Buch Kunst und Gesellschaft, Grenzen der Kunst

Erschienen
1980

Herausgeber
Klotz, Heinrich

Verlag
Umwelt-und-Medizin-Verlagsgesellschaft

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

Umfang
184 S

Theorie der Avantgarde

Avantgarde ist nur das, was uns veranlaßt, neue Traditionen zu bilden

Allgemeinste Kennzeichnung des Anspruchs auf Avantgarde läuft beim Publikum, bei der Kritik wie bei den Künstlern darauf hinaus, daß die Avantgarden etwas Neues in die Welt setzen.
Das tatsächlich Neue erweist sich aber stets nur als neue Sicht auf das Alte, die sogenannten Bestände der Traditionen. Die Kunst steht und fällt mit den Leistungen der Avantgarde, denn sie allein ermöglicht es, überhaupt vom historisch Früheren zu sprechen.
Die Überlegungen zur Avantgarde werden hier in vier Texten dargestellt:
1. Das Verhältnis von Avantgarde und Tradition, vom vermeintlich Neuen und dem gesicherten Bestand an Tradition, wird als theoretische Fragestellung herausgearbeitet.
2. Das Verständnis von Avantgarde wird anhand einzelner Beispiele der Baseler Ausstellung von 1978 und am Beispiel einer Gegenüberstellung und Analogiebildung von Joseph Beuys >Feuerstätte< und Dirk Bouts >Die Feuerprobe< entwickelt und als Bildessay veranschaulicht.
3. Die zeitgenössische Relevanz der Avantgardetheorie wird mit Ausführungen zur gegenwärtigen Avantgarde in Deutschland belegt.
4. Ansetzend bei der Behauptung, daß Avantgardismus stets den Neuaufbau von Traditionen erzwingt, wird am Werk Daniel Spoerris der epimetheische Avantgardismus als Arrieregardismus thematisiert.
Es scheint ganz unmöglich zu sein, über Erscheinungen der Gegenwartskunst zu sprechen, ohne dabei Begriffe wie >InnovationKreativitätNeuheit< einerseits und >ZumutungMachenschaftenUnverstehbarkeit< andererseits zu benutzen. Wenn man aber jemanden fragt, was denn so neu an dem von ihm behaupteten Neuen sei - und zunächst kennzeichnet er ja alles ihm noch nicht Verständliche als neu-, dann gerät er sehr schnell in Schwierigkeiten.
Er könnte etwa sagen: »Ja, nun, was ist das, das weiß ich nicht - es ist eben das Neue, Avantgarde, die als solche nicht bestimmbar ist. Gerade deswegen benutze ich ja die Begriffe >neuAndersartigkeitUnvertrautheit< - das wird mir eben zugemutet, gerade in seiner Andersartigkeit und Neuheit. Es ist eben ganz anders als das, was ich bisher im Kunstbereich kennengelernt oder gesehen habe. « Auf philosophischem Anspruchsniveau wäre das eine diskutierbare, immer noch und schon wieder vertretene ontologische Position. Sie spielt indessen in der alltäglichen Konfrontation mit Werken der Gegenwartskünste keine Rolle, so sehr auch Sartres oder Blochs Philosopheme in der Auseinandersetzung um die Avantgarden verwendet werden. Man setzt sich eben nicht der Fremdheit aus, sondern geht aggressiv oder mit platten Witzeleien gegen die befremdlichen, andersartigen Werke und ihre Urheber vor. Bestenfalls behauptet man nur deren Bedeutungslosigkeit, als sinnlosen Hokuspokus oder intellektuelle Spielereien geltungssüchtiger Narren.
Für die gesellschaftlich wirksamen alltäglichen Konfrontationen mit den Zumutungen der Künste und Künstler gilt es deshalb, einen anderen Weg zu beschreiten, um so die besondere Art der Neuheit von etwas Neuem zur Sprache bringen zu können.
Im Grunde kennt jedermann diesen Weg. Denn es ist wohl selbstverständlich, daß man von dem Neuen immer nur mit Bezug auf das Alte reden kann, von dem befremdlich Anderen nur mit Bezug auf das Bekannte, von Innovation nur mit Bezug auf die Repetition und von Information nur mit Bezug auf die Redundanz sprechen kann.
Die Frage ist, warum die Mehrzahl der mit Avantgarde-Problemen Konfrontierten diesen Weg der Bestimmung des Neuen nicht geht. Sie erledigt das Problem auf eine andere Weise, die vielleicht auch sehr elegant ist, aber nicht viel einbringt. Dafür macht sie sich etwas, das ohnehin im Kunstbereich geschieht, zunutze, nämlich die Tatsache, daß jedem soeben noch Neuen ein Allerneuestes folgt. Avantgarde wird als Bewegung entlang des Zeitstranges verstanden, so daß sie immer nur das ist, was sich an der äußersten Spitze des Zeitpfeils befindet.
So kann man per Begriffsmanipulation das avantgardistische Neue mit schöner Regelmäßigkeit durch das Auftauchen des Allerneuesten zu etwas schon Vorhandenem und damit vermeintlich Bekanntem werden lassen. Das gerade noch Neue wird so zu einem Nichtmehr-Neuen und deshalb, wie es in einem derartigen Verständnis von Avantgarde liegt, zu einem Vertrauten, gar Angeeigneten umbenannt.
Dieses Verfahren bringt aber tatsächlich wenig für die Bestimmung dessen ein, was die Avantgarde ist. Die Probe aufs Exempel läßt sich sehr schnell machen. Wenn man nämlich jemanden mit einer künstlerischen Äußerung konfrontiert, die er auf diesem Umbennungswege von einem Avantgarde-Werk zu einem nicht mehr avantgardistischen hat werden lassen: dann wird er sehr schnell durch seine Reaktion zeigen, daß dieses Neue nicht dadurch schon zu einem Bekannten und Vertrauten geworden ist, daß man es zu einer Neuheit von gestern deklariert.
Auf diese probate Weise versucht man nicht erst in den letzten Jahrzehnten, mit dem Problem der Avantgarde fertig zu werden. Seit den Anfängen der Entwicklung schriftlicher Zeugnisse in unserem Kulturbereich ist diese Vorgehensweise dokumentierbar. Offenbar gehört dieses Vorgehen, mit etwas befremdlich Neuem fertig zu werden, zum Grundverhalten der Menschen, die ja unentwegt und in allen Handlungsfeldern mit dem Problem konfrontiert sind, wie sie sich gegenüber dem Unbekannten verhalten sollen.
Man kann das Unbekannte ja nicht einfach ignorieren, denn es könnte in seinen Auswirkungen bedrohlich sein. Außerdem könnten aber auch denjenigen Vorteile entstehen, die es wagen, sich auf das bisher Unbekannte und deswegen Bedrohliche einzulassen. Vorteile für die einen wirken sich aber als Nachteile für die anderen aus, selbst, wenn sich sonst nichts ändert. Solche Nachteile gilt es zu vermeiden; also ist man gezwungen, sich seinerseits auf das bedrohlich Unbekannte einzulassen.
Für derartige >Problemlösung< durch Umbenennung ein Beispiel aus der Antike: Die Griechen benannten die Erinnyen (die Furcht und Schrecken erregenden Vergegenständlichungen des Schicksalsbegriffs) in Eumeniden um, also in die dem Menschen >WohlwollendenNeue< sei entweder olle Kamelle oder Quatsch. Manche dieser Kunstwissenschaftler behaupten immer noch, die von Zeit zu Zeit veränderte Sicht auf beispielsweise einen Piero, El Greco oder Friedrich ergäbe sich aus dem Fortschritt der Kunstwissenschaft als einer immer genaueren Annäherung an den wahrhaften, historischen Piero, El Greco oder Friedrich. Sie behandeln ihre Vorgängerkollegen als bedauerlich Beschränkte, die eben leider nocht nicht über Kenntnisse und Methoden verfügt hätten, die es erlaubten, sich dem tatsächlichen historischen Piero, El Greco oder Friedrich hinreichend genau anzunähern. Sie führen sich als berufene Wächter von Traditionen auf, indem sie Kunstgeschichtsschreibung als Enthüllung der den historischen Prozessen tatsächlich zugrundeliegenden Beziehungsgeflechte von Meistern und Schülern, von Ursache und Folge, von Fakten und Fiktion behaupten. Mehr als eine beliebige Behauptung ist das nicht.
Kunstgeschichte -wie alle Geschichten- wird nur von den jeweils Lebenden geschrieben. Was diese Lebenden in ihren Wahrnehmungen, Auffassungen und Wertschätzungen beherrscht, ist gerade das, was ihre Zeit als historisch bestimmbare von anderen historischen Epochen unterscheidet. Wer demnach gerade kein Zeitgenosse sein will, sich also als Kunsthistoriker nicht mit den Künsten seiner Gegenwart auseinandersetzt, hat keine Chance, das zu erarbeiten, was die historische Epoche und die spezifische Subjektivität eines Piero, eines El Greco, eines Friedrich kennenzeichnen könnte.
Wer kein Zeitgenosse sein will, kann schlechterdings kein Interesse für historische Prozesse behaupten. Was aber Zeitgenossenschaft prägt, läßt sich erst an der Historie erfahren; und zwar dann, wenn ein Zeitgenosse befähigt ist, den Zusammenhang historischer Ereignisse auf andere Weise zu sehen, als er von Angehörigen anderer, vorheriger Zeitgenossenschaften gesehen worden ist.
Für einen Kunsthistoriker oder allgemein Kunstinteressierten wird naturgemäß die Kunst der eigenen Zeit den Ausgangspunkt wie auch die Begründung für solche neuen Sichten auf die Künste anderer Zeitgenossenschaften bieten können.
Traditionen sind nichts anderes als die sich aus der jeweiligen Zeitgenossenschaft nach rückwärts ergebenden Auffassungen von den Zusammenhängen historischer Ereignisse. Zeitgenossen, die von den Künsten ihrer Lebensgegenwart nicht gezwungen werden, eine eigene Sicht, eine von der aller früher Lebenden unterscheidbare Auffassung zu entwickeln, haben keine Traditionen; und deshalb keine Möglichkeit, die historische Differenz ihrer eigenen Zeit zu anderen Zeiten herauszubilden, d. h., sich als Zeitgenossen zu erkennen und als Zeitgenossen zu wirken.
Traditionen wirken nicht, wie der gesunde Menschenverstand behauptet, aus der Geschichte in die jeweiligen Gegenwarten, sondern aus der Gegenwart in das Gefüge historischer Sachverhalte, insofern sie sie zur »Geschichte« zusammenschließen.
Dazu werden die jeweiligen Zeitgenossen angetrieben, wenn sie versuchen, das »Neue« in seiner Andersartigkeit, das Unbekannte und deswegen Unsicherheit, gar Angst Verbreitende, das in ihrer unmittelbaren Gegenwart in Erscheinung tritt, zu erkennen und zu bewältigen. Gesellschaften, die - aus welchen Gründen auch immer - die Erscheinung und die Wirkung solcher Avantgarde zu verhindern suchen, erreichen damit das Gegenteil dessen, was der gesunde Menschenverstand behauptet: statt Traditionen zu sichern, wird die Gesellschaft traditionslos.
Das mag angesichts unserer westeuropäischen Industriegesellschaften merkwürdig anmuten, die geradezu der Neophilie, dem Kult des Neuen zu huldigen scheinen. Sie behaupten aber das Neue bloß im Sinne eines historisch absolut noch nie Dagewesenen und damit als bloße Leerformel. Solches Neuestes wird nur im Blick auf das Voranschreiten kalendarischer Zeit verstanden, dem unmittelbar ein Allerneuestes folgen wird, wodurch man veranlaßt ist, sich gerade nicht auf das Neue einzulassen: und das scheint wohl die eigentliche Absicht zu sein.
Das Neue in den Künsten der jeweiligen Zeitgenossenschaften wird nur substantiell erfahren in den jeweils neuen Kunstgeschichten. Die Funktion des zeitgenössisch Neuen besteht darin, dasjenige Alte aneignen zu können, zu dem wir ansonsten keinen Zugang hätten. Erst darin werden auch die alten Bestände über ihre historische Faktizität hinaus zu geschichtlichen Ereignissen in ihrer Unverwechselbarkeit und jeweiligen Einmaligkeit. Die historischen Bestände werden erst aus der Blickrichtung des zeitgenössisch Neuen als unwiederholbare und deswegen bewahrenswerte bestimmbar.
Deshalb unsere These: Avantgarde ist nur das, was uns veranlaßt, die angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue Weise zu sehen, d. h., neue Traditionen aufzubauen.
Es sei darauf hingewiesen, daß diese Definition von Avantgarde sich nicht erst gegenüber der Kunst der vergangenen 100 Jahre sinnvoll verwenden läßt - also seitdem expressis verbis von Avantgarde gesprochen wird. Denn das Problem, auf das wir mit unserer These ausgerichtet sind, gab es nachweislich zumindest seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert, als griechische Philosophen, Politiker und Künstler sich gezwungen sahen, Rechtfertigungen für ihren Anspruch auf das Hervorbringen von etwas Neuem zu entwickeln. Von da an ist mit schöner Regelmäßigkeit auf das Problem reagiert worden; seit dem 15. Jahrhundert wird in Europa ausdrücklich der neue Name für den Sachverhalt eingeführt: die Moderne.
Wir sind aber darüber hinaus bereits anhand der ältesten schriftlichen Kulturereignisse unserer Welt gezwungen anzunehmen, daß Menschen aller Zeiten und aller Kulturen unser Problem zu bearbeiten hatten. Der allenthalben verwendete Topos »Ja, früher... aber heute« (früher waren die Dichter noch wahrhafte Dichter, heute gibt sich jeder Nichtskönner als Dichter aus; früher ehrte man noch die Götter, heute reißt man über sie Witze; früher verpflichteten sich alle auf verbindliche Bedeutungen; heute versteht jeder, was er will; früher herrschten Anstand und Sitte, heute Schamlosigkeit und Willkür) legt uns diese Annahme nahe.
In der Tat ist es ja immer um die Frage gegangen, wie die jeweiligen Gegenwarten mit ihren Vergangenheiten in Beziehung zu setzen seien wie das Neue mit dem Alten vereinbar sei. Dabei versteht sich in gewisser Hinsicht das Erscheinen des Neuen von selbst. Es muß also gar nicht willentlich, absichtsvoll in die Welt gesetz werden. Auch bei radikalsten Versuchen, Traditionen konstant zu halten, stellt sich in nicht unerheblichem Umfang das Neue allein schon deshalb ein, weil sprachliche Kommunikation zwischen Menschen kaum die eindeutige Übertragung von Bedeutungen ermöglicht, selbst, wenn sie beabsichtigt wird.
Alte Formen und Begriffe nehmen überraschend schnell neue Bedeutungen auf; alte Bedeutungen können nur in neuen Formen und Begriffen präsent gehalten werden. Was sich vielleicht in dieser Hinsicht als Unterscheidungskriterium für die verschiedenen historischen Formen der Auseinandersetzung mit unserem Problem entwickeln ließe, ist die Frage danach, in welchem Umfang und mit welchen Konsequenzen die einzelnen historischen Gesellschaften das Hervorbringen von etwas Neuem zur sozialen Tugend entwickelt haben.
Auch die vielen nachweisbaren historischen Auffassungen über die Bestimmung von Neuem und Altem als >zyklischen Wechseln< und der schließlichen >Wiederkehr des Gleichen

siehe auch: