Vortrag / Rede Ökonomie der Kunst

Kunstprojekte und Unternehmen

Projekt vom Kulturverein Riesa Efau Dresden, Symposium vom 07.11.-09.11.2003

Termin
07.11.2003

Veranstalter
Kulturverein Riesa Efau Dresden

Was man nicht verstehen kann, das muß man verehren

– Wirtschaft als Kult –

Worum geht es nachfolgend? Von der Pop-Art der sechziger Jahre bis zum Markenfetischismus heutiger Grundschüler entwickelte sich ein bemerkenswerter Umgang mit Konsumgütern und anderen Produkten der Wirtschaft. Ihn kennzeichnet generell, daß die Produkte umso mehr Aufmerksamkeit gewannen, als sich die Wirtschaftsprozesse aller Fesseln politischer, sozialer und kultureller Bindungen entledigten, d.h. die Prozesse offensichtlich jeder Regelung spotteten. Der sogenannte „entfesselte Turbokapitalismus“ führte zu einem exzessiven Umgang mit Gütern, ein Umgang, der merkwürdige Ähnlichkeit mit anderen Kulten hatte. Die sozialpsychologische Hypothese lautet: Kulte entstehen, sobald Menschen angstmachenden Ungewißheiten ausgesetzt werden. Das ist vor allem im Bereich der Wirtschaft gegenwärtig der Fall, nachdem ähnliche Entwicklungen bereits in der Politik, im Sozialen und im Militärischen abliefen. Regierungsmitglieder beschwören das große unbekannte Wesen, die Konjunktur. So der Kanzler Schröder, der alle Bürger wissen läßt, daß es wieder aufwärts gehen werde, sobald die Konjunktur der Weltwirtschaft wieder anziehe. Aber offensichtlich regt sich die Konjunktur nicht – ebenso wenig wie sich in früheren Zeiten die Geister, Götter oder das Schicksal regten, wenn sie mit Beten und Bitten von Menschen traktiert wurden. Dann wurden die Opfergaben kostbarer oder umfangreicher, die Tempel unübersehbarer, die Rituale prächtiger, die Priester geistreicher und die Bevölkerung gläubiger.

Heißt das, wir hätten jetzt die Aufgabe, über Markenfetischismus, Konsumrausch und Börsenspiel hinaus einen Kult der Ökonomie zu entwickeln, zum Beispiel als Feier der Ressourcenknappheit von Trinkwasser, Atemluft und fossilen Brennstoffen? Jedenfalls deuten sich in vielen Kooperationen von Wirtschaft und Künsten solche Tendenzen an, in denen einerseits zwar noch dem Big Spender Ökonomie gedankt wird wie einst für die Gaben der Natur; aber andererseits die Wirtschaft eher beschworen wird wie einst der lebensspendende Regen.

Das ist die Situation: Kultur, Kunst und Wissenschaften fungieren als Regenzauberer der Wirtschaft mit der Börse als Kirche des Kapitalismus, den Politikern als Priestern, den Kunden als Glaubenskriegern, Massenmedien als Götterboten und „Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen“ als frohe Botschaft.

Zwei ambitionierte Ausstellungen haben sich im zurückliegenden Jahr mit den Beziehungen von Künsten zu Wirtschaft beschäftigt; in der ersten Hälfte 2002 zeigte Zdenek Felix in den Hamburger Deichtorhallen in Zusammenarbeit mit Siemens Arts Program „Art@conomy“, für die zahlreiche junge KünstlerInnen der internationalen Szene Wirtschaftsprozesse thematisierten. Ende 2002 präsentierten Schirn Kunsthalle Frankfurt und Tate Liverpool „Shopping“ unter Betonung der sechziger Jahre, als der im Osten blühende sozialistische Realismus im Westen durch allgemeine Demonstrationen für den kapitalistischen Realismus herausgefordert wurde. Für Gelsenwasser demonstriert Partenheimer gegenwärtig eine dritte Form der Vermittlung von Kunst und Wirtschaft, auf die nachfolgend eingegangen wird.


Wie wir lernten, die Bombe zu lieben

Als Schuljungen wurden wir erschaudernd von der Feststellung Napoleons überwältigt, die Politik sei unser Schicksal. Wir erschauderten, weil uns zum ersten Mal der Gedanke zugemutet wurde, daß nicht der Schöpfer oder die Entwicklungsgesetze seiner Schöpfung oder der Evolution für den Lauf der Welt verantwortlich seien, sondern Politiker, denn die, so mußten wir schlußfolgern, machen ja die Politik. Würde demnach, so fragten wir den verehrten Studienrat Gieselmann, nun an die Stelle der kultischen Verehrung von Gott oder Göttern oder der Natur die Verehrung der Politiker treten? Hatte man, so fragten wir weiter, deshalb Napoleon kultisch verehrt, weil er eben Politik schicksalhaft werden ließ? Gieselmann strahlte, denn offensichtlich hatten wir verstanden, worauf er hinaus wollte. Und so erzählte er uns von der Selbstkrönung Napoleons in Notre Dame zu Paris, zeigte uns das Gemälde des historischen Ereignisses von David und spielte uns vor, wie Beethoven die Widmung seiner Eroica wütend zerriß, weil der revolutionäre Befreier der Menschheit vom Joch fürstlicher Willkür sich mit der Kaiserkrönung in eben einen solchen Fürsten verwandelt hatte.

Also: auch Beethoven hatte den Politiker Napoleon verehrt, solange er für die Ideale der Französischen Revolution einzustehen schien. Aber schicksalhafte Wirkung zeitigte der Politiker Napoleon ja nicht nur solange, wie er die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit als Handlungsmaxime gelten ließ; schicksalhaft wurde auch sein Versuch, die Völker Europas diesen Idealen in Gestalt des Code Napoléon mit Gewalt zu unterwerfen. Gute Absichten führten also zu grauenvollen Resultaten. Warum sollte man also Napoleon als schicksalsmächtige Kraft wie zuvor die Götter oder Gott oder die Natur verehren, wenn Napoleon wie alle anderen schicksalbestimmenden Politiker die von ihnen ausgehende Wirkung gar nicht kontrollieren konnten – also gute Absichten auch zu einem guten Ende zu führen vermögen.

Hieß die Politik schicksalhaft, weil sie von niemandem nach irgendeinem Willen steuerbar ist? Hatte Napoleon womöglich in instinktiver Vorwegnahme seines Wirkens auf Erden sagen wollen, die Politik sei unser Schicksal, weil sie eben nicht von Menschen programmgemäß beherrschbar und ausgestaltbar sei? Wann, lieber Herr Gieselmann, hatte er den Satz gesagt? Aha! Wen oder was verehren wir also, wenn wir wie früher die Götter oder den Gott oder die Natur nunmehr die Politik und ihre Gestaltungskräfte als schicksalhaft verehren?

Gieselmann war am Ziel seiner pädagogischen Bemühungen zum Thema gesellschaftliche Kulte. Ich erhob mich feierlich, denn jetzt ergriff mich die Erhabenheit eines Gedankens, den ich zuvor nie hatte fassen können: im Zentrum jeder kultischen Verehrung, also auch der von mächtigsten Gestaltern der Politik als unserem Schicksal, steht zunächst die angstbereitende Erkenntnis unserer Ohnmacht und Abhängigkeit. Wir versuchen deshalb im Kult, die Götter gnädig zu stimmen durch Opfergaben, von Gott die Vergebung unserer Schuld zu erbitten und die weltlichen Herren um Fürsorge anzugehen, damit wir sie weiterhin dankbar verehren können.

Aber – und nun trat ich aus der Bank vor die Klasse und wandte mich allen zu – dieser Sinn von kultischen Praktiken wird weit übertroffen von einem umfassenderen; wenn nicht einmal ein Napoleon die Politik nach seinem Willen lenken könne, wenn die Evolution von zufälligen Mutationen abhängig sei und wenn Gott eine Projektion kindlicher Vatererfahrung darstelle, dann beruhige man in den Kulten vor allem die angstmachende Einsicht in den schicksalhaften Selbstlauf der Welt ohne jede Steuerung auf ein Ziel, ohne einklagbare Verantwortung und ohne Möglichkeit der Absicherung gegen die Zukunft.

Was bedeutete dann der Protest des Kulturheroen Beethoven? Es war der Protest gegen eben dieses blinde Walten des Schicksals; gegen den Verzicht auf die revolutionären Ziele, endlich durch Politik der Gleichgültigkeit aller Weltverhältnisse zu entgehen; gegen die prekäre Bereitschaft vieler Menschen, sich zum Spielball des Zufalls machen zu lassen. Besagte Kulte der Verehrung seien deshalb auch immer Formen der Selbstvergewisserung von Menschen, Geschichte als Sinnstiftung im Sinnlosen zu verstehen und Politik als Versuch zu werten, die Dynamiken des Wandels in wünschbare Richtung zu lenken sowie die menschliche Würde in Furcht und Zittern, also ohne den Trost der Gewißheiten Gott, Kaiser und Vaterland, zu wahren, in kosmischer Eiseskälte und seelischer Trostlosigkeit.

Im Bewußtsein dieser Tatsachen verstand Gieselmann seinen Unterricht als Initiationsfeier, mit der er uns zu Zeitgenossen machen wollte. Und so schickte er uns ins historische Paris, zu den Existentialisten, in die Aufführungen von Jonesco, Beckett, Tardieu, Sartre, las uns Valery vor, Celine und den Zauberbergdialog zwischen Naphta und Septembrini, führte uns bei Hans Hartung ein und bei Soulage, kurz wir bewährten uns in der Kunst, in der Kultur und in der sozialen Passion. Nur zwei Felder des Lebensraums, in dem sich alle Menschen der modern times bewegen müssen, blieben merkwürdigerweise ausgespart: die Zukunft des Krieges und die Zukunft der Wirtschaft. Aber es schien ja auch kaum Anlässe zu geben, sich auf diese Sphären einzulassen; das militärische Feld wurde durch das Gleichgewicht des atomaren Schreckens definiert und schien in der Unüberbietbarkeit des Schreckens auch stabil zu sein; und in der Wirtschaft meinte man mit wunderbarer Klarheit dem rationalen Kalkül der Egoismen folgen zu können. Auch das schien auf ewig gesichert, wenn man nur böse politische oder sonstwie ideologische Einwirkungen auf die Wirtschaft verhindere und die Natur des Menschen sich frei entfalten könne in reinen Egoismen, denen wir schlußendlich auch noch alle Formen des Altruismus verdanken.

Mit den Resultaten der Vietnam- und Afghanistankriege, mit der Aufhebung des stabilen Gleichgewichts des Schreckens durch Selbstauflösung der UdSSR und den unvorstellbaren Wirkungen neuer ABC-Waffensysteme entzog sich auch das Miltärische wieder allen Hege- und Steuerungsversuchen. Es entstanden neue Kulte der Reintegration des Militärischen ins religiöse und kulturelle Selbstverständnis auf allen Kontinenten. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt der Terrorismus dar, der per Definition auf die kultische Überformung der Unberechenbarkeit, Unkontrollierbarkeit und Allgegenwart von Gewalt setzt, also auf alle Parameter, die in der kultischen Feier von Modernität zur Geltung kommen. Gegen diese allgegenwärtigen, unberechenbaren und unkontrollierbaren Kräfte glaubt man sich mit dem Führen guter alter Kriege und mit ideologischen Offensiven wie auch durch den gleichzeitigen Protest gegen diese Vorgehensweisen zur Wehr setzen zu können. Beides sind Beschwörungen ungewisser Handlungsfolgen und damit einer Zukunft, auf die man sich weder durch Hoffnungsbilder noch Katastrophenszenarios vorbereiten kann.

Wie der Kampf gegen den Terrorismus auch immer ausgehen wird, klar ist jedermann, daß wir neue Strategien brauchen, mit der neuen Gewalt von Terrorwaffen umzugehen; also mit der bisher für undenkbar gehaltenen Tatsache, daß jede bessere Mafiagruppe ABC-Waffen produzieren und sich ihrer bedienen kann. Der pathetische Kampf gegen den Terrorismus ist ein Anzeichen zur Entwicklung neuer sozialer Kulte, in denen sich alle Beteiligten ihrer Würde vergewissern wollen, mehr zu sein als ein Haufen Vabanquespieler, Krimineller oder Wahnsinniger.

Wir haben immerhin als moderne Desillusionskünstler, Nihilisten und Dennoch-Pathetiker, als Kunstkultstifter und Therapeuten des Verzweiflungsregimes und als priesterliche Beschwörer der Freund-Feind-Schemata einiges hinter uns. Wir haben die Kränkungen hinter uns, nicht der Mittelpunkt der Welt zu sein, nur als ein Glied der Evolution unter vielen anderen zu gelten, bei allen geistigen Ansprüchen doch von recht niederen Antrieben beherrscht zu werden und viele andere Kränkungen mehr. Ob diese Erfahrungen ausreichen, mit einer weiteren sich gerade abzeichnenden Kränkung fertig zu werden, darf bezweifelt werden. Denn weltweit gilt, die Wirtschaft ist unser Schicksal. Globalisierung ist der Name, unter dem die Durchsetzung von Wirtschaft als Schicksal, von Weltwirtschaft als Weltschicksal beraunt wird. Dieses Raunen und Staunen verweist auf die Frage, welche Kulte wohl in der Lage wären, uns über die Willkür konjunktureller Auf- und Abschwünge, das Vabanquespiel der Börsen und die Verwandlung aller Werte in Schlußverkaufs-Preise zu trösten. Werden wir unsere Würde gegen diese Entwicklung erneut mit der kontrafaktischen Behauptung sozialistischer oder faschistischer Alternativen zu wahren versuchen?

Vom Marxismus zum Ende der Geschichte

Wieviele Lehrer fühlten sich am Ziel ihrer pädagogischen Anstrengungen, sobald ihre Schüler im Brustton unerschütterlicher Gewißheiten Karl Marx huldigten, der verkündigt habe, die Wirtschaft sei unser Schicksal. Vom „Weltgeist zu Pferde“ mit dem
Code Napoléon unterm Arm war man beim Weltgeist zu Stuhle gelandet mit seinem Code economique „Das Kapital“. Es galt: die harten Tatsachen der Wirtschaft bilden das Fundament aller menschlichen Verhältnisse; erst auf dieser Basis lasse sich der Überbau der kulturellen Phänomene errichten, wie man symbolische Repräsentationen für reale historische Ereignisse errichte, z.B. als Triumphbögen.

Marx und seine Stellvertreter auf Erden (Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot) priesen den Sozialismus/Kommunismus als Sinngebung und Gestaltungsformen sozialer Verhältnisse, damit die Menschheit nicht länger von der blinden Gewalt des Kapitals und seiner wirtschaftlichen Manifestationen zum Vabanquespieler, zum Kriminellen oder zum Machtwahnsinnigen deformiert würde. Und viele Beethoven-Nachfolger widmeten den Stellvertretern für den Versuch, die Würde der Menschheit im Kampf gegen die Gesetze der natürlichen Raubtierökonomie zu wahren, immer erneut Hymnen, die sie dann enttäuscht oder wütend (wie Beethoven) zerrissen, als Personenkult, Gulag, Gehirnwäsche und weit schlimmere totalitäre Praktiken sowie vor allem der wirtschaftliche Bankrott der sozialistischen Staaten nicht mehr geleugnet werden konnten.

Überbaupriester wie Francis Fukujama behaupteten, mit dem Ende des Sozialismus/Kommunismus sei auch das Ende der historischen Experimente gekommen, das Menschheitsschicksal der blinden Naturevolution zu entreißen. Jetzt gelte nur noch der Selbstlauf des westlichen Systems in der Macht des Kapitals und der Herrlichkeit einer einzigen globalen Weltzivilisation. Das mußte gefeiert werden, und so entfalteten sich in den neunziger Jahren orgiastische Kulte der Beschwörung eines Selbstlaufs des sieghaften Kapitalismus ohne jegliche moralischen Fesseln, gesetzliche Beschränkungen oder sonstige Begrenzungen der Möglichkeiten.

Die beteiligten consultants, Konzernschmiede, Fusionierer, Analysten, Kulturkapitalisierer, IT-Visionäre und Aktiengurus überspielten bei ungeheurem Mediengetöse die längst latenten Ängste vor drohender Ohnmacht und Abhängigkeit von dem schicksalhaften Selbstlauf der Wirtschaft mit bombastischen Allmachtsphantasien: die Wiedervereinigung Deutschlands wollten sie aus der Portokasse bezahlen; Firmen und Firmenkulturen sollten an die Stelle ganzer Volkswirtschaften und deren tausende Kulturen, Sprachen und Religionen treten; Parlamente und Regierungen würden zu nützlichen Wirtschaftslobbies umgeformt; und man glaubte, wie Gott nach der Schöpfung, in Dauerferien leben zu können, während allein das Kapital noch arbeite mit geisterhafter Macht ewiger Verwandlung von Dreck in Gold; eine inzwischen doch recht skeptisch gesehene Ausprägung von Voodoozauber oder Cargocult.

Von der Ökonomisierung der Kultur zur Kulturalisierung der Ökonomie

Bisher sträuben sich Regierungen, Banken und Versicherer anzuerkennen, daß niemand versteht, wie eine Volkswirtschaft, geschweige denn eine Weltwirtschaft zu steuern wäre (abgesehen davon, daß niemand weiß, wer mit Weltgeltung die Ziele solcher Steuerung festlegen könnte). Die Regierungen meinen, über Steuerungsinstrumente zu verfügen, z.B. nach der Empfehlung des J. M. Keynes, bei schwächelnder Konjunktur die Investitionen der öffentlichen Hände massiv zu erhöhen, damit die Wirtschaftstätigkeit stimuliert werde. Gegenwärtig erleben wir aber, daß diesem Vorgehen enge Grenzen gesetzt sind, die sich mit jeder Befolgung der Regel nur noch weiter verengen; denn die Verschuldungen von Staaten, Ländern und Städten sind so hoch, der Schuldendienst so gewaltig, daß an eine Neufinanzierung weiterer Investitionen gar nicht zu denken ist. Übrigens galt Keynes Empfehlung nur im Zusammenhang mit der Aufforderung, in Zeiten guter Konjunktur die Schulden der öffentlichen Haushalte strikt wieder abzubauen. Das hatte man nicht getan.

Und nun? Das blühende Japan seit einem Dutzend Jahren in Agonie, das blühende Deutschland ein verwüsteter Hinterhof der europäischen Gemeinschaft, die Zahl der Arbeitslosen auf Nachkriegsrekord. Was immer man unternimmt, scheint die Situation nur zu verschlechtern. Gestern galt die Wiedervereinigung Deutschlands als willkommener Wachstumsstimulus für die Wirtschaft, heute als Faß ohne Boden für Transferzahlungen der Steuerbürger. Einerseits wird die Erweiterung Europas als Erweiterung des Wirtschaftsraumes gepriesen mit -zig Millionen neuer Konsumenten warenhungriger Mangelgesellschaften; andererseits rechnet man mit enormer Ausweitung der Zahlungsverpflichtungen der Brüsseler Gemeinschaft für den Aufbau neuer Märkte. Man behauptete, neue Technologien entwickelten über die Börsen die Ökonomie der zukünftigen Informationsgesellschaft und stellte bei Absturz des Nemax lapidar fest, wie handelbare Güter in der Informationsgesellschaft aussähen, könne man bisher nicht einmal ahnen.

Die Vertreter der Wirtschaft fordern mit guten Gründen die weitere Entregelung des Wirtschaftslebens. Sobald dem nachgegeben wird, erweist sich die Aufhebung der Kontrollen als Aufforderung zu Bilanzfälschungen, zur Glücksspielerei, zu Korruption und Bandenbildung. Wirtschaftsprüfungsunternehmen machten gemeinsame Sache mit den zu prüfenden Unternehmen, worauf nicht etwa die Entregelung rückgängig gemacht wird, sondern mit ungeheuren Mehrkosten Kontrolleure der Kontrolleure beschäftigt werden, die neuestens als Bilanzpolizei in Erscheinung treten. Die Gewerkschaften fordern mit genau so guten Gründen das Gegenteil, nämlich mehr Regelung, allerdings bei weiterer Differenzierung der Regeln, bis die Ausnahmen von den Regeln die Regel werden.

Von den einen hört man, ein Krieg erhöhe die Absatzchancen der Wirtschaft enorm, Kapitalisten führten aus wirtschaftlichen Gründen Kriege; von den anderen hingegen wird gesagt, daß die Aussicht auf einen Krieg die Wirtschaft lähme. Die Börsenberichterstattung macht klar, daß häufig die einen die anderen sind; was die einen gewinnen, verlieren die anderen, weshalb man tunlichst zu beiden Gruppen gehören solle mit put and call, aber mit der schlußendlichen Feststellung, tu es oder laß es, du wirst beides bereuen. Seit Börsenberichte täglich in den Massenmedien, vor allem im Fernsehen, auch dem großen Publikum zugemutet werden, schwindet rapide die Bereitschaft der Bürger, den Unternehmern, Gewerkschaftlern, Wirtschaftspolitikern oder Wirtschaftswissenschaftlern auch nur über den Weg zu trauen.

Rationale Analyse scheint durch die täglichen Berichte über das komplette Versagen der großspurigen Analysten generell diskreditiert. Professorale Wirtschaftsweisheit wird seit Jahrzehnten jährlich mit Nobelpreisen ausgezeichnet, ohne daß dieses angebliche Wissen und Verstehen auch nur im geringsten die Möglichkeit zu erhöhen scheint, die Vorgänge an den Güter- und Geldmärkten auch nur besser vorherzusehen, geschweige denn zu steuern. In den höchsten Entscheideretagen, so hört Herr Jedermann, gehe es zu wie bei ihm zu Hause; da er sich niemals zutrauen würde, nach seinen Kenntnissen und Gemütslagen eine Firma zu führen, eine Bank zu managen oder Wirtschaftspolitik zu formulieren, kann er das auch denen nicht zutrauen, die wie er nach der allseits verkündeten Weisheit funktionieren, alles, vor allem die Börse sei reine Psychologie. Offensichtlich sind alle mit dieser Feststellung, Wirtschaft gehorche der Psychologie, komplett einverstanden, denn andere Erklärungen werden weder gegeben noch in Aussicht gestellt. Damit ist der Zugang zur Wirtschaft als unserem Schicksal zu einer Form der Theologie geworden, denn, siehe oben, seit langem haben wir zu akzeptieren gelernt, daß unsere Gott- und Göttervorstellungen psychologisch erklärbare Projektionen seien und die Psychologie der menschlichen Verehrung von Gott oder Göttern, von Geistern oder Naturkräften Theologie genannt werde. Nun haben wir es also mit einer Wirtschaftstheologie zu tun, wobei man großzügig und realistisch Spökenkiekerei, Budenzauber, Karneval und Kartenlegen, New-Age-Verklärung und Pendelmedizin als ökonomisch relevante Disziplinen der Theologie gelten lassen sollte.

Wie weit man mit diesen Praktiken kommen kann, beweisen unsere Vorgängerkulturen, z.B. die der Römer: Vogelflugdeutung und Eingeweideschau galten ihnen so seriös wie uns heute die Arbeit von Sicherheitsexperten im Weißen Haus oder die öffentliche Verkündigung der Wirtschaftsprognosen durch regierungsamtlich bestellte Wirtschaftsweise. Römische Infrastruktur (Straßenbau, Kanalisation, Verwaltung, Medizin, Technik und Künste) waren mindestens so hoch entwickelt wie im Durchschnitt der heutigen Ersten und Zweiten Welt, obwohl die Lateiner der Vielgötterei und der kuriosesten Ahnenverehrung huldigten. Epikureische Lebensfeier von Römern überstieg unsere Yuppie-Lustbarkeiten noch um einiges, und vor der Ergebenheit in den Weltlauf, den sich römische Stoiker abverlangten, wirkt N. Luhmanns Dienst an den autopoietischen Systemen wie freiwillige Selbstkontrolle, also als unerheblich.

In unserem Mittelalter war Reliquienverehrung einer der entscheidenden Faktoren für die Wirtschaftsentwicklung von Städten. Der Glaube an die heilsame Kraft von solchen Zeugnissen der Heilsgeschichte ließ sich mindestens so gut begründen wie unser Glaube an den Neuen Markt.

Seit dem 16. Jahrhundert ist, so behaupten einige Historiker und Soziologen, die für Europas Entwicklung typische Verknüpfung von Christentum und Ökonomie in zukunftsträchtiger Weise, nämlich als Entstehung des Kapitalismus, wirksam geworden. Die Calvinisten glaubten, daß wirtschaftlicher Erfolg im Erdendasein ein Hinweis auf den Umfang der göttlichen Gnade gewähre, der man im Jüngsten Gericht teilhaftig werde. Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entfaltung der christlich motivierten, aufs eigene Seelenheil erpichten Persönlichkeiten, den Unternehmern, steht die Entfaltung der künstlerischen Persönlichkeiten. Die Künstler wurden zum Exemplum gelungener Verwirklichung bürgerlicher Tugenden wie schöpferischer Kraft und geistiger Freiheit.

Spätestens seit Künstler vornehmlich für den anonymen Markt der Käufer produzierten, also seit Mitte des 17. Jahrhunderts, ist jeder Maler, Sculpteur oder Kupferstecher in gewissem Umfang auch Unternehmer geworden; und wirtschaftlicher Erfolg wurde zur Voraussetzung weiterer Künstlerarbeit sowie zum Indikator für gesellschaftliche Anerkennung eben als beispielhafte Verwirklichung bürgerlicher Individualität.

Ohne ökonomische Basis der Selbsterhaltung waren Selbständigkeit und Unabhängigkeit (z.B. von Adelsherren) nicht glaubhaft zu machen und faktisch zu behaupten. Insofern galt gerade die Ökonomisierung des Lebens in seinen kulturellen Ausdrucksformen als Hinweis darauf, daß es den Individuen gelungen war, bürgerliche Persönlichkeitsrechte und geistige Freiheit zu erwerben. Mit Ausnahme einer kurzen Periode romantischer Verklärung von Eremitendasein in Armut und der tränenseeligen Bewährung des Künstlers/Bürgers in Krankheit, Not und Kleinmut wurde in der Moderne mit zunehmender Verbindlichkeit die programmierte Säkularisierung als Trennung von Kirche und Staat im Einzelleben der bürgerlichen Akteure nicht nachvollzogen, aber als Ökonomisierung der persönlichen Glaubensüberzeugungen wirksam. Die theologische Dimension des Weltverständnisses wurde mit der bürgerlichen Aufklärung nicht aufgegeben. Ganz im Gegenteil, in der Entwicklungsgeschichte der Vereinigten Staaten, die 1776 per Verfassung die Säkularisierung durchsetzten, läßt sich die Ökonomisierung des Geisteslebens als Wirtschaftstheologie bis hin zu den heutigen protestantischen Wirtschaftsfundamentalisten verfolgen. Die Wirtschaftsfundamentalisten steuern die Ökonomisierung des spirituellen Lebens (wie umgekehrt die kultische Verehrung der Ökonomie, siehe unten) in eigenen Medienkanälen und mit Erweckungsfestivals von Woodstock-Ausmaß.

Der vielfach beschriebene Weg vom Metaphysischen und Moralischen zum Ökonomischen führte, so sah das schon Carl Schmitt, über das Ästhetische, das in jeder Hinsicht gelungene Arbeitsresultat oder Produkt als „Werk“ oder lateinisch Opus dei, als Gott wohlgefällige Preisung seiner Schöpfung durch ambitionierte Menschenwerke. Das Werkschaffen unter höchsten Ansprüchen an Vollkommenheit, Dauerhaftigkeit und Urheberrepräsentanz erhielt durch dessen ökonomische Verwertung zum einen den Werkschaffenden physisch und sozial; zum anderen wurde durch Ökonomisierung der geistigen Produktion mit der Durchsetzung von Urheberansprüchen die Ähnlichkeit von göttlichem Schöpfen und menschlichem Arbeiten genutzt, um Märkte als kommunikative Beziehungsgeflechte nach dem Beispiel der Glaubensgemeinschaften aufzubauen. Die Ästhetisierung galt diesen Zielen mit der Übertragung von künstlerischen Gestaltungsprinzipien auf die Waren, mit der Inszenierung der Waren in Schaufenstern und Galeriepassagen als museumsanalogen Schauräumen der Märkte und durch die Darstellung der neuen Ordnungssysteme, nach denen Güter/Werke aufbewahrt und aufgefunden werden konnten, nachdem sie bei ihrer Herstellung bereits solchen Ordnungssystemen als Unterscheidungskriterien von anderen unterworfen worden waren.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine neue Architektur der Ordnungssysteme erfunden, die der Kaufhäuser. In ihnen trainierten die Kunden durch Vergleichen, d.h. Unterscheiden der Waren, ihre Fähigkeit, das große Warenangebot mit einer großen Anzahl von Unterscheidungskriterien zu sortieren. Wer als Kunde nach solchen Unterscheidungskriterien seine Auswahl traf, bewies Geschmack, was seit der Aufklärung nichts anderes bedeutete, als unterscheidungsfähig zu sein. Für Hersteller und Käufer lautete eine entscheidende Frage, woher bezieht man mit welcher Verbindlichkeit die Unterscheidungsmerkmale der Produkte.

Lange Zeit glaubten die Unternehmer, diese Unterscheidungs- und Angebotskriterien ergeben sich allein aus dem Fortschritt der Produktionstechnologien. Weil man damit allzu häufig an der Nachfrage vorbei produzierte, entstand das Marketing als Ressource für Unterscheidungsmerkmale der Produkte. Dabei fand man schnell heraus, daß bei den Käufern/Nutzern Präferenzen unter konkurrierenden Angeboten hierarchisch strukturiert waren und daß diese Hierarchien umgebaut werden konnten, was für die Warenpropaganda von großem Interesse wurde. Einen Umbau solcher Präferenzhierarchien erlebte man im Gründerzeitboom nach 1871. Auf den von englischen und französischen Produkten beherrschten Märkten versuchte man, auch Produkte der bisher weit unterlegenen deutschen Industrie durchzusetzen. Zur Abwehr der deutschen Konkurrenz diskriminierten die Engländer mit dem jedem deutschen Produkt aufzupressenden „Made in Germany“ die vermeintlich rückständigen Waren. Als es aber gelang, in die oberen Ränge von Hierarchien die Unterscheidungskriterien wie Langlebigkeit, Funktionstüchtigkeit, Zuverlässigkeit und Solidität als Einfachheit einzuschleusen (Qualitätskriterien deutscher Waffen, die sich bei dem Sieg über Frankreich bewährt hatten!), fanden „Made in Germany“-Produkte große Beachtung, weil die deutschen Produkte auf diese Kriterien hin ausgelegt worden waren.

Aber die Einführung und Durchsetzung neuer Geschmackskriterien erwies sich als zu langwierig für die Produktionszyklen und als zu teuer, weil für die Warenpropaganda inzwischen erhebliche Kosten in Kauf genommen werden mußten, die sich nur wenige Unternehmen in wenigen Branchen leisten konnten (bei der Einführung der weißen Dame von Henkel für „Persil bleibt Persil“ wurden zum ersten Mal Reklamekosten als Produktionskosten aufgeführt).

Nachdem klar geworden war, daß der Rückgriff auf die Ressourcen von Handwerk- bzw. Manufakturtraditionen weder möglich noch überhaupt wünschenswert wäre, formierten sich die sogenannten angewandten Künste, die, wie der Name ausdrücken soll, Künste und Kulturen als Ressourcen für die Unterscheidungskriterien der Industrieproduktion erschließen wollten. Einen Typus solcher Anwendung repräsentierten die Formgeber und Gestalter, heute als Designer bezeichnet, die mit künstlerischen Mitteln kulturell wirksame Kriterien der Unterscheidung auf Industrieproduktionen anwandten, um deren Produktvielfalt, Formenreichtum, ästhetische Standards, Benutzerfreundlichkeit etc. zu erhöhen. Vereinigungen solcher Kunstanwender wie der Deutsche Werkbund, Ausbildungsinstitute solcher Formgeber von Industrieprodukten wie die Kunst- und Gewerbeschulen bereiteten den Weg für eine grundsätzliche Koppelung von Industrien und Kulturen über das künstlerische Können der Designer und das kulturelle Wissen der Käufer.

Die Käufer verstanden die Industrien als Bestandteil einer einheitlichen Zivilisierung der Welt, zu der sie kaum persönliche Beziehungen und Einstellungen entwicklen konnten. Umso wichtiger war den Käufern das Verständnis von Künsten als höchstem Ausdruck ihrer regionalen Kulturen oder der Kulturkreise, als deren Zugehörige sie sich von den Angehörigen anderer Kulturkreise unterscheiden wollten. Also erwarteten sie, daß auch Industrieprodukte durch Unterscheidungskriterien, die man regionalen Kulturen entnahm, als Produkte einer bestimmten Kultur erkennbar sein sollten. Diese Kulturalisierung der Wirtschaftsproduktion ging zunächst noch mit nationaler oder nationalistischer Unterscheidungsabsicht parallel. Man übertrug auf die Waren, die in den Ländern Frankreich, England, Deutschland, USA, Italien etc. hergestellt wurden, die zwar klischeehaften, aber umso deutlicher wiedererkennbaren Eigenschaften, mit denen man Franzosen, Engländer, Deutsche, Amerikaner, Italiener und ihre Kulturen glaubte unterscheiden zu können. Inzwischen gelang es mit diesen Unterscheidungsklischees, angeleitet von einer „poppigen“ Werbung, souveräner, d.h. ironisch distanziert, umzugehen. Das Spiel mit kulturellen Unterscheidungsmerkmalen über die Grenzen regionaler Kulturen hinaus wurde vor allem durch die Internationalisierung der Subkulturen der Musikwirtschaft, der Mode und der Medienunternehmer zu Strategien der Produktion ausgebaut, die mit den Etiketten cross-over, revival, retro belegt sind.

Schon seit Anfang der achtziger Jahre wurde für die Bundesrepublik immer wieder dargestellt, daß weit mehr als die Hälfte des deutschen Bruttosozialprodukts durch Distinktionsleistungen aus den Kulturbereichen erzielt wird. Diese aus den Kulturen generierten Unterscheidungskriterien leisten für Produktion und Absatz der Güter mehr als die Qualität des Rohstoffs, das technische know-how der Verarbeitung, die Vertragstreue der Firmen mit Lieferpünktlichkeit und den verschiedensten anderen Gewährleistungen.


Fazit

Die modernen Lebenswelten, für die Wirtschaft zum Schicksal wurde, entwickelten also nach einer durchgreifenden „Ökonomisierung des geistigen Lebens“ (C.S.) eine zweite ebenso tiefenwirksame Strategie mit der Erschließung der Kulturen als Distinktionsressourcen für die Warenproduktion. Mit der Ökonomisierung der Kultur sicherte sich das Bürgertum schließlich die Vorherrschaft über den Adel, der nicht bereit oder fähig war, sein kulturelles Selbstverständnis von der Herrschaft über eigenen Grund und Boden abzukoppeln, und dessen kulturelle Wirksamkeit auch mit der Enteignung beendet wurde. Heute ist die Ökonomisierung der Kultur allgemein akzeptiert. Selbst Kirchen erheben von Touristen Eintritt, Lords öffnen ihre Stammschlösser den Massenkaufkraftträgern klassenloser Gesellschaften; sich gut zu verkaufen, so Michael Müller, ist von der Hurennot zur Politikerfähigkeit aufgewertet worden; Kulturveranstaltungen werden von Kommunen mit dem Argument gefördert, sie seien umwegrentabel und ein entscheidender Faktor bei der Standortwahl der Wirtschaft.

Die Kulturalisierung der Ökonomie zeigte sich zunächst an den häufiger werdenden Begriffsverbindungen von Wirtschaft und Kultur als Unternehmenskultur, als Führungskultur, als Verhandlungskultur, als Eventkultur, Kultur der Konfliktschlichtung und dergleichen (siehe Listung durch E. Henscheid in Titanic). Mit den Ausstellungen und in den entsprechenden Katalogbüchern art@economy und shopping zeichnen Künstler, Kuratoren und Theoretiker entscheidende Positionen der Entwicklung nach, die hier als Kulturalisierung der Ökonomie angesprochen ist. Dazu gehören: die Verwandlung von Märkten in Kulturforen; die Durchsetzung von Konsumpflicht analog zur Schulpflicht, wie sie der amerikanische Präsident seinen Bürgern als Beitrag zur Verteidigung unserer kulturellen Werte gegen Terroristen abverlangte; die Selbstunternehmung und Selbstvermarktung von Zeitgenossen als Ich-AG nach dem Beispiel der Künstler, die ihren Namen als Marke etablieren; die unbestrittene Vorherrschaft des Kultur-Marketing, dem Norbert Bolz eine ausführliche Studie widmete; die Verwandlung von Wirtschaftswerten in Kulturwerte durch Kunstproduktion nach dem Muster, das Joseph Beuys mit seiner DDR-Wareninstallation „Wirtschaftswerte“ gab; die Orientierung von Firmenmitarbeitern auf Unternehmenskultur mit Propagierung einer kulturellen Identität, deren Anspruch von der Gestaltung des Briefpapiers bis zur Beschriftung von Arbeitskleidung, Lastwagenplanen und Werbeflächen reicht; das beachtliche Ausmaß an Kultursponsoring und anderen Formen der Kooperation von Industrie und Kulturinstitutionen.

Die in den besagten Ausstellungen und Katalogen untersuchten Beispiele dürfen als repräsentativ gelten, und das gilt auch für die absehbare Grenze solcher Kulturalisierung der Ökonomie. Sie liegt für die Wirtschaft in dem weltweiten Aufflammen von Kulturkämpfen, in denen Ansprüche auf Geltung unterschiedlicher kultureller Identitäten in Konflikt geraten, zumeist über kulturelle Faktoren wie Sprachgemeinschaft, Religionsgemeinschaft, Ethnie- oder sogar Rassenzugehörigkeit (erstaunlicherweise werden die einstmals für entscheidend gehaltenen Klassenkämpfe, Geschlechterkämpfe, Monopolistenkämpfe und nach Völkerrecht definierten Kriege zwischen Staaten kaum noch des Aufhebens wert gehalten). Am spannendsten aber bleibt die Frage, ob die Kulturalisierung der Ökonomie in den bisherigen Formen aufrecht erhalten bleiben wird, wenn sich mehr und mehr Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft verbreiten und eine zentrale Leistung der Kulturen, in religiösen Kulten mit der drohenden Ungewißheit von Zukünften umzugehen, doch nicht mehr aus den Yuppie-Versionen von Disco-Kirchen oder dem politischen Korrektheitsverschleiß verordneter Multikulturalität zu retten ist. Aber genau daran ist, so melden die besagten Ausstellungen, ernsthaft zu arbeiten. Durch die Herausforderung des Islam als einzigem Angebot, religiöses, wirtschafltiches, familiäres Leben in der Einheit des Glaubens zu führen, wird auch für die entfalteten Industriegesellschaften des Westens nach einer Möglichkeit gesucht, nach dem historischen Beispiel des mittelalterlichen katholikos die Einheit des Lebens zu stiften.

Fruchtbringende Gesellschaft

Eine ausgezeichnete Form der Kulturalisierung von Ökonomie bietet Jürgen Partenheimer mit seiner Erschließung von „Gelsenwasser“. Dabei wendet er zunächst Verfahren an, die in der künstlerischen Arbeit geläufig sind; zum Beispiel die Umsetzung eines Dinges oder Objekts aus seinen angestammten Ordnungs- und Gebrauchszusammenhängen in neue, andere. Vom Kinderspiel bis zu den Dekontextualisierungen von Duchamp reichen die Beispiele für dieses Verfahren.

Kinder benutzen etwa einen Staubsauger zur Darstellung eines Drachens oder aneinander gereihte Stühle zur Repräsentation eines Eisenbahnzuges. Der Effekt ist eine Bedeutungsübertragung von einem in andere Gebrauchszusammenhänge. Bei den Duchampschen Präsentationen von Alltagsgegenständen in Museen soll erreicht werden, daß man Alltagsgegenstände ihrer Formgebung nach wie Skulpturen zu beurteilen lernt, also lernt, Form und Funktion vollständig voneinander zu unterscheiden.

Im Alltagsleben glauben wir, daß Formen sich aus den Funktionen ergeben, daß beispielsweise Tassen ihre mehr oder weniger einheitliche Form aus der Funktion erhalten, ein nicht allzu schweres heißes Gefäß mit einer Hand an den Mund führen zu können, wobei sich die durchschnittliche Größe der Münder ergibt. Erst wenn wir bei Sonntagsbesuchen in der Verwandtschaft älterer Generationen an eine Anrichte mit Sammeltassen geführt werden, erfahren wir von ganz anderen Zusammenhängen, in denen die Sammeltassen kunst- und lebensgeschichtliche Bedeutung erhalten oder ihre Formen als Zeugnisse moderner Designprogramme ausgezeichnet werden.

Seit der Romantik wird ein weiteres Vorgehen sehr geschätzt: mit der Poetisierung gelingt es, banale Alltagsgegebenheiten mit überhöhender Bedeutung aufzuladen. So etwa, wenn man einen Schlips zum Sterblichkeitsanzeiger erhebt, weil er den Schlipsträger auf den Staub zu seinen Füßen verweist, zu dem alles Leben schließlich zerfällt.

Partenheimer begegnet den Dingen / Objekten aus der Alltagswelt der Gelsenwasser-Mitarbeiter sowohl mit dem Verfahren der Metaphorisierung, also Bedeutungsübertragung, wenn er etwa Zählerwellen aus Wasseruhren wie ein Blumenbeet präsentiert; er formalisiert, das heißt er trennt also strikt zwischen Form und Funktion, wenn er etwa einen Starkstromisolator wie eine Skulptur von Tony Cragg erscheinen läßt; und er poetisiert, indem er aufgefädelte Hülsrohrdeckel mit der Anmutung einer Amtskette versieht.

Zahlreich sind in der Kunst des 20. Jahrhunderts Erschließungen der allzu vertrauten konventionalisierten Lebensumgebungen durch Verfremdung. Diese vornehmlich in der Theaterpraxis Brechts populär gewordenen Begriffe kennzeichnen ursprünglich die Leistung von Entdeckern fremder Welten. Als die Anthropologen, Ethnologen, Volkskundler in der Südsee oder in Afrika bisher den Europäern unbekannte Kulturen entdeckten, stellte sich ihr Blick auf die eigene Herkunftskultur in befremdlicher oder verfremdender Weise um. Von den fremden Kulturen her gesehen, erschien die eigene Herkunftskultur als äußerst merkwürdig, so als begegnete man ihr zum ersten Mal. Wie effektvoll solche Verfremdung der eigenen Lebenswelt sein kann, bewiesen die Millionen Auflagen, die zwei deutsche Literaten mit den Erzählungen eines Südseehäuptlings und eines afrikanischen Stammesältesten über ihre Reisen durch das Deutschland der zwanziger Jahre erzielten.

Südsee- und Afrika-Reisen von Künstlern wie August Macke oder Emil Nolde waren so wirksam, weil die Maler mit den Wahrnehmungserfahrungen aus fremden Welten ihr hiesiges Publikum zur Erweiterung oder sogar Umstellung der eigenen Wahrnehmung veranlaßten.

Partenheimer kommt aus der „Südsee der Kunst“ in die Welt von Gelsenwasser zurück; mit seinen ästhetischen Ordnungsprinzipien stellt er die Beziehungsmuster Natur, Naturerkenntnis und Anwendung der Naturerkenntnis in Artefakten, mit denen Gelsenwasser ja tatsächlich operiert, so dar, als wäre die Firma eine „fruchtbringende Gesellschaft“ nach dem Beispiel des 18. Jahrhunderts. In den damaligen Aufklärungsgemeinschaften galt die Naturlyrik gleich viel wie die Beschreibung der Geologen; ein chemischer Prozeß wurde zum Sinnbild menschlicher Beziehungen; Demonstrationen des Magnetismus und der Elektrizität realisierten die Redeweisen von göttlichen Funken bzw. der magischen Anziehung.

Ist es nicht großartig, sich vorzustellen, die Mitarbeiter von Gelsenwasser verstünden sich unter Anleitung von Partenheimer als eine heutige fruchtbringende Gesellschaft, als eine Wahlverwandtschaft miteinander interagierender Elemente? So würde eine profane Geschäftsidee, Wasser zu verkaufen, zu einer Mission, naturwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche, theologische Kenntnisse des Urelements „Wasser“ zu verbreiten – Kenntnisse, die es uns erlauben, dieses Lebensmedium in einer Weise zu schätzen, die seiner tatsächlichen Bedeutung entspricht. Das erst wäre In-formation.

Der Begriff besagt, daß eine Erkenntnis erst fruchtbar wird, wenn sie zu einer Veränderung der Verhaltensweisen und Einstellungen führt. Man wird tatsächlich informiert durch die Fähigkeit, mit anderen Menschen eine gesellschaftliche Formation zu bilden. Man kann es auch im herkömmlichen Sinne eine Gemeinschaft nennen. Der Künstler als aus der Fremde zurückkehrender Menschenkundler entdeckt den Kern, um den sich Gemeinschaften kristallisieren.

Im Sinne des Befremdungseffekts ist der Kern wahlverwandtschaftlicher Gruppierungen ein Problem und zwar ein in alle Lebensbereiche und alle Wissensformen hinein wirkendes unlösbares Problem. Die fruchtbringenden Gesellschaften werden nicht durch die Gemeinsamkeiten in der Muttersprache, der kulturellen Herkunft, der ethnischen oder rassischen Zugehörigkeit zusammengehalten wie herkömmliche Sozialverbände; was die Wahlverwandten verbindet, ist die gemeinsame Orientierung auf Probleme, die uns deswegen so wichtig sind, weil sie nie grundsätzlich gelöst werden können. Das sind herkömmliche Probleme wie die Frage nach Gott oder der Seelenwanderung oder der prinzipiellen Sterblichkeit des Menschen und dergleichen. Wenn Probleme, so sagen es die Weisen, die Philosophen, die Künstler nicht gelöst werden können, muß man sich ihnen gegenüber in besonderer Weise verhalten. Das ist ein zentrales Verständnis von Kult und Kultur.

Im Falle Gelsenwasser gilt es, durch die Anleitung Partenheimers die Geschichte der Wasserkulte von der Besingung der Quellnymphen über die drakonischen Strafen für Brunnenvergifter bis zur heutigen Debatte über Schadstoffbelastung des Grundwassers immer erneut zu vergegenwärtigen. Gerade weil in schon naher Zukunft Wasserversorgung weltweit ein zentrales Motiv politisch-militärischen Handelns werden wird, weil es keine Lösung des Wasserproblems geben kann, ist die Umformung des ökonomischen Umgangs mit Wasser in einen kulturellen unvermeidlich.