Magazin Maske und Kothurn

Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft

Maske und Kothurn: Wolf Vostell. Leben dé-coll/AGIEREN, Bild: Heft 1-2/59. Jahrgang 2013.
Maske und Kothurn: Wolf Vostell. Leben dé-coll/AGIEREN, Bild: Heft 1-2/59. Jahrgang 2013.

59. Jahrgang 2013, Heft 1-2

Thema: Wolf Vostell. Leben dé-coll/AGIEREN

Mit Beiträgen von Peter Weibel, Gino di Maggio, Christian Schulte, Thomas Antwi, Bazon Brock, Dieter Ronte, Elisabeth Rath, Martin Fichter-Wöß, Heinrich Liman, Brigitte Marschall und Bruno Liberda

Erschienen
2012

Herausgeber
Marschall, Brigitte | Fichter-Wöß, Martin

Verlag
Böhlau

Erscheinungsort
Wien, Österreich

Issue
Heft 1-2/2013

Seite 55 im Original

Der sagenhafte Vostell

Viel Feind‘, viel Ehr‘ – viel Freund‘ demnach viel unehrenhafte Einverleibung, sprich Erniedrigung zu ihresgleichen. Ich weiß, wovon ich da spreche, wenn ich sage, dass Vostells Reputation an der Harmlosigkeit sowohl seiner Freunde wie seiner Feinde leidet.

Haben ihn die Nachgeborenen inzwischen wenigstens aus der höhnischen, neidischen Stigmatisierung eines „Wolfs im Kunstpelzchen“ (wegen seines Rubensformats) befreien können oder wollen? Die Museen präsentieren ihn z.B. immernoch weit hinter Rauschenberg, dem sich Vostell am nächsten wähnte. „Happening“ als sein ganz eigenes Arbeitskonzept überlässt man ihm gnädig, wertet es aber ganz radikal gegenüber „Fluxus“ ab, weil das besser klingt. Und Vostells grandioses Epochenlogo Tartaruga ist weitgehend unbekannt geblieben. Dabei bietet die auf dem Rücken liegende Dampflokomotive in voller Funktion, die ihr Fortbewegungsgestänge ohnmächtig in die Leere hineinwirken lässt wie die Extremitäten einer auf dem Rückenpanzer liegenden Schildkröte, ein beeindruckendes, weil Mitleid erregendes Bild der Vergeblichkeit.

Vostells Anleitungen zum happenistischen Ereignis sind an gedanklicher Kraft und Bildmacht dem Fluxusflohmarkt in Museumshops ebenso überlegen wie die von Joseph Beuys. Fluxus bot bestenfalls Spielzeug für die Mütter der im Sandkasten modelnden Kindchen: Statt Sand nun Eiweißschaum fürs Nachtischchen der marktgesättigten Künstler.

Vostell und Beuys wirkten im Künstlergetue wie Einbrecher im Geschenkladen. Beuys' Mann mit dem Goldhaupt über totem Hasen im Arm nimmt es sogar spielend mit dem populärsten Rembrandt, dem Mann mit Goldhelm auf – und populär heißt da nicht einfach „billig“, sondern redundant bis zum Vergessen. Vostells Mann mit goldener Gasmaske beim Rohfleischspicken hat sich ebensowenig ins Gedächtnis seiner Zeitgenossen eingeprägt wie Mann mit Gasmaske am Kreuz in Golgatha von Grosz!

Vostells Denkmal für den ruhenden Verkehr ist erheblich intelligenter konzipiert als Warhols Carcrashs und lange vor Virillios Rasendem Stillstand realisiert, mit dessen Zitat heute jeder Feuilletonist seine Zeitgeistigkeit zu beweisen glaubt. Vostell bleibt weitgehend ein Gerücht, eine gespenstische Erscheinung im Dunstkreis seiner zu Weltstars erkorenen Kollegen. Er konnte nicht logofiziert werden in der Einheit von Einzigartigkeit und Popularität: zu intelligent fürs Feuilleton (mit Ausnahme von Günther Rühle), zu ausgefallen für das Kunsthopping eines gedankenarmen Publikums! Und seinen Sammlern bereitet er mehr Mühe der Konservierung als Freude durch Wertsteigerung. Aber seine Zeit wird kommen, wenn erst unser gesamtes Gesellschaftskonstrukt des sozialen Marktes so auf dem Rücken liegen wird wie seine Tartaruga.