Tafelrunde Symposium: Formbildung und Formstörung

Formwerdung III (15. & 16.11.2013)

Jacques Sehy: Schattenköpfe. Lichtzeichnungen, Bild: Fotografien, 2013.. + 1 Bild
Jacques Sehy: Schattenköpfe. Lichtzeichnungen, Bild: Fotografien, 2013..

Ort:

Denkerei
Oranienplatz 2
10999 Berlin
Telefon (030) 61671001
www.denkerei-berlin.de

Wie entsteht Form, wie ist die Qualität einer Form zu beurteilen? Diese grundlegenden Fragen gestalterischen Tuns sollen in diesem zweitägigen Symposium anhand von Beispielen erläutert werden, die den Bogen von der Formbildung von Molekülen in unserem Körper bis hin zu Formen gesellschaftlichen Miteinanders schlagen. Dabei werden wir auf allen Größenebenen verwandten Prinzipien begegnen, wie z. B. der Problematik der Grenzen des Wachstums und dem Kriterium der funktionsgebundenen Qualität.

Programm

Freitag 15.11.

17.30 Bazon Brock: Einführung in das Thema
17.45 Thomas Görnitz: Formwerdung – Gelingen und Entgleisung – ein paar grundsätzliche Überlegungen
18.30 Roland Brock: Die gelungene Form ist das, was übrig bleibt/die gestörte Form ist fatal – Prinzipien molekularer Formgebung
19.15 Pause
19.30 Peter Friedl Krebs: Formdefekt im Dialog mit dem Gesunden
20.15 Hans Meinhardt: Aus Fehlern lernen: Abweichungen und Mißbildungen als Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung höherer Organismen.

Samstag 16.11.

15.00 Gerhard Scholtz: Verdreht, verdoppelt, am falschen Platz – Fehlbildungen bei Krebstieren und ihre Bedeutung für die Evolutionsbiologie
15.45 Pause
16.00 Reto Schölly: Die bedeutendste Formgebung der Kulturrevolution ist die Programmierung der Nanotechnologie
17.30 Lothar Brock: Formgebung: Gelingen und Entgleisung: Sozialwissenschaftliche Perspektiven
18.15 Pause
18.30 Martina Schettina: Theoriedesign der Einstein-Formel – eine künstlerische Performance zu E=mc2
19.30 Bazon Brock: Schlussworte

Thomas Görnitz: "Formwerdung – Gelingen und Entgleisung – ein paar grundsätzliche Überlegungen"

Gelingen wird verstanden als ein Verhalten entsprechend den Erwartungen, also gemäß Regeln und Gesetzen. Die Entgleisungen sind dann Abweichungen von dem, was erwartet worden ist.
Wie kommen wir zu Regeln oder gar zu Gesetzen? – Wir finden sie durch das Ignorieren von Unterschieden! Wann können wir sicher sein, nichts Wichtiges ignoriert zu haben – und wie verhält es sich damit, wenn sich die Situationen ändern?
Die klassische Naturwissenschaft hatte die mathematische Form einer deterministischen Entwicklung des faktischen Geschehens. Seit 100 Jahren wissen wir durch die Quantentheorie, dass dies eine sehr grobschlächtige Beschreibung der Wirklichkeit ist.
Auch deterministische Systeme gelangen immer wieder in Situationen, in denen winzige Einwirkungen gewaltige Auswirkungen haben können. Es müssen keine Entgleisungen sein, aber es sind Weichen, die nicht determiniert gestellt werden können, da in solchen Situationen vollkommen unabhängig von der Größe des Systems die Unbestimmtheit der Quantentheorie wirksam wird.
Gelegentlich treten auch Entgleisungen auf, die man als das Umladen eines Gutes von der Schiene auf ein beweglicheres Gefährt verstehen könnte. Sie werden auch als wissenschaftliche Revolutionen, als Paradigmenwechsel bezeichnet und haben dann nach einiger Zeit auch Wirkungen in Gebieten, die mit der Schiene nicht erreichbar sind.
Wenn beispielsweise in den Sozialwissenschaften reale Beziehungsstrukturen gleichsam abgewertet werden, weil sie „keine Materialität“ haben, so wird deutlich, wie hilfreich ein Heraustreten aus alten Gleisen auch in anderen Wissenschaftsbereichen sein kann.
Die Quantentheorie als eine „Physik der Beziehungen“ macht deutlich, dass Beziehungsstrukturen mindestens so real sein können wie das, was gemeinhin als „Materie“ bezeichnet wird. Sie hat uns die mathematische Struktur dafür gegeben, Neues erfassen und erklären zu können.

Roland Brock: "Die gelungene Form ist das, was übrig bleibt/die gestörte Form ist fatal – Prinzipien molekularer Formgebung"

Eiweiße sind in unserem Körper für die Ausbildung molekularer Strukturen und als Katalysatoren für chemische Reaktionen verantwortlich. Vorrausetzung dafür ist, dass sich aus der unüberschaubaren Vielzahl von räumlichen Freiheitsgraden, in die sich eine Kette von Aminosäuren in die Struktur eines Proteins falten kann, genau die Struktur ergibt, die diese Funktion ermöglicht. In diesem Faltungsprozess erprobt die Eiweißstruktur unterschiedliche Möglichkeiten der Formwerdung, wobei diese Erprobung entlang eines Weges erfolgt, dessen Qualität anhand von Energie beurteilt wird.
Aufgrund von Unschärfen dieses intrinsischen Qualitätsmechanismus bei der Beurteilung der Form verläuft diese “Proteinfaltung” nicht fehlerfrei und es existieren Kontrollsysteme, die misgefaltete Proteine erkennen und abbauen oder bei der korrekten Faltung behilflich sind. Situationen, in denen sich fehlgefaltete Proteine anreichern, stellen eine Bedrohung für das Überleben der Zelle und schließlich des Organismus dar. Interessanterweise verfügen fehlgefaltete Proteine aber in den meisten Fällen über allgemein gültige Formmerkmale der “gestörten” Form, die von der Maschinerie für Qualitätskontrolle und Abbau mit großer Sicherheit erkannt werden können.
Pathologisch höchst relevante Beispiel für fehlgeleitete sind neurodegenerative Erkrankungen, wie z. B. der Rinderwahnsinn und Kreuzfeld-Jakob. Grundlage dieser Erkrankungen sind Eiweiße, die in zwei stabil gefalteten Formen vorliegen können, wobei die eine Form funktionell ist, die andere Form aber zu krankheitsrelevanten Eiweißfasern führt. Hier versagen die Mechanismen zur Erkennung der gestörten Form.
Die Bildung von Eiweißfasern ist ein Beispiel für die selbstorganisierte Bildung supramolekularer Strukturen. Die Bedeutung in der Entstehung von Krankheiten zeigt, dass selbstorganisierte, supramolekulare Strukturen in Hinblick auf die Kontrolle des Wachstums große Herausforderungen aufwerfen. Zwei wesentliche Prinzipien können wir daher bei der Bildung “gelungener” supramolekularer Formen unterscheiden: Entweder bildet sich die Form so, dass ihr Wachstum inhärent größenlimitiert ist – ein Beispiel sind die Hüllen von Viren, bei denen das Wachstum mit dem Schluss der Hülle beendet ist. Oder, es existiert eine molekulare Maschinerie, die das Wachstum der Strukturen kontrolliert. Ein Beispiel hierfür ist das molekulare Zellskelett, dass den Zellen Form gibt und sowohl den Zellen als auch dem Körper Bewegung ermöglicht.

Peter Friedl: "Krebs: Formdefekt im Dialog mit dem Gesunden"

Zellen, als kleinste lebende Einheit des Körpers, bilden und erhalten die geordnete Gestalt und Funktion von Geweben und Organen. Wichtige Zellfunktionen wie Verankerung im Gewebe, koordinierter Stoffwechsel und kontrolliertes Wachstum sind essentiell für die Bildung, Erhaltung und Erneuerung von Geweben. Im Falle einer Tumorerkrankung verlieren Zellen wesentliche Funktionskontrollen, entwickeln ungehemmtes Wachstum und durchlaufen Phasen fehlgesteuerter Zellbewegung. Folglich legen Tumorzellen ihre ursprüngliche Gestalt ab, verdrängen, durchdringen und zerstören Gewebe und bilden schließlich bösartige Metastasen in anderen Organen. Obwohl Tumore große und letztlich fatale Autonomie entwickeln, behalten Tumorzellen stets engen, aber „pathologischen“ Kontakt mit dem normalem Gewebe und seinen Bindegewebszellen, das sie letztlich zu zerstören drohen.
Mittels dreidimensionaler Zeitraffer-Mikroskopie erzielen wir dynamische Einblicke in gesunde Gewebe und deren Störung durch die Tumorerkrankung. Wir erfahren wie Tumorinvasion und –metastasierung den Körper schädigen und wie moderne (Immun-)Therapie den Tumor kontrollieren und zum Einschmelzen bringen kann. Die Präsentation wird einzigartige Einsichten in die Biologie von Gewebeformen und –funktionen geben, in deren Veränderung während der Tumorerkrankung und in die Kraft des Immunsystems, die den Tumor eliminiert und die Ordnung wiederherstellt.

Hans Meinhard: "Aus Fehlern lernen: Abweichungen und Mißbildungen als Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung höherer Organismen."

Die Entwicklung eines höheren Organismus von der befruchteten Eizelle zum fertigen Lebewesen erfordert eine lange Kette von biochemischen Reaktionen, wobei jeder Schritt die Voraussetzung für den nächsten Schritt schafft. Gemessen an der Komplexität dieses Prozesses erfolgt die Entwicklung mit erstaunlicher Zuverlässigkeit. Die auftretenden Fehlbildungen sind in der Regel sehr charakteristisch und zeigen Schwachstellen in der Strukturbildung auf. William Bateson veröffentlichte 1884 ein Buch ‚Materials for the study of variation’ in dem er eine systematische Zusammenstellung solcher Abweichungen von der Normalentwicklung gegeben hat. Solche Abweichungen können eine genetische Ursache haben, können aber auch durch Umwelteinflüsse wie Chemikalien oder Parasiten bedingt sein. Für Bateson, der den Begriff „Genetik“ geprägt hat, war auch klar, daß diese Abweichungen ein Schlüssel sind um die Evolution verschiedener Arten zu verstehen. Aus solchen Beobachtungen kann man jedoch nicht direkt erschließen, worum gerade bestimmte Abweichungen oder Fehlbildungen häufig auftreten, andere aber nicht und wie der zugrundeliegende Prozeß insgesamt strukturiert ist. In meinem Vortrag werde ich an Hand einiger Beispiele zeigen, daß man mit Hilfe mathematisch formulierter Modelle den komplizierten Prozeß der Entwicklung sehr viel besser verstehen kann und daß damit auch Abweichungen und Fehlbildungen verständlich werden. Die Natur hatte für die Embryonalentwicklung eine Reihe logistischer Probleme zu lösen, die oft widersprüchlich waren. Zum Beispiel sollen fehlende Strukturen regenerieren können, aber die gleichen Strukturen dürfen nicht spontan und zusätzlich gebildet werden. Für solche Situationen hat die Natur verschiedene Lösungen gefunden, die notwendiger Weise verschiedene Vor- und Nachteile haben. Es soll auch gezeigt werden, daß bei der Entwicklung von Organismen Systemeigenschaften zu Tage treten, die auch in anderen komplexen Systemen wie im menschlichen Miteinander beobachtet werden.

Gerhard Scholtz: "Verdreht, verdoppelt, am falschen Platz – Fehlbildungen bei Krebstieren und ihre Bedeutung für die Evolutionsbiologie"

Spontan auftretende Fehlbildungen bei Organismen faszinieren die Menschen seit jeher. Dies fand seinen Niederschlag in Naturalienkabinetten und Wunderkammern, in Publikationen und heutzutage im Internet. Neben der von einer Mischung aus Erstaunen und Schaudern geprägten Betrachtung, bieten Fehlbildungen auch die Chance, Mechanismen der Formentstehung und möglicherweise auch der Evolution von Form zu verstehen. Im Jahre 1894 verfasste William Bateson ein umfassendes Kompendium der bei Tieren vorkommenden Fehlbildungen mit dem Versuch einer Klassifizierung. Er folgerte, dass die von ihm aufgeführten Beispiele gegen die von Darwin angenommene schrittweise evolutive Formänderung sprechen und postulierte eine eher sprunghafte Evolution durch interne Mechanismen. Im Vortrag werden verschiedene Muster von spontan auftretenden und experimentell erzeugten Fehlbildungen bei Krebstieren exemplarisch dargestellt. Dabei lassen sich die meisten der in der Natur vorgefundenen Fehlbildungen weniger auf Mutationen zurückführen als auf Störungen in der Entwicklung oder bei der Regeneration. Der Wert derartiger Fehlbildungen für die Evolutionsbiologie wird kritisch diskutiert.

Reto Schölly: "Die bedeutendste Formgebung der Kulturrevolution ist die Programmierung der Nanotechnologie"

Aus dem Kleinsten erwächst die Form des Größten.
Als Demokrit etwa vierhundert Jahre v. Chr. postulierte, es gäbe nichts als kleinste, unteilbare Teilchen und leeren Raum, so nahm er die größte denkbare Re-formierung des Menschen vorweg. Die Erkenntnis, dass alle sinnlich erfassbare Materie aus winzigen Kleinteilen besteht, wurde 2300 Jahre später erst evident, doch heute scheint die Einsicht, dass es sich hierbei auch um eine kulturelle Entwicklung handelt – vielleicht mehr noch als eine naturwissenschaftliche – augenscheinlich im gegenwärtigen physikalischen und philosophischen Denken fast trivial zu sein. Wenn alles Sein aus kleinsten Teilchen besteht, so ist die Beobachtung dieser ähnlich dem Blick in Pandoras Büchse, oder auch ein Blinzeln hinter die Kulissen, aus denen die Szenerie der Welt besteht. Doch liefert die Kernphysik, wie sie heute genannt wird, nicht ausschließlich den Horror der H-Bombe. Bei Günther Anders etwa bildet sie eine Matrize, welche den Menschen auch in seiner kulturellen Identität in eine Form presst, zurechtbiegt und verbiegt.
Es lässt sich nur schwerlich ignorieren, dass jene mikrosystemtechnischen Geräte, die vor 150 Jahren noch als Zauberwerkzeuge gesehen worden wären, einen matrizenartig prägenden Einfluss auf die kulturelle Entwicklung haben, die sich damit heute nicht länger evolutionär entwickelt, sondern sich in gewaltigen revolutionären Umschwüngen äußert. Das Wissen um die physikalischen Effekte der kleinsten der Kleinen, der Nanoteilchen, ist die fundamentale Grundlage für die Herstellung von nahezu jeder Alltagstechnologie. Keine Entwicklung wirkte sich so drastisch auf die Gesellschaft aus wie die Programmierung der Nanotechnologie.
Gegenwärtig ist der Mikroprozessor, das Kind Demokrits, Gottfried Wilhelm Leibnizens, Emmy Noethers, Marie Curies und Albert Einsteins, die bedeutendste kulturelle Prothese des Menschen. Er steuert alles, was für das Menschenleben von technischer Relevanz ist, von der Geburt bis zum Grab. Damit sind nicht alleine Computer, Smartphones oder das Internet gemeint, die Gemeinschaften und Online-Einsamkeiten hervorbringen können, und – die Kommunikation unterbindend – Daten aber keine Informationen verbreiten. Die Programmierung des Mikroprozessors, der auch Verkehrsleitsysteme, medizinische Geräte, Fernsehgeräte, Produktionsanlagen, Fahrzeuge, Museen und die Landwirtschaft steuert, programmiert somit auch den Menschen und damit seine Kultur.
Die Kulturrevolution geschieht heute durch die Programmierung des Prozessors, welcher wiederum den Menschen prozessiert und verarbeitet, der wiederum hierdurch zur Prothese seines Geräts wird. Nachdem also auch Kleidung, Nahrung, Behausung, Medizin, Unterhaltung, Kommunikation und Gemeinschaft durch prozessorgesteuerte Maschinen hergestellt werden, ist die Programmierung des Mikroprozessors ein Vorgang, welcher in die Kultur installiert wird wie eine Schiffsschraube in den Öltanker. Aus dem Kleinsten erwächst die Form des Größten – die Welterfahrung, das sinnlich Erfassbare, wird durch das sinnlich nicht Erfassbare, unsichtbar Kleine modifiziert. Des Weiteren kann die Nanotechnologie zur Rezeption von Kunstwerken dienen, wie noch zu erläutern sein wird.

Lothar Brock: "Formgebung: Gelingen und Entgleisung: Sozialwissenschaftliche Perspektiven"

Im ersten Anlauf gibt es beim Thema Formgebung einen fundamentalen Unterschied zwischen den Natur- und in den Sozialwissenschaften.
Die Naturwissenschaften beobachten Formen, die Sozialwissenschaften konstruieren sie mit Hilfe von Begriffen:, „Gemeinschaft“, „Gesellschaft“, „Staat“, „internationale Gemeinschaft“, „internationales System“, „Weltgesellschaft“ oder „Markt“. Die sind allesamt bisher von Niemandem beobachtet worden, weil sie als solche keine eigene Materialität haben, und doch sind sie wirkmächtige Bezugspunkte unseres Denkens.
Auf den zweiten Blick ist der Unterschied nicht ganz so groß: Auch in den Naturwissenschaften werden ja Formen nicht nur beobachtet, sondern durch die Beobachtung „gegeben“. So liegt die Vermutung nahe, dass das naturwissenschaftlich identifizierte Gelingen und Entgleisen von Formen bzw. Formgebung mit dem vergleichbar ist, was sich im gesellschaftlichen Feld vollzieht. In der Regel findet aber kein Vergleich im engeren Sinne statt. Stattdessen arbeiten beide Richtungen mit ihren eigenen Vorstellungen von dem, was die jeweils andere Seite „beobachtet“, sei es zur Veranschaulichung (Naturwissenschaften), sei es zur Erhärtung ihrer Behauptungen (Sozialwissenschaften).
Die Frage ist also, ob wir voneinander in dieser Sache wirklich etwas lernen können und wenn ja, was.
Sozialwissenschaftler tendieren dazu, ihre eigenen Vorstellungen von dem, was die Naturwissenschaften beobachten, als Ansatzpunkt für die Rahmung ihrer jeweiligen Weltanschauungspräferenzen zu nutzen. Am deutlichsten ist dies im „Sozialdarwinismus“, der aus Mutation und Anpassung „in der Natur“ unmittelbar Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens ableitet. Unter dieser Perspektive wäre jede gesellschaftliche Form Ausdruck von Anpassung an sich wandelnde Anforderungen an das Leben in einer prinzipiell gefährlichen Umwelt. Die Darwinsche „Mutation“ entspräche dann am ehesten der gesellschaftswissenschaftlichen Kategorie der Revolution. Da nach vorherrschender Meinung Revolutionen aber nie aus heiterem Himmel kommen, sondern stets eine Vorgeschichte haben, wäre für die Naturwissenschaften vielleicht analog die Frage nach der Vorgeschichte, also der Logik von Formwandel interessant und für die Sozialwissenschaften die Frage, ob es so etwas wie spontanen oder zufälligen, also nicht logisch aus irgendetwas ableitbaren Formwandel gibt. Sinn eines solchen Gesprächs wäre nicht eine Einigung auf gemeinsame Probleme, sondern die wechselseitige Irritation (unterhalb der Eben einer interdiziplinären Verständigung).
Was die Sache selbst betrifft (den von den Sozialwissenschaften beobachteten Formwandel) so geht es u.a. um den Zusammenhang zwischen elementaren Formen des gesellschaftlichen Lebens oder aber um deren Einheit: Sind „Markt“, „Gemeinschaft“, „Gesellschaft“ und „Staat“ verschiedene Formen des gesellschaftlichen Lebens, zwischen denen eine für jeden Wandel offene Wechselwirkung besteht, oder bilden sie eine Einheit? Im ersten Falle kann man querliegende Formen wie „Europa“ oder „Weltgesellschaft“ ohne weiteres integrieren, bei der Einheitsperspektive geht das nicht. So stellt sich heute die Frage, ob das Projekt der europäischen Integration als Anpassung bisher vorherrschender Vorstellungen über angemessene Formen gesellschaftlichen Lebens an eine sich verändernde Umwelt zu verstehen ist oder als Selbstzerstörung funktionstüchtiger Formen unter einem selbstgemachten Anpassungsdruck. Mit anderen Worten sind Fuzziness, Blurring, Entgrenzung, De-Nationalisierung, Globalisierung Themen für eine „Kreativwirtschaft“, die uns neue aufregende neue Perspektiven der Formgebung weist, oder sind sie Ausdruck der Entgleisung von Formgebung?

Martina Schettina: "Theoriedesign der Einstein-Formel"
Die berühmteste Formel der modernen Geistesgeschichte als Formwerdung und Formgebung des objektiven Geistes. Eine künstlerische Performance zum Thema E = mc²

"Daß der Wille zur Form unsere Definition für Kunst ist, brauche ich wohl kaum zu sagen. Kunst ist niemals etwas anderes als Wille zur Form. Aber etwas anderes ist nötiger zu sagen: Kunst als Wille zur Form ist nur ganz selten da; nur dann, wenn eine neue Zeit reif ist, geformt zu werden, Form zu werden." Franz Marc
Man kann wohl behaupten, dass außerhalb der Naturevolution die Formprägungen der Mathematik und Physik die folgenreichsten gewesen sind. Die Formel E=mc² ist jene Gleichung, welche auf die Menschheit des 20. und 21. Jahrhunderts die größten Auswirkungen erzielte. Sie ist die Grundlage der Atomphysik und damit auch die Grundlage für Kernkraftwerk und Atombombe.
1916, bei einer Veranstaltung der Literarischen Gesellschaft in Berlin, wurde Einstein von einem der Besucher gefragt: „Also bitte, Herr Professor Einstein, was bedeutet Potenzial, invariant, kontravariant, Energietensor, solar, Relativitätsprinzip, hypereuklidisch und Inertialsystem? Können sie mir das ganz kurz erklären?“ „Gewiss“, sagte Einstein. „Das sind Fachausdrücke“.
Wir sehen also, in ein paar Minuten lässt sich die Relativitätstheorie nicht abhandeln. Was also tun? Wir wechseln die Methoden. Ptolmeius verfeinerte auf geniale Weise das geozentrische Weltbild des Aristoteles, doch die wirkliche Revolution kam durch Kopernikus. Denn er verwarf alles Bisherige und setzte die Sonne in den Mittelpunkt des Universums. Einstein setzte Newton’s absoluten Raum außer Kraft, um ein völlig neues Denkgebäude zu errichten. Erst mit der Relativitätstheorie kam die Menschheit zu einem völlig neuen Verständnis der Zusammenhänge zwischen Raum, Zeit, Masse und Energie. Oft ist es hilfreich, den Standpunkt zu wechseln.
Ich verlasse den Standpunkt des Mathematikers, der wissenschaftlich exakt Formeln ableitet. Ich möchte mit meiner Performance die Gedanken nachvollziehbar machen, die Einstein bewogen, seine Theorie aufzubauen. Ganz im Sinne eines Bazon Brock’schen Action Teaching wird der Zuhörer eingeladen, in eine fremde Gedankenwelt einzutauchen. Es geht nicht um die Herleitung von Formeln, oder um mathematische Beweise. Diese sind jederzeit in der Fachliteratur nachzulesen. Mir geht es um einen emotionalen Zugang. Die Gedanken-Reise beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts und endet bei der Formel E=mc² und deren Auswirkungen auf die Menschheit. Hiroshima, Tschernobyl, Fukushima, Castor: Schlagworte, die Ängste von Generationen beschreiben. Niemand ahnte diese Tragweite, als 1905 ein technischer Experte dritter Klasse des Eidgenössischen Patentamtes in Bern in einer Fachzeitschrift einen Artikel zur „Elektrodynamik bewegter Körper“ veröffentlichte. Der Name des Autors: Albert Einstein.

Termin
15.11.2013, 17:30 Uhr

Veranstaltungsort
Berlin, Deutschland

Veranstalter
Denkerei