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SonntagsZeitung, Bild: 27. Jahrgang, Nr. 30 (Zürich 28.07.2013)..
SonntagsZeitung, Bild: 27. Jahrgang, Nr. 30 (Zürich 28.07.2013)..

Erschienen
28.07.2013

Erscheinungsort
Zürich, Schweiz

Issue
27. Jahrgang, Nr. 30

Seite 18 im Original

«Endlich ein Land, das es nicht nötig hat, Rabatz zu machen»

«Willkommen in meinem Basislager», sagt Bazon Brock und bittet in seine Villa in der Nähe von Wuppertal, Zwischen Art-déco-Möbeln und afrikanischen Holzmasken stapeln sich Bücher, darunter viele, die der 77-jährige Deutsche selber verfasst hat. Der emeritierte Ästhetikprofessor arbeitete mit Künstlern wie Friedensreich Hundertwasser, Max Bill und Joseph Beuys. Brock heisst mit Vornamen eigentlich Jürgen. Den Übernahmen Bazon, der im Griechischen sowohl Schwätzer wie auch grosser Redner bedeuten kann, verpasste ihm ein Lehrer. Brocks Leidenschaft gilt dem Denken, dem Reden, der Kunst - und der Schweiz, die er als die Weltavantgarde des 20. Jahrhunderts bezeichnet, Nächste Woche feiert die Schweiz den Nationalfeiertag – Anlass für ein Gespräch mit Bazon Brock.

Das ist mein Ehrendoktortitel, den ich 1992 von der ETH Zürich bekommen habe. Scientiae technicarum honoris causa.

Ich habe fast zehn Iahre an der ETH unterrichtet in den Achtzigerjahren. Wir haben ziemlich viele Design- und Architekturprojekte gemacht.

Die Schweiz steht für das, was ich mit dem Begriff des «verbotenen Ernstfalls» beschreibe. Ich kam 1957 nach Basel, aus einem ziemlich verwüsteten Deutschland und nach vielen Jahren in Lagern und asozialen Verhältnissen. Da ging mir auf, dass die entscheidende Leistung der Schweiz darin bestanden hatte, sich aus den Ernstfallkonflikten des Krieges herauszuhalten.

Die kleine Schweiz hat ihre Schwäche intelligent genutzt. Wenn die Schweizer wussten, wir können eh nichts bewirken gegen die mächtigen Nachbarn rundherum, dann mussten sie auf andere Weise die Kraft der Ohnmacht, die Kraft der Schwäche entwickeln. Es gibt ja von allen Seiten ununterbrochen Zumutungen des Lebens, die dazu herausfordern, einfach zurückzuschlagen, aufzutrumpfen, den Helden zu markieren. Die Schweizer haben das unterlassen.

Ob aus Schwäche oder Einsicht, ist ja egal. Das Entscheidende ist, dass die Schweiz bereits Mitte des 17. Jahrhunderts aussenpolitisch beginnt, den Ernstfall des Krieges als Angriffs- oder Durchsetzungskrieg zu vermeiden. Der «verbotene Ernstfall» bildet den bisherigen Höhepunkt der Zivilisationsgeschichte. Die einzig zivilisierten Repräsentanten der Menschheit im Sozialverband sind die Schweizer.

Sie wollen von mir wissen, was mit der Schweiz los ist, wenn sie Minarette verbietet?

Dafür bin ich nicht zuständig. Ich soll das sagen, was ich zu sagen habe. Und das heisst: Das Kontramodell zur Machtbesessenheit ist, dass die Schweiz sagte, souverän ist, wer den Normalfall garantiert. Der Normalfall ist eigentlich das, in dem nichts passiert, was ausserordentlich ist.

Das ist doch Quatsch. Als wir 1957 in die Schweiz kamen, hiess es: «Oh, da kommen die Leute, die uns jetzt mal richtig zeigen, was Sache ist, in Deutschland wird richtig Tohuwabohu gemacht, und hier in der Schweiz ist gar nichts los. » Worauf wir dann gesagt haben: «Ihr wisst offenbar überhaupt nichts von der Weltgeschichte. Denn wenn ihr auch nur einen einzigen Menschen fragen würdet, der die Realität kennt, dann würdet ihr euch nicht sehnen nach Action, nach Ereignissen, nach grossen Ausbrüchen. Dann würdet ihr stolz darauf sein, dass bei euch nichts geschieht.»Wir sind damals in die Schweiz gekommen, weil wir endlich mal eine unzerstörte Stadt sehen wollten – weil wir sehen wollten, wie sie denn ist, die Normalität.

Ja, natürlich.

Ich habe immer wieder versucht, in der Schweiz zu leben. Das hat sich aus biografischen Gründen nie ergeben. Ich war Chefdramaturg in Luzern. Dann musste ich wieder nach Hamburg, dann nach Frankfurt. Ich habe jetzt ein paar Jahre in Pontresina gelebt. Lucius Burckhardt, immerhin ein fulminanter Schweizer, und François Burkhardt waren meine engsten Partner für 25 jahre Arbeit.
Er hat auch das grossartige Konzept über die Stadtsoziologie «Design ist unsichtbar» geschaffen. François Burkhardt, auch ein Schweizer, war Chef des IDZ in Berlin, des bedeutendsten Design-Zentrums in Europa, wo von Venturi bis zu den letzten Gross meistern der Architektur sämtliche Leute zu Design- und Architekturentwurfsseminaren antraten. Fast alle Initiativen, die wirklich Hand und Fuss hatten und die heute so Nachplapperer in der FAZ vorstellen, sind alle vor 30 Jahren in der Schweiz entwickelt worden. Komplett.

Nein! Sie wissen gar nicht, was Realität ist, weil Sie keinen Krieg kennen! Wer keinen Krieg kennt, kann überhaupt nicht mitreden, der weiss gar nichts von der Welt! Sie sehnen sich nach Reibungsflächen – sind Sie verrückt? Gehen Sie doch mal in die Welt, wenn Sie Reibungsflächen wollen. Halten Sie mal Ihre Birne in Afrika hin.

Sie hätten die Gelegenheit dazu, Sie haben gegenwärtig vierzig Kriege.

Ja, natürlich. Seit Sie leben, haben Sie Gelegenheit, mindestens achtzig Kriege mitzuerleben. Wollen Sie mal in die Wirklichkeit hinaus gucken? Dann kommen Sie zurück und sagen, Gott sei Dank! Die Schweizer Idiotie kommt von solchen Leuten, die sagen; «Die Schweiz, dieses furchtbare Land, in dem nichts passiert, keine Reibungsfläche, furchtbar, furchtbar.» Das Gegenteil ist der Fall! Das ist der Triumph der Zivilisation, nämlich: endlich ein Land, das es nicht nötig hat, ständig Rabatz zu machen, obwohl es sich wohlweislich aus der Kriegserfahrung herausgehalten hat. Darin liegt das Bemerkenswerte. Dass es die Schweizer fertiggebracht haben, sich über fast 400 Jahre systematisch aus Kriegshandlungen herauszuhalten, und trotzdem hoch schätzen, was die Normalität bedeutet.

Das Land hat eine traumatisierteVergangenheit. Die Entstehung der Schweiz ist mit ungeheuerlichen Auseinandersetzungen verbunden gewesen. Es war ein Zusammenschluss von Leuten, die nirgends hinpassten. Die ihre Freiheit auch nicht selbst behaupten konnten, weil sie nicht stark genug waren. Die sich verdingen mussten als Söldner bis hin zum Papst. Die es aber fertigbrachten, sich zu überlegen, wie sie wieder aus diesem Schlamassel rauskommen. Man muss das Modell der Schweiz verstehen jenseits der bisherigen normalen Vorstellung; «Ach, da sitzen die Leute in ihrem Speck und mästen sich am Innern der Welt.»

Warum denn?

Das sagen doch nur diejenigen Leute, die selber perverse Ideen haben. Wenn zum Beispiel hier in Deutschland jemand der Schweiz vorwirft, sie würde das Steuergeheimnis nutzen, um fremdes Kapital bei sich zu horten, dann aber selber CDs mit gestohlenen Daten verwendet, wo ist denn da der Kriminelle? Herr Steinbrück ist doch der Kriminelle. Oder die Minister, die mit gestohlenem Gut handeln. Es ist gesetzlich ausdrücklich verboten, mit Hehlergut zu handeln.

Das war doch das Geschäftsmodell für das gesamte westliche kapitalistische System. Was heisst denn «kapitalistisches System» anderes, als dass jeder jede kleine Lücke nutzt? Alle grossen Konzerne, die heute in der Welt regieren, schieben ununterbrochen die Gewinne, die sie in einem Land machen, per Tochterunternehmen in andere Länder, wo sie kaum oder gar keine Steuern zahlen.

Ich habe seit 1959 ein Konto in der Schweiz, das ich völlig legal offengelegt habe und das auch in meinem Briefkopf steht. Ich habe noch heute ein Konto in der Schweiz, weil ich bis voriges Jahr in Pontresina gelebt habe. Ich hab aber auch noch ein Konto bei der Deutschen Postbank und bei einer Sparkasse.

Ich vertraue keinem Einzigen, der sagt, er habe die Kraft oder die Macht, etwas durchzusetzen, oder er wisse, wie es geht. Jedem Bauern würde ich mehr trauen als einem Experten. Das ist die Erfahrung, die aus dem Krieg geblieben ist: Halte dich nicht an die Typen, die mit ordensbekleckerter Brust vorgeben, sie wüssten, was gespielt wird, und sie seien der entscheidende Ratgeber oder Lebenstrainer. Wir wussten genau, dass wir uns nur an handfeste Unteroffiziere oder einfache Mannschaften halten durften, wenn man überhaupt noch glaubte, dass einem jemand hilft. Während die grossen Gockel herumstolzierten und sich einen fröhlichen Lenz machten.

Es war der erste Angriff mit Phosphorbomben in Danzig 1945. Die Soldaten kannten das noch nicht und wussten nicht, dass man Phosphorverletzungen herausschneiden muss. Ärzte gab es keine dort. Die Soldaten haben die Brandwunden ausgewaschen, das ist aber nicht genug, es bleibt dann etwas zurück.

Am 20. August 1997, ausgerechnet bei einer Führung auf der Documenta, bekam ich einen Anfall. Alle Glieder waren angeschwollen. Es dauerte dann bis Mai 1998, bis man in einem deutschen Rheumazentrum durch Extraktion und Punktation festgestellt hat, dass das Kalzium-Pyrophosphat-Kristalle sind. 52 Iahre später.

Na ja, ich gehe halt regelmässig zu irgendwelchen Traras. Auch heute Morgen war ich bei Ärzten. So geht das ewig weiter. Aber der Kern des Ganzen ist das Wissen, dass das, was mir damals passiert ist, mindestens vier Millionen Kindern und Jugendlichen passiert ist. Für uns war es noch schrecklicher, die Tiere zu sehen, Kühe, die durchs Land irrten, Pferde, die wahnsinnig wurden, und die Schweine, die schrien und geschlachtet werden sollten.

Das Allergefährlichste, was ich je als Psychobedrohung für mich empfunden habe, sind weinende Kinder, Das war wohl das Enervierendste schlechthin. Diese unendliche Sinfonie des verzweifelten Lautgebens von Kindern. Das ist das entscheidende Kriegserlebnis. Viele Geräusche sind mir geblieben. Etwa die anrollenden Güterwagen, ta-ta-tam, ta-ta-tam, damals waren die Schienen noch nicht verfugt. Da wusste man, aha, wieder ein Transport. Man sah einen Sehschlitz, durch den Leute guckten, und Fenster mit Stacheldraht, durch das sie etwas zu reichen oder fallen zu lassen versuchten. Hunde, die bellen, die plötzlich aufhören zu jaulen, und man weiss, dass sie jetzt ein Bajonett im Bauch haben. Das sind die einzelnen, prägenden Erlebnisse des Krieges. Was als Ideologie hinter dem Krieg steht, wird völlig egal.
Die Weltwahrnehmung konzentriert sich darauf: Wo ist ein Loch, wo ist Wasser, wo ist frisches Gras, wo kann man die Rinde vom Baum schälen? lm Lager bewachte ich jeweils mit meinem Bruder die Trümmerblumen und Butterblumen.

Natürlich, in dieser Zeit war das ein Hochgenuss. Überall gab es diese Trümmerblumen, die man von der Wurzel bis zur letzten Blüte essen konnte. Die wuchsen im Müll und im Dreck und waren deshalb reichlich vorhanden, wo es kein kultiviertes Gelände gab. Da eh alles in Trümmern lag, wuchsen die eben überall.

…und ich hoffe, dass ich noch zwanzig Jahre schaffe. Das ist eine alte Vorhersage. Von Geburt an hiess es immer, der wird 96 Jahre alt.

Meine Tanten haben mir immer erzählt, wie alte Frauen nach meiner Geburt in unser Haus kamen und sagten, dass ich 96 Jahre alt werden würde. Später reiste ich mehrmals nach Rumänien und wurde dort angesprochen auf mein Alter. Viele sagten, ich würde sehr alt, worauf ich nachfragte: «Ja, wie alt denn?» Und sie sagten: 96. Das schmeichelt einem. Wenn man es hört, fragt man sich: Wie kommen die alle auf diese Zahl 96? Das ist ja schon sehr merkwürdig. Kurz und gut, ich hoffe auf zwanzig Jahre.

Ich geniesse die Normalität. Das ist ein Aspekt von Frieden, diese Ereignislosigkeit. Es droht von nirgends etwas. Wenn man einmal in seinem Leben erfahren hat, ununterbrochen damit rechnen zu müssen, dass von irgendwoher etwas passieıt, dann wissen Sie, was für ein ungeheurer Lebensgenuss es ist, fünf Stunden auf einer Parkbank zu sitzen und nichts passiert.

Es wird uns überall ein aufgegeiltes Affentheater vorgespielt. Der deutsche Schriftsteller Rainald Götz schnitt sich 1983 bei einer Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn blutig und liess das Blut aufs Manuskript tropfen. Wenn ein Herr Götz es nötig hat, einem eingeschlafenen Attraktionspublikum diese Attraktion zu bieten, dann ist das ein Bürgersöhnchen, dem man die Hosen stramm ziehen müsste. Man sollte ihm sagen, jetzt gehst du in den Krieg, kommst zurück und erzählst uns, was du über Blutvergiessen weisst. Diese Arschlocher, die da sitzen und Blutvergiessen produzieren, während die ganze Welt voll Blutvergiessen ist. Oder nehmen Sie diesen Berliner Intellektuellenclub, der den Intendanten Castorf wegen seiner «Radikalität» prämierte. Stellen Sie sich das einmal vor!

Das sind intellektuell verwahrloste Menschen. Die machten eine Jury und vergaben einen Preis für Radikalität, und das zu der Zeit, als in Ex-Jugoslawien den Leuten die Kehle durchgeschnitten wurde. Da haben diese Hansel in Berlin die Unverschämtheit, als Sesselfurzer zu fordern, dass man radikal sein müsse. Und der Radikalste bekommt einen Preis. Das ist intellektuelle Verkommenheit.

Das muss man propagieren, diese Sensation des Normalen. Normalität ist nicht der Normalfall. Normalität ist der Ausnahmefall. In der ganzen Welt finden Sie heute Millionen Menschen, die sagen, ja, das ist es: die Sensation des Normalen! In jedem Lager, in jedem Flüchtlingselend – einmal ungestört in einem eigenen Bett liegen, mit Zugang zu sauberem Wasser, das ist der Himmel auf Erden.

Das Modell Schweiz bedeutet: ein Staat, eine Gesellschaft, in der die Ereignislosigkeit zum Höhepunkt des zivilisatorischen Ordnungsstrebens wird. Darum ist die Schweiz als Weltmodell zu sehen. Das ist die Zukunft. Souverän ist, wer garantiert, dass nichts passiert. Das ist Demokratie.