Vortrag / Rede Kunst und Krieg

Goethe-Plattform „Kunst und Krieg“

Termin
29.11.2004

Veranstaltungsort
Tel Aviv, Isreal

Niemals aufgeben heißt, sich nicht als Opfer zu verstehen.

Votum

Vielleicht ist es für einen Deutschen im heutigen Palästina am besten, von sich selbst zu sprechen, soweit er sich durch die heutige Situation an das Schicksal von 12 Millionen deutschen Flüchtlingen zwischen 1945 und 1955 erinnert fühlt. Ich war einer dieser 12 Millionen. Mit 8 3/4 Jahren nahm ich als Kinderkrieger in den Ruinen von Danzig, Zopot, Oliva, Gothenhafen und Hela an der Endphase des Krieges teil. Anschließend verbrachte ich Wochen in Lazaretten und 30 Monate in Flüchtlingslagern. Ich verlor meinen Vater und die Heimat mit Haus und Hof und allem Besitz der Familie; im Lager verhungerten meine zwei jüngeren Geschwister und ein kleiner Cousin – wie alle Kinder unter 4 Jahren in dänischen Flüchtlingslagern 1945/46. Meine Mutter behielt bis an das Ende ihres Lebens gravierende Gesundheitsschäden aus dieser Zeit. Ein Teil der Familie wurde in die Einöde der Wilstermarsch in Holstein verschlagen, wohin wir aus den Lagern entlassen wurden; dort mußten die Flüchtlinge häufig als unerwünschte Nahrungskonkurrenten in kümmerlichsten Umständen leben: 14 qm für 8 Menschen ohne Wasserversorgung und Toiletten mußte man hinnehmen und war noch froh, endlich ein sicheres Dach über dem Kopf zu haben. Die Situation im zerstörten Deutschland schien so aussichtslos, daß britische und amerikanische Gutachter zu dem Schluß kamen, es würde, wenn überhaupt, mindestens 50 Jahre dauern, bis Deutschland als normaler Lebensraum aufgebaut werden könnte. An das Wiedererreichen des einstigen kulturellen und zivilisatorischen Niveaus vermochte kaum jemand zu glauben, vor allem deswegen nicht, weil die aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien vertriebenen 12 Millionen Flüchtlinge und die millionen Bombengeschädigten in den Städten wie Dresden oder Hamburg, Berlin oder Köln, Nürnberg oder Wuppertal und vielen anderen beherbergt und versorgt werden mußten, wofür es nicht die geringsten Voraussetzungen gab.

Durch die beginnende Konfrontation der Sieger des Westens mit den Siegern des Ostens verstanden die Besatzungsmächte schnell, daß sie die in der Welt noch nie da gewesene Zahl der Flüchtlinge und Kriegsopfer nicht weiter in Lagern festhalten konnten, um sie einerseits für die Kriegsverbrechen und die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten über Jahrzehnte zu bestrafen, wie es der amerikanische Morgentau-Plan vorsah. Auch verstanden die Besatzungskräfte, daß so große Zahlen von Flüchtlingen in Lagern eine Gefahr werden konnten, wenn die Eingesperrten dagegen rebellieren würden, als Faktor der politischen Erpressung mißbraucht zu werden. Deshalb durften die Flüchtlinge sich bald wieder in den vier Besatzungszonen, wenn auch unter extremen Bedingungen, bewegen; und die Flüchtlinge verstanden, daß sie sich möglichst bald in die Mehrheitsgesellschaften integrieren mußten, um ihre Würde und Handlungsfreiheit wiederzugewinnen.

Obwohl es immer wieder Versuche gab, die Flüchtlinge politisch zu organisieren, gelang es den Funktionären der „Flüchtlingsverbände, der Heimatvertriebenen, Kriegsopfer und Entrechteten“ nicht, die Integration zu verhindern, um mit den Flüchtlingen als Kampf- und Gewaltpotential den friedlichen Wiederaufbau zu sabotieren.
Natürlich gab es die Programme, die Folgen des Krieges nicht anzuerkennen und die Rückeroberung der von Deutschland abgetrennten Gebiete (mehr als ein Viertel seiner Gesamtfläche) zu verfolgen. Die Flüchtlinge ahnten, daß mit ihnen schändliche Politik betrieben werden sollte, die die schlimmen Folgen des Krieges nur noch vergrößert hätten. Die sich integrierenden Flüchtlinge wurden als Verzichtpolitiker, als Verräter am Deutschtum, als Friedensverbrecher auf eine Stufe mit den in Nürnberg wie in ganz Deutschland abgeurteilten Kriegsverbrechern, Nazifunktionären, Parteidenunzianten gestellt. Aber nach 1955 (Adenauers erster Vertrag mit Rußland und der Entscheidung für die Integration der Bundesrepublik in das westliche Europa) akzeptierte die große Mehrheit der Flüchtlinge eine kleine Entschädigung als Kompensation für die verlorenen väterlichen Ernährer, Heimatfluren und Besitztümer. Unter Willy Brandts neuer Ostpolitik wurde der Verzicht auf die abgetrennten Gebiete auch offiziell von den Regierungen vertreten. Polen, Tschechen, Russen kamen wie vorher schon Frankreich, Belgien, Dänemark zur friedensdienlichen Überzeugung, daß Deutschland mit seinen beiden Staaten nicht mehr die Absicht der Rückeroberung jener Gebiete verfolgen würde, die nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg verloren gegangen waren. Durch diese Anerkennung der historischen Fakten durch die Deutschen verloren die ehemaligen Kriegsgegner in Ost und West die Angst vor deutschen Revanchisten; ohne ein gemeinsames Feindbild lösten sich die Ostblockstaaten voneinander, und stimmten mit den Westmächten der Wiedervereinigung zu. Heute ist das seit 50 Jahren angestrebte Ziel erreicht, daß alle Flüchtlinge, soweit sie noch leben, und deren Nachkommen in die ehemalige Heimat zurückkehren können. Eine Rückkehr, die mit der ständigen Forderung nach Rückgabe oder gar Rückeroberung niemals erreicht worden wäre. Wer diese Chance nicht nutzen will, und nach wie vor privat auf Rückgabe seiner ehemaligen Besitzungen besteht, kann das wie in allen privatrechtlichen Fällen auf dem Gerichtswege zu erreichen versuchen. Aber der Tenor der Urteile lautet: „Da sich der Weg des Verzichts auf Revanche und Wiedereroberung tatsächlich als einziger Weg der Rückkehr in die Heimat erwiesen hat, muß man auf anderem Wege im Sinne des Gemeinwohls und des Friedens verzichten. Es ist solchen Flüchtlingen zuzumuten, auf die Rückgabe ihres Besitzes im Namen des Friedens zu verzichten, zumal sie wie alle anderen Flüchtlinge bereits eine, wenn auch nur kleine Entschädigung, in den 60er Jahren erhalten haben. Auch die Enteignungen zwischen 1945 und 1948 müssen von den Betroffenen akzeptiert werden“ - so urteilte das höchste Gericht. Von diesen harten aber unumgänglichen Konsequenzen sind nur jüdische Wiedergutmachungsanträge ausgenommen, weil sie nicht kriegsbedingt waren.

Was war das Geheimnis der erfolgreichen Integration? Wir alle hatten im Lager erfahren, daß diejenigen, die sich als Opfer sahen, und sich entwürdigt fühlten durch die erlittenen Verluste, durch das Leiden und die Erfahrung der Ohnmacht angesichts von Vergewaltigung, Verstümmelung und Todschlag immer mehr an Lebenskraft verloren. Sie gaben sich auf. Wer überleben wollte, mußte seine Passivität als Opfer überwinden. Das Selbstwertgefühl stieg, weil man für die Integration im Wettbewerb untereinander und mit den Einheimischen stets besser sein mußte, mehr leisten mußte als die anderen. Je mehr man sich also integrierte, desto größer wurde das Selbstbewußtsein durch den erbrachten Beweis, daß man tatsächlich besser gewesen war. Noch heute höre ich Stimmen einiger Lehrer, die uns immer wieder bei den vielen Rückschlägen sagten, solange man nicht sich zum Opfer degradieren läßt, ist noch nichts verloren, vor allem nicht die Würde und auf der bestanden wir; zum einen weil wir im Osten alle mit Zentralheizung und Wasserklosett im Hause aufgewachsen waren, aber in der Wilstamarsch auf primitive Infrastruktur stießen. Zum anderen wurde die Würde aus der Verpflichtung begründet, uns der gefallenen, ermordeten und verurteilten Väter und dem tragischen Schicksal gegenüber würdig zu erweisen durch besondere Feiern des kulturellen Selbstverständnisses wie alle christlichen Feste, alle nationalen Feste und alle kulturellen. Diese kulturellen Feste wurden vornehmlich durch die Rundfunksendungen in Deutschland ermöglicht, deren wenige Sender millionen Menschen das gleichzeitige Erlebnis von Festspielen, Theaterpremieren, Hörspielen, Drameninszenierungen, Fußball- und Sportübertragungen und der Vorlesungen und Essayistik von Professoren aller Fakultäten ermöglichte. Man konnte sich mit so gut wie jeden Mitschüler oder Nachbarn über die Sendungen unterhalten. Nichts förderte den Willen zur Gemeinschaftlichkeit so stark wie diese Diskussionen über Volkshochschulvorträge, über Theateraufführungen noch in der kleinsten Stadt, über Konzerte und Kulturfilmbesuche in den damals sogenannten Lichtspielhäusern. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg durch Integration ging dann aber das Interesse an dieser gemeinschaftsstiftenden Kraft der Kultur verloren. Auch mußten wir durch den Unterricht in den höheren Schulen erkennen, daß es sehr darauf ankam, in welchem Sinne man kulturelle Gemeinschaft aufbaute und nutzte. So versuchten die Flüchtlingsfunktionäre die Kulturen der Ostpreußen, Pommern und Schlesier gegen die der Polen, Tschechen und Russen auszuspielen, was darauf hinauslief, daß die Behauptung der eigenen kulturellen Identität zu einer politischen Kraft gemacht werden sollte. Gegen diese Gefahr der Politisierung von kultureller Identität zur Behauptung von Suprematie wendeten sich viele junge Flüchtlinge, indem sie ihre Berufe in Bereichen der Wissenschaften und Künste wählten. Dort lernten sie, daß Wissenschaften und Künste nicht kulturell legitimiert werden können. Religiöse und kulturelle Überzeugungen sind für den Physiker oder Chemiker als Wissenschaftler unerheblich. Wissenschaft ist universell, es gibt keine spezifische englische, israelische, chinesische oder mexikanische Chemie, soweit mit diesen Namen Kulturgemeinschaften angesprochen sind. Seit dem 18. Jahrhundert – und das kennzeichnet die westliche Entwicklung als Aufklärung – ist jedes Individuum genötigt, zwischen seiner kulturell-religiösen Prägung einerseits und seiner Verpflichtung auf Rationalität, Verantwortung und Begründungszwang des Handelns andererseits einen Ausgleich zu erreichen. Auf der staatlichen Ebene muß sogar jeder, der sich für modern hält, die strikte Trennung von Kultur und Religion zum einen und den staatlichen Gewalten zum anderen hinnehmen. Niemand kann mit Hinweis auf seine Kultur- und Religionszugehörigkeit staatliche Institutionen nötigen, sein Malen und Forschen als Kunst oder Wissenschaft anzuerkennen. Wo das versucht wird, präsentiert man lachhaften Kitsch und peinlichen Dogmatismus. (Aus diesem Grunde haben meine Freunde, Bekannten und ich niemals in Galerien oder Museen für ostpreußische oder pommersche oder schlesische Heimatkunst ausgestellt – das taten nur unprofessionelle Hobbykünstler.) Unsere wichtigste Erfahrung bei der Integration als Flüchtlinge: Wer versucht, seine kulturelle Identität gegen andere zu behaupten, verliert die Fähigkeit zur Integration, schlimmer noch, er wird in nicht mehr enden wollende kulturelle Konflikte verstrickt und wird am Ende Opfer der Kulturkämpfe, die er mit seiner Insistenz auf kultureller Identität selbst herbeigeführt hat. Die Abkopplung von kultureller und religiöser Legitimation in wissenschaftlichen und kulturellen Berufen ist der einzige Weg, sich als zivilisierter Mensch herauszubilden. Nur für diese Zivilisierten besteht die Erpressung durch die Kulturkämpfer nicht. Wer sich auf diese Weise zivilisiert verhält, gerät weniger in Gefahr, Opfer seines eigenen Anspruchs auf kulturelle Durchsetzung oder gar auf Suprematie zu werden. Deswegen haben wir nie in den zurückliegenden 50 Jahren in der Bundesrepublik jemals hören müssen, wir seien als Wissenschaftler und Künstler schließlich Flüchtlinge aus dem Osten. Es hat nie eine Rolle gespielt, aus welchem kulturellen Umfeld jemand von uns stammte, obwohl in den letzten 20 Jahren der pathetische Multikulturalismus versuchte, jedermann auf die offensive Durchsetzung seiner kulturellen Identität zu verpflichten. Dieser Erpressung haben sich, soweit ich weiß, die Flüchtlinge aus dem deutschen Osten besonders erfolgreich widersetzt. Aber wenn uns die Multikulti-Unternehmer aus Wirtschaft, Politik und Medien in ihr reaktionäres Schema zwingen wollen, so können wir sie mit einem wahrhaften Anspruch auf Überlebenheit konfrontieren: Die Ostpreußen, Pommern und Schlesier sind nach der Wiedervereinigung die wirklichen Stifter des Friedens durch Verzicht, eine Tugend des politischen und sozialen Handelns, ohne die die brutalen Religions- und Kulturkriege nicht zu beenden sind. Dafür hat Europa blutige Erfahrungen im 16. und 17. Jahrhundert gemacht. Nach dem 30jährigen Krieg waren 2/3 der Deutschen und Deutschlands verwüstet und verloren, bestialisch abgeschlachtet oder in den Irrsinn getrieben. Diese Erfahrung mit Religions- und Kulturkriegen hat Europa geprägt. Wer das leichtfertig oder aus mangelnder historischer Kenntnis nicht berücksichtigt, sabotiert die Weltzivilisation; wo aber die Menschheit nichts gilt, gilt auch der Mensch nichts. Zivilisiert zu sein bedeutet, als einzelner, erst recht als Flüchtling die Menschheit zu repräsentieren, weil die Zugehörigkeit zu bloß einer Kultur oder Religion geradeswegs Menschen zu Opfern werden läßt, die sich selbst marginalisieren. Da hilft auch kein Wettbewerb um einen hohen Rang in der Opfer-Hierarchie. Das können millionen deutscher Flüchtlinge, Heimatvertriebener, Entrechteter und Kriegskrüppel bekunden.

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