Magazin Journal der Autostadt

Journal der Autostadt, Bild: Nr. 5 (September-Oktober) 2013..
Journal der Autostadt, Bild: Nr. 5 (September-Oktober) 2013..

Erschienen
2012

Erscheinungsort
Wolfsburg, Deutschland

Issue
11. Ausgabe / Nr. 5 (September-Oktober) 2013

Seite 23 im Original

Gott ist tot? Wir singen weiter

Wolfgang Rihm setzt die Opernbesucher auf die Sängerkanzel

Von Kreativität spricht man gegenwärtig mit ziemlicher Selbstverständlichkeit, leider ohne zu sagen, was damit gemeint sein kann. Nicht nur Künstler, Wissenschaftler, Unternehmer und Werbeagenten werden danach bewertet, wie kreativ sie seien, es waren schon Stellenausschreibungen für Hausmeisterposten zu lesen, die von Kandidaten Kreativität in der Hausverwaltung einforderten.

Wenn das kein banaler Witz sein soll, heißt Kreativität soviel wie „leistungsfähig im Beruf“ oder „anpassungsfähig an neue Situationen“. Wer hingegen Kreativität als Fähigkeit zur erfinderischen Entwicklung von etwas Neuem versteht, sieht sich mit grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Denn wenn etwas neu ist, lässt es sich noch nicht weiter bestimmen oder erkennen. Wie könnte man also von dem Neuen reden, wenn es etwas Unbestimmtes, Unbekanntes ist?

Da gibt es nur ein sinnvolles Verfahren: Von etwas Neuem lässt sich nur in Bezug auf das Alte, Bekannte, Vertraute, Tradierte sprechen. Man kann geradezu behaupten, neu sei etwas im Sinne von künstlerischer, wissenschaftlicher, unternehmerischer Avantgarde nur, wenn es uns ermöglicht, einen neuen Blick auf das Alte zu richten und damit dem Alten eine neue Gegenwärtigkeit zu geben.

Leider fürchten sich die meisten Menschen vor dieser Anstrengung und zerstören entweder das herausfordernd Neue oder sie leugnen es. Beides sind sehr unproduktive Verhaltensweisen gegenüber den Avantgarden. Doch selbst wenn einer oder viele in bilderzerstörerischer Aggression die Zumutungen der Avantgardisten am liebsten verbieten oder in die Bedeutungslosigkeit abschieben wollten, werden noch genügend andere ihren Vorteil daraus ziehen, sich auf das Neue einzulassen. Letztere wissen, dass sich die vermeintlich vertrauten Traditionen nicht von selbst verstehen. Im Laufe ihres Lebens haben sie mehrfach die Erfahrung gemacht, wie sich unser Bild und unsere Einstellung gegenüber Künstlern der Tradition verändert haben. Spätestens mit jeder neuen Generation, also alle 25 Jahre, ändert sich unser Verständnis von sowie unser Interesse für Bach, Brahms oder Mahler respektive Raffael, Rembrandt, Rubens oder Caspar David Friedrich.

Es sind eben nicht nur veränderte Lebensumstände, die Entwicklung der Technik oder die gerechtere Gewährung von Bildungschancen, die unser Bild der „Alten Meister“ aller Künste wandeln; es ist vielmehr der Druck des besagten Neuen, mit dem wir uns jeweils konfrontiert sehen. Da die ursprünglich von Künstlern geforderte „Verpflichtung, absolut modern zu sein“ inzwischen auch in der Wirtschaft, in den Wissenschaften und im Alltagsleben selbstverständlich akzeptiert wird, sind wir alle auf den Zwang zur Neuheit abonniert.

Das aber heißt dann, dass wir in allen Bereichen ständig verpflichtet sind, die Traditionen umzubauen oder kurz gesagt, uns ständig als Individuen wie als Kollektive ein neues Wirkpotential – genannt Vergangenheit – zu erarbeiten. Durch diesen permanenten Wandel wird Vergangenheit zu dem, was nicht vergeht. Sie wird unter dem Druck des Neuen stets auf neue Weise vergegenwärtigt und damit wesentlicher Bestandteil von Zeitgenossenschaft.

Einer der bedeutendsten, man kann mit Recht sagen, genialsten Vergegenwärtiger der musikalischen, literarischen wie philosophischen Wirkkräfte der Vergangenheit ist der Komponist Wolfgang Rihm. Er beweist die Stärke, angesichts der schier unglaublichen Fülle musikalischer Traditionen dennoch eigenständige neue Kompositionen zu erarbeiten. Nur wenigen, auch Hochbegabten, gelingt es so wie ihm, produktiv mit den Traditionen umzugehen, indem sie den Blick auf diese Traditionen verändern, anstatt ihnen bloß zu folgen. Ihnen bloß zu folgen ist auch gar nicht möglich, weil – wie es in Thomas Manns Doktor Faustus heißt – gewisse historische Formen heute nicht mehr brauchbar sind. Der Autor dieses größten Künstlerromans aller Zeiten lässt den Teufel in einem nächtlichen Gespräch mit dem Komponisten Adrian Leverkühn alle Argumente auflisten, die unabweisbar dagegen sprechen, im 20. Jahrhundert noch musikalische Werke schaffen zu wollen, wie sie die Heroen der Musikgeschichte hervorgebracht haben. Rihm kennt diesen Theorieroman wie kein Zweiter seiner Zunft. Er hat verstanden, was der Teufel als Künstlerpate jedem ambitionierten Zeitgenossen vorträgt. Er fand den Weg in der historischen Formel: Bilderverbot kann nur durch Bildermachen realisiert werden; alle Einwände gegen die Oper lassen sich nur als Oper realisieren.

Wie Rihm sich selbst, aber natürlich auch sein Publikum gegenüber dem symphonischen Schaffen etwa in der Brahmsnachfolge oder gegenüber der Liedtradition verändert hat, bestimmt die Attraktivität seiner Musik. Mit seinen Klavierstücken, insbesondere Nr. 5 aus dem Jahr 1975, zwingt er den Hörern die Herausforderung auf, entsprechende Arbeiten selbst von Beethoven so zu hören, als habe man sie noch nie gehört. Jedenfalls sieht sich der Hörer veranlasst, das Gehörte auf neue Weise in seinen biografischen Kosmos aufzunehmen.

So großartig Rihms vergegenwärtigender Umbau der musikalischen Traditionen wie der Symphonie, des Liedes, der Klaviersonate und weiteren Formen musikalischer Sprache ist und als solcher längst anerkannt wurde, so übertrifft er in Ambition und Kraftanstrengung mit seiner Neuorientierung auf die Tradition der Oper noch alle Kollegen seiner Lebenszeit und sich selbst. Der Erfolg seiner acht bisherigen Beiträge zur Rückgewinnung und Neuformierung der Oper als zeitgenössischer Ausdrucksform wird nicht nur durch die Positionierung von Mozart, Wagner oder Richard Strauss als Komponisten unserer Gegenwart belegt; viel nachhaltiger war die entsprechende Reformulierung der Wirkungsansprüche beispielsweise von Arnold Schönberg, Alban Berg, Luigi Nono oder Bernd Alois Zimmermann.

Was bringt Rihm als evokativ-herauslockende Neuigkeit ins Spiel der Oper? Kurz gesagt, er schafft in vergegenwärtigender Rückerfindung den Adressaten der Oper neu.

Jeder dürfte sich schon einmal gefragt haben, welcher Logik kommunikativer Beziehungen das sich wechselseitige Ansingen von Personen auf kleinstem Bühnenraum bzw. in imaginierten Räumen entspricht. Aus eigener Erfahrung weiß man, dass man sogar in ehelichem Nahkontakt die Stimme bis zum Schrei steigern kann (ohne damit freilich überzeugender zu wirken). Bisher ist aber nicht bekannt geworden, dass Ehepartner-Dialoge, genauso aber auch Geschäftskonferenzen oder die Verständigung unter Militärs vom Schreien ins Singen übergegangen seien. Also, wen meint Carmen? Wen adressiert Wotan? An wen wendet sich die Marschallin? Kurioserweise singen sie ihre Partner auf der Bühne an oder das Publikum. Dieses Verständnis leitet sich aus dem Schauspiel ab, ist aber so unzureichend wie es die Erklärung wäre, Opermusik auf der Bühne entstünde aus der Geräuschkulisse eines Dramas. Oper ist aber nicht die Übersetzung von Schauspieldialogen in Musik, sondern die Verlebendigung der Welt als Echoraum des menschlichen Fühlens und Denkens („Die Oper als Kraftwerk der fernwirkenden Gefühle“ frei nach Alexander Kluge).

Bereits vor Monteverdis Etablierung der Oper haben sich die besten Bildhauer und Maler des 15. Jahrhunderts mit auffälligem Nachdruck in der Darstellung und Ausstellung singender Menschen hervorgetan. Der Bildtypus der Sängerkanzel entstand – Denker- oder Hörerkanzeln etwa gibt es leider nicht. Die Bilderzählung noch früherer singender Engel scheint darauf hinzudeuten, dass Menschen durch den großen Atem, der ihnen auch zu singen erlaubt, transformiert oder verwandelt werden. Die historischen Darstellungen weisen darauf hin, dass die Selbststeigerung und Selbstübergipfelung den einzelnen wie die Gruppe der Singenden zu Trägern geistiger Kräfte werden lässt, die in einem anderen Modus der Äußerung offensichtlich so nicht erreichbar sind.

Anthropologen neigen zu der Erklärung, dass in frühen Zeiten der Hüter- und Hegerkulturen die Verständigung den voneinander weit entfernten Hirten sowie die Kommunikation mit ihren Tieren eine das Individuum vergrößernde stimmliche Entfaltungskraft abverlangt habe.

Der Geist weht, wo er will, heißt es sprichwörtlich. Er schwebt über den Wassern, wie es in der Weltschöpfungserzählung heißt. Im Hebräischen wie Altdeutschen ist der ruach oder Odem die Kraft, mit der der Schöpfer seine Schöpfungen aus Lehm, aus Stein, aus Leinwand, aus beschriftetem Papier zum Leben bringt; er haucht ihnen Leben als Fähigkeit zum seelischen und geistigen Ausdruck ein. Der singende Mensch in der Oper führt diesen Wandlungszauber durch Atmen so vor, dass sich die Zuhörer davon überzeugen lassen, unsere Welt sei immer noch lebendige Schöpfung. Atmen als Gestalten, Ausatmen als Freisetzung der Gestalt lässt unsere Vorstellungen und Gedanken, Gefühle und Erinnerungen öffentlich werden. Das Opernpublikum spürt diesen großen Odem im Gesang der von der Schöpfungskraft ergriffenen Menschen. Gott ist tot, aber wir singen weiter, als ob der Odem unerschöpfbar sei und er ist es.

Rihms Opernfiguren zielen gerade deswegen in der Empfindung der Zuschauer auf ein Gegenüber in weiter, aber erfüllter Ferne – sie singen hinaus in einen Echoraum, in dem das Wirkliche mit dem Möglichen, das Erlebte mit dem Erträumten und das Vergangene mit dem Zukünftigen oszilliert. Diese sich wechselseitig steigernden Schwingungen formen die Ruhe und geben der Stille Gestalt, sobald der Gesang verklungen ist.

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