ist das ein Fortschritt, wenn auch nur der, den ein 15jähriger gegenüber seinem Vorschulstadium gemacht hat.

bis 12 Uhr; Vostell erscheint wieder. Symposion in der Rückenlage auf meinem Tisch. Der Tote wird begradigt, wobei er Kontur verliert. Wenn Vostell sich auf ihn legt, verschwindet er gänzlich. Und Gäste. Die Auferstandenen. Unschlüssigkeiten hinsichtlich des Mittagessens. Sie wollen nicht bis in die Stadt gehen, aber auch nicht ohne durchhalten. Die Parolen werden lästig.

bis 13 Uhr: Sieben Mann in der Villa. Wir sind vereinzelt wie in Messebänken. Lesung aus dem I Ging. Der Satz auf 47 Buchstaben fortgelaufen. Haro entzifferte ‚Versöhnung‘. Er macht Andeutungen, als kenne er den Satz. Evgen bringt Butterbrot. Vostells verreisen zum Mittagessen. Wenzel läßt Stahlkugel über den Marmor spritzen. Aufhebung der Satzinhalte auf seinem Hosenboden. Verliert sein Taschentuch auf IHREM Kleid vor dem Tisch. Wenzel liefert so sichtbar als einziger sich meiner erzählten Geschichte aus. Weswegen ich ihn allen vorziehe.

bis 14 Uhr: W. Mohrs Appell an die Meisterlichen. Ausgang: „ich war im Kriege ...“ Schwer ihnen beizubringen, daß sie sich nicht auf Begabungen verlassen können; daß darin ihr Vorteil liegt gegenüber den Berufungskünstlern, sich alles erarbeiten zu müssen. Gilt für alle Beteiligten – Beuys ist das einzige Genie. Nehme Effortil und Kaffee. Kreislaufschwierigkeiten. Andererseits die Vorteile der Übermüdung:
Leichtigkeit und Hellsicht.

bis 15 Uhr: Wird da ein Satz sein. Die Vereinzelung als Theorem. Auskünfte an Besucher aus besseren Kreisen. Mehrere erinnerte Gesichter. Kommen als Kommissare und überprüfen mit gespielter Kennerschaft die Akteure. Treiben zum Engagement an. Noch 8 Stunden. „Sie haben noch 8 Stunden zu leben.“ Ereignischarakter nimmt zu. Erlebnisfähigkeit ab. Aufmerksamkeit der im weißen Zimmer um den Satz Versammelten bleibt erhalten. Deutlich das Moment des Exerzitiums. Fast alle anwesenden Literaten um meinen Tisch, wohin sie sich wieder sammeln, wenn sie zuweilen rundgingen. Wiederholung und Zyklus als literarische Kategorien. Weshalb ich wohl als einziger tatsächlich ein 24 Stunden Ereignis liefere, während die anderen eine Addition ihrer Einzelszenen geben. Bei Vostell in immer kleiner werdenden Schritten, weil durch die fortschreitende Aktion sein Material abnimmt. Deshalb werden Einzelphasen bei ihm stärker. Ich sehe ihn im Glas sitzen und über eine halbe Stunde hin den Arm an der Scheibe aufstrecken, um Zeichen zu geben, sich zu verständigen. Jede Aufwärtsbewegung vom anlaufenden Motor erstickt. Sein stärkstes Bild. Die anderen kann ich nicht beobachten. Von Beuys nur Bandaufnahmen andeutungsweise wahrnehmbar. Sehe aus schiefem Winkel den Aachenfilm, den roten Faden aus Beuys Nasenblut. Dann Morris mit der Tischplatte, einer ähnlichen, wie ich sie hier vor mir habe. Nach den Turnübungen scheint er belohnt zu werden: sein Dingsda liegt ausgezogen und parat auf dem Diwan im Hintergrund.

bis 16 Uhr: noch 7 Stunden. Der Satz läuft um 4 Buchstaben weiter. Frau Hansen reicht mir einen Zettel mit vielen richtigen, vielen fehlenden Resultaten des Satzumlaufs. Ich kann und werde mich dazu nicht äußern. Meysenbug erscheint unter Vorwürfen, ich hätte ihn falsch informiert. Es macht mir Unbehagen, ihn ständig fälschlich lamentieren zu sehen. Bin grob. Schmelas Heimzirkus mit den Stars vom Trapez läuft ein: Restany, Mathieu, Wilhelm, Anhang. Beginne den hermetischen Verschluß meiner verhandelten Sache zu spüren. Und fühle mich sehr wohl dabei. Zu mir dringt von denen keiner vor, ohne sich doch sehr bemühen zu müssen. Das aber werden sie nicht. Beobachte erhöhte Mühewaltung bei den anderen Teilnehmern, als wollten sie für die erlauchte Gesellschaft ihr Bestes geben.

bis 17 Uhr: Mathieu hat sich den Mantel befleckt. Die Säkularisation verflucht er. Hält sich in der Nähe Ludwig XIV. auf. Doch keine Sonne um ihn. Habe selber mehr Attitude und Glanz, obwohl er doch schon 20 Jahre länger übt. Als Beispiel, wohin es auch mit uns treiben kann, lasse ich mir ihn doch gefallen.

Vostell und ich auf der Kampfstatt ausgestreckt in Bauch-, Seiten- und Rückenlage. Die Teilnehmer nicht mehr überschaubar. Einnahmen gegen 1000 Mark. Sie kommen tatsächlich wieder. Verhandeln das ‚happening‘, wo wir es nicht mehr verhandelt sehen wollen.

bis 18 Uhr: J. P. W. hält eine Rede. Wieso? Eine Gästin holt Vostell und mich vom Tisch. Man spreche über uns in seltsamen Worten. Es sind die von Wilhelm. Sehr seltsam. Er zeiht Mathieu der Vergreisung, der Greis. Stammelt Entsetzliches der Art „X ist der schlechteste Komponist der Welt, der nur noch von den Machenschaften eines Y übertroffen wird.“ Allgemeine Absolution für einen Gewesenen. Charlotte und Paik in der Vorhalle als Gala. Sie kommt heulend zu mir: „its because of that terrible tape. I liked to be bombed and all the people I love killed.“ Oder war es genau umgekehrt. Dreht auf dem Absatz um, spielt mühelos weiter. Lala, eine Künstlerin.

bis 19 Uhr; Noch 5 Stunden zu leben. Der Satz arbeitet. Vereinzelung vorgeführt: die blaue Windjacke und ihre Schabspuren. Frau Baum über Söhne und wie sie meiner Meinung nach ohne Väter aufwachsen müßten. Belebte Landschaft sehr sporadisch. Bei Vostell 5 Leute, bei Beuys alle, bei mir keine. Ruhe bitte. Ich bin allein, der einsame Mann im Ring. Spiele Kameraeinstellung durch mit Fords berühmter Zwischenbeinkippfahrt. Frau Baum erhielt am 5. in Wup. die letzte Nummer von FILM noch nicht. Las aber die vorletzte und stimmt zu: die Lust um der Lust willen. Goldflecken im Bett wird wiederholt und walk along the line to the Aachenfettkiste. Gespielt: die Schwingungsweite des Krückstocks meines Großvaters. Drei Leute messen aus und wandern mit meinem Großvater über die Felder. Ich mache den jungen Herren. Leibeigene verprügelt. Man riecht Vostells Fleisch bereits.

bis 20 Uhr: Noch vier Stunden zu leben mit Luthers Bäumchen, welches sich schlecht im Zimmer pflanzen läßt: ob deshalb die Zimmerlinden und Gummibäume im ‚Heim‘ so bevorzugt werden? „Ein wenig Grün im Haus erspart die Natur.“

Vereinzelung: Handtaschenutensilien. Man trampelt weiterhin auf meinen Wäschestücken herum. Vor allem auf meinem Doppelknopfhemd mit hohem Kragen und angeschnittenen Ecken, Mein Lieblingshemd. Nehme die Lektion an gegen die Verfallenheit an das Material. Wie ich stolz bleibe.

Silence Fiction: Der Autor bei der Übung, Text und Bild in seinem Kopf voneinander zu trennen, also zum Beispiel anhand der ausgestellten Stoffobjekte (Hose mit Falte) das Begriffsbild ‚Bügelfalte‘ vom Vorstellungsbild des Sachverhalts Bügelfalte zu trennen. Wenn der Rezipient dies nachvollzieht, vermag er dadurch ebenfalls die scheinbar selbstverständliche Einheit von Begriffsbild und Vorstellungsbild aufzulösen und dadurch in anderer Weise, als es der Alltagsgebrauch nahelegt, das ausgestellte Stoffobjekt Hose in die angestrebte Verknüpfung der vereinzelten Texte und Objekte zu einem Aussagenzusammenhang (in eine ‚Geschichte‘) einzubringen. Künstlern gelingt das zum Beispiel in Zeichnungen eines solchen Objekts, indem sie die zunächst eine Bügelfalte markierende Linie in eine überlagernde graphische Figuration einbeziehen. Sonderfall dieses Vorgehens ist der Wechsel von Figur und Grund, so daß man in einem Augenblick eine Zeichnung als Porträt einer alten Frau, in einem nächsten aber als Landschaft wahrzunehmen glaubt. Zu üben wäre also die Fähigkeit, den Umkippmoment selber ‚als Bild‘ zu sehen, das heißt, beide Zustände als einen realiter vor Augen zu haben.

bis 21 Uhr: Einzelheiten der Beteiligten verschwimmen. Wahrlich Untergangstimmung: warten auf Befreiung. Durch Fortschreiten der Zeit. Wenn die Schotten dicht gemacht werden, das Schiff durch drei geteilt und sich die einzelnen Besatzungsmitglieder nicht mehr auf das Schiff berufen können, sie wissen, daß sie selbst vergessen waren und gestraft werden. Alle Besucher auf dem Tisch versuchen, mit dem Zeigefinger der rechten Hand die Ecken des Sargmenschen abzurunden, mit dem Mittelfinger seine Konturen ganz zu verwischen. Trancezustand. Kämpfen offensichtlich gegen das Sichtbarmachen. Zwingen uns zurückzunehmen, was wir ausbreiten wollten.

bis 22 Uhr: Filmaufnahme. Satz schreitet, Endbeschleunigung nimmt zu. Rotierend alles, um endlich losgelassen zu werden. Befreiung aus dem Zeitablauf deutlich. Nervosität des Publikums auf das Ende hin. Erwartungsintention gestört durch ausbleibende Erfüllung. Ein Filmgag. Projizieren schon die Unmittelbarkeit auf den Ausgang des Ganzen in Zeitungsberichten, Bildwiedergaben. Am besten hätte man dem Publikum die Teilnahme nur am Monitor gestattet oder mit Polaroidkamera nur das sofort entwickelte, mit dem Sachverhalt geänderte Bild überlassen.

bis 23 Uhr: Erlösung durch Abbrechen der Vorgänge um 23 Uhr. Als ob bei einem Rennen der Zieldurchlauf ausbleibt und die Pferde vor dem Ziel nach einem dramatischen Finish stehen bleiben. Die Jockeis schütteln sich die Hand. Unglauben beim Publikum. Aber keine Proteste. Es scheint ihnen nicht das Thema mehr gegenwärtig. Die Rezeption kann offensichtlich nicht auf diese Distanz gestreckt werden. Jemand Fremder vermerkt auf der Zeittafel: „Ein falsches Mißverständnis der Teilnehmer und falscher Widerstand lassen sich nicht mehr gutmachen.“ Ob der Satz wahrer wird, wenn er richtig formuliert würde? Den Widerstand bildete ich willentlich aus. Dem Satz folgen noch 5 Buchstaben. Fettsätze auf dem Marmor völlig verschwunden. Vereinzelung: IHR Höschen mit seitlichem Riß. Läßt das auf Gewaltanwendung schließen?
bis 24 Uhr: das Ende von etwas. Während Paik Rauschgift und Elektronik diskutiert und wir Schafsnasen ziehen, zeigen sich die letzten Einheiten des Sinngefüges. Mein Mißverständnis seines Satzes nimmt er als neuen Gedanken auf. Die Schlacht war vorbei. Die aufwendige Benutzung kriegstechnischer Termini macht stutzig. Sollten wir am Ende uns übersehen haben?

Liste der vereinzelten Gegenstände

Analysieren Sie die Ereignisse selbst.

Aufmerksamkeitszentren im Kreidekreis.
Blaue Frauenwindjacke mit Kapuze, Reißverschluß, Schabspuren, zugeknöpfte Taschen
1 roter Damennetzhandschuh mit halblangem Arm
1 Halskette aus Kernen auf weißem Nylonband
3 Puderdosenläppchen nicht identisch mit dem Inhalt einer Puderdose mit Spiegel und Reißverschluß außen herum
1 blaue Lockenrolle
1 Paar Damenhalbschuhe Wildleder Größe 37 mit deutlichen Einstichen von sieben Reißzwecken in der Sohle
1 Nagelfeile sichtbar abgerissen in der unteren Hälfte
1 Damenhöschen Schwarz mit Spitzenumlauf. Angerissen am Zwickel
1 Damennylonstrumpf mit einem Haltestraps. Farbe der Sohle wie die des Inneren der Schuhe
1 Herrenhose braun mit umgelegten Beinenden, in denen Dünensand und Grassamenreste. Kniffe am rechten Oberbein, Unterbein und linken Unterbein. In der rechten Hosentasche ein sirupverklebtes Tempotaschentuchpaket mit drei Tempotaschentüchern.
1 Scheibe Stangenweißbrot
1 silbernes Vorsatzpapier einer Zigarettenschachtel ohne Aufdruck, also deutschen Ursprungs
1 Schachtel Octadon (schmerzlinderndes Mittel)
1 Frugelettenwürfel in Silberpapier. Hersteller Natura Werke Hannover (Abführmittel)
1 Schachtel Arthama Nährkraft (Nahrungsmittelprobe)

Zeitpunkte zum Werden von Etwas

Als Wenzel Beuys‘ Wassermassen zu beiden Seiten seines Stuhles niedergehen sieht.
Als wir Beuys‘ Sprache durch Raumbegriffe beschrieben: „Wenn ich nach München komme, bestelle ich Lungen-h ... immer zuerst.“
Als er den Hebel ansetzt „Langziehung anstelle von Erziehung“. Als Wenzel Evgen sagte.
Als nach drei Nächten Morgen wurde und die Straßenbahnen nicht zu hören waren. Als Wenzel sagte „Das ist wie ...“
Als Frau Jährling und Evgen Vostells Fleisch vom Boden kratzten. Als Beuys aus dem Kriege zurückkam.
Als Jährling nach Afrika umziehen wollte.
Als Beuys Vollasiate wurde, während wir die Zeitläufte aushoben, Baums Kaffee reichten, Paik uns für die Armen einzunehmen versuchte.
Als ich sagte: „Europas Sieg ist total.“
Als Vostell sagte: „Den Widerspruch liefern wir gleich noch mit.“
Als Paik sagte: „Wir brauchen eine japanische Raffinerie.“
Als Beuys sagte: „Freud ist Mediziner und sonst nichts.“
Als es nach drei Nächten Morgen wurde vor Wenzel.
Als ein Stück Zucker schräg zu Boden fiel.
Als wir uns gegen uns selbst entschieden.
Als ich merkte, daß dies für mich das entscheidende happening geworden sei.
Als der Autoschlüssel im geschlossenen Kofferraum lag.
Als das Frühstück eingenommen wurde.
Als das Buch gemacht werden sollte.
Als die Photos kamen.
Als Jährling auf dem Feldbett lag und ihm die Asche auf die Brust fiel.
Als Charlotte meine Anschrift wollte und ein Theaterstück bekam, das ihr gefiel.
Als ich ging.

Die vereinzelten Texte

„Mensch, wie kommst Du denn hierher? Das ist aber eine Überraschung!“ Der Generaldirektor der Drigwerke schwieg.

Conny wünschte frohe Festtage.

Geständnis des großen Schüchternen: „Wundervolle Freundin Doris Day/lch werde rot wie eine Tomate/Mein Traumwagen – ein Lastwagen.“

Mit kreidebleichem Gesicht sprang Lex Taxtor auf und packte Julia bei den Armen.
„Bestie!“ zischte er. – „Denk von mir, was du willst“, erwiderte Julia. Sie hatte Angst, Aufsehen zu erregen.

Sie hatte das Bedürfnis nach frischer Luft, den dringenden Wunsch, mit ihren Gedanken allein zu sein.

Miffin übergab dem Mädchen eine kleine Statue. Sie nahm sie mit einem breiten Lächeln in Empfang. Miffin küßte sie auf ihre blühenden Wangen.

„Sie möchten wohl gern ein bißchen Katz und Maus spielen?“ fragte Martin sie leise und nah bei ihrem rechten Ohr.

Milly ist glücklich, sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Vom Kaminfeuer zu den Fotografien ihrer Kinder. Vielleicht gibt es für eine Frau nur diese Art von Glück. „Armer Rieck“, sagte sie.

„Als geheilt entlassen?“ fragte Pflüger belustigt. „Im Gegenteil“, sagte sie, „vor der Poration entlaufen.“ Und lächelte ihn breit an.

Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie leicht an sich. Sie ließ es geschehen. „Da seid ihr ja endlich!“ Mit großem Hallo wurden Angela und Sophie bei ihrer Ankunft begrüßt.

„Wir müssen bis zum Hotel vordringen“, beschwor Sybille den jungen Arzt. Vergeblich versuchte er, sie zurückzuhalten.

Martin führte den Verletzten an den Straßenrand. Der Mann trug die leicht beschmutzte Uniform eines SS-Führers.

Lois hatte ihre schönen Augen kalt auf Moana gerichtet – eine peinliche Situation. Nach einem Leben ohne Verfehlung gerät eine Beamtin plötzlich auf rätselhafte Abwege. Was trieb sie ins Verderben?

Ein kleiner Junge ist verschwunden. Die Polizei nimmt die Spur auf und entdeckt unheimliche Zusammenhänge. Alter: Fünf Jahre. Haarfarbe: Blond! Augen: Blaue Augen! Besondere Kennzeichen: Keine ... „Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?“ fragte der sympathische Inspektor.

„Ich habe Sie überall gesucht“, sagte Barbara, „ich muß mit Ihnen sprechen.“

Hanni starrte sie feindselig an.

Mit einem Klaps für die Maskenbildnerin begann Miffins Debut vor der Fernsehkamera.

Regisseur Rick Wilton fand den Alten prima ...

Wütend fuhr Barbara herum. „Ich glaube Dir die ganze Geschichte nicht“, fauchte sie Martin an.

„Los, Leute, macht hin, sind wir jetzt bald fertig?“ Gaby hatte es eilig. Besuch im Zirkus Stappmann. Gaby ist ein Mädchen, dem man mehr Erfahrung zutraut, als es hat. Die Männer täuschen sich in ihr. Und doch wird ihr ein Mann zum Verhängnis.

Hanne
Schuldgefühle plagen sie, seit sie ihren vierjährigen Sohn verlor. Sie glaubt nicht mehr, daß ihr etwas anderes beschieden sein könnte als der graue Alltag.

Ossy
Ihre Kolleginnen halten sie für hemmungslos. Als es aber darauf ankommt, für einen anderen Menschen alles zu riskieren, wächst sie über sich hinaus. „Ja, wenn Sie uns schnell wieder aus der Sonne gehen, Fräulein Fiedler?“ antwortet Ossy.

Kopfstand, Aktion „24 Stunden-Happening“, Bild: Villa Jährling/Galerie Parnass, Wuppertal 05.06.1965. Foto © Ute Klophaus.
Kopfstand, Aktion „24 Stunden-Happening“, Bild: Villa Jährling/Galerie Parnass, Wuppertal 05.06.1965. Foto © Ute Klophaus.
Protokoll des Hauptakteurs von 0-12 Uhr, Bild: Aktion "Der Satz", Galerie Parnass, Wuppertal 1965 © Ute Klophaus.
Protokoll des Hauptakteurs von 0-12 Uhr, Bild: Aktion "Der Satz", Galerie Parnass, Wuppertal 1965 © Ute Klophaus.
Dose „Der Satz“, theoretisches Objekt, 1965, Bild: Aufschrift: DER SATZ gesetzt von Hand während des 24 Stunden Ereignisses, Galerie Parnass 5.6.65, Bazon Brock.
Dose „Der Satz“, theoretisches Objekt, 1965, Bild: Aufschrift: DER SATZ gesetzt von Hand während des 24 Stunden Ereignisses, Galerie Parnass 5.6.65, Bazon Brock.

siehe auch: