Vortrag / Rede Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung

Werkstatt für die Zukunft polyzentraler Metropolen

Jahrestagung 2010; 8. - 10. Oktober 2010 in Dortmund

Termin
08.10.2010

Veranstaltungsort
Dortmund, Deutschland

Veranstalter
Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung

philosophisch-literarischer Auftakt

Mit einem derartigen Enthusiasmus kann natürlich jemand, der aus dem Jenseits der Metropole Ruhr-Hauptstadt kommt wie ich aus dem Bergischen Land, nicht mithalten. Wir Provinznulpen haben allerdings den Vorteil, vieles von dem Vorgetragenen bereits identifizieren zu können: zum Beispiel die eben vorgeschlagene Orientalisierung. Disney Länder, Herr Pleitgen, gibt es reihenweise. Die brauchen wir nicht auch noch im Ruhrgebiet.

Den Kern der Auseinandersetzung, den ich eigentlich reproduzieren wollte, will ich jetzt auf fünf Fragen beschränken, die Herr Roters an mich gestellt hat, und zwar in der gebotenen Kürze. Wem das zu kurz ist, der kann aus dem Ruhrsack auch die CD nehmen, um sie in der klösterlichen Einsamkeit seiner Autozelle nachzuhören. Diese Einrichtung ist höchst nützlich und wirksam. Sie wissen ja, dass es bereits Autobahnuniversitäten gibt, wo man seine Strecken plant nach den Vorlesungsdauern von Lumann oder der Vorlesung von Dr. Faust des Thomas Mann. Das ist genau die Strecke Wuppertal, München, Hamburg, Wuppertal.

Herr Roters stellte die Fragen: Aufgabe einer Akademie heute?
Nun, die meisten Akademien wurden gegründet zu Zeiten, als die Alphabetisierung noch nicht sehr weit vorangeschritten war. Was für eine Aufgabe hatte die Akademie? Naturgemäß konnte sie gar nicht nach außen wirken, weil da niemand war, der lesen konnte. Und es gab die Medien einer entsprechend ökonomisch sinnvollen Verbreitung noch gar nicht. Es konnte die Akademie also nicht den Anspruch auf Wirksamkeit nach außen erheben.

Akademien sind deswegen in der heutigen Gegenwart wieder an ihren ursprünglichen Gedanken anzuknüpfen, der gegenwärtig vielleicht sogar noch bedeutsamer ist als im 17. Jahrhundert, in dem die führenden Akademien der Welt entstanden sind, nämlich der Tatsache, dass wir heute mehr Leute haben, die prätendieren Schriftsteller zu sein und zu veröffentlichen, als es Leser gibt; mehr Künstler, die etwas an die Wand hängen, als sinnvolle Betrachter dieses Geschehens. Und vor allen Dingen sehr viel mehr moderne Komponisten als Leute, die gewillt sind, ihnen zuzuhören, weil sie es nicht gelernt haben, diese Art von Zumutung überhaupt sinnvoll zu bearbeiten.

Was also ist dann heute eine Akademie? Es ist die Versammlung - societas - derjenigen, die bereit sind, sich wechselseitig die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns zu bestätigen. Wenn ich schreibe, ist die Sinnhaftigkeit dieses Tuns nur darin zu sehen, dass ich hoffe, auf Leser zu stoßen. Das aber ist genau nicht mehr in unserem jetzigen System garantiert. Also werde ich Mitglied einer Akademie als Schreiber, der die Verpflichtung übernimmt, die Sinnhaftigkeit seines eigenen Tuns als Schreiber dazu zu garantieren, dass er sich als Leser betätigt. Ein schreibendes Akademiemitglied ist jemand, der garantiert, dass er das, was die anderen Akademiemitglieder schreiben, liest.
Stellen Sie sich einmal vor, wie verändert die Situation wäre, wenn tatsächlich auch nur in Kleinstakademien, die mit reduzierten Orientierungen eingetretenen, [O-Ton: also Teilaspekte des Sozialen bearbeitenden oder wissenschaftlichen Bearbeitens einander das garantierten. (?)] Sie können heute in jeder akademischen Publikation - bis rauf zu science natur, also den Disziplinen der Naturwissenschaften, bei denen man ohnehin nicht größer als 18 Seiten seine Ergebnisse publizieren kann - lesen und hören, dass niemand mehr liest. Dass selbst diese Organe darüber klagen, dass sie ins Blaue hinein produzieren und eigentlich den Sinn ihres Tuns sich selbst nicht mehr […?].

Das ist Ihre Aufgabe als Akademiemitglieder: Endlich wieder dafür zu sorgen, dass es sinnvoll ist zu schreiben, zu publizieren, zu konstruieren, zu malen etc., weil sie damit rechnen können, dass es Ihresgleichen auf der Höhe des Anspruchsniveaus gibt, die in der Lage sind, durch ihre Tätigkeit als Leser, als Rezipienten tatsächlich für die Sinnhaftigkeit ihres Tuns auch zu sorgen.

Wir haben sogar ein kleines System eingeführt. Solche Akademien werden Ihnen ja auch auf der CD genannt, in denen man den Nachweis seiner Aktivitäten erbringen kann. Heute ist es sinnvoll, viermal so viel Zeit mit Lesen zu verbringen als selbst zu schreiben. Eins zu vier - das ist doch nicht zu viel verlangt, wenn Sie das auf den Tagessatz runterrechnen.

Also: Nie war es so dringend wie heute, Akademien zu haben, weil eben alle anderen systemischen Grundvoraussetzungen nicht mehr die Sinnhaftigkeit des akademischen oder allgemein intellektuellen Arbeitens garantieren. Es ist nur noch in der wechselseitigen, auf Reziprozität ausgerichteten Beziehung der Akademiemitglieder möglich.

Die zweite Frage von Herrn Roters lautete: Wie steht es mit dem Begriff der Urbanität?
Wohlgemerkt: Ich spreche aus der Provinz, Sie dürfen keine zu hohen Ansprüche haben. Die Provinz sagt, dass natürlich Urbanität nicht eine Eigenschaft von Städten ist, sondern ihrer Bewohner und man soll sich endlich einmal auf diese Grundtatsache zurückbesinnen, um zu sehen: Wie entstand denn Urbanität unter dem Leitspruch der mittelalterlichen Stadtgründung - der terra murata -, des zivilisierten Umraums in der grausamen Natur bzw. in den chaotischen kriminellen Umfeldern der Raubritter und anderer, die die Region beherrschten. Wie entstand sie? Durch die Entwicklung der Fähigkeit, sich als Repräsentant des Ganzen zu etablieren. Das einzelne, die Stadt bewohnende, Mitglied der societas hatte den Anspruch, selber zum Repräsentanten der Gemeinschaft zu werden. Das ist der Begriff Bürgerlichkeit. Nur derjenige ist Bürger, der in seiner Rolle als dieses konkrete Individuum in der Lage - und Willens - ist, das Gesamte der Sozietät tatsächlich zu repräsentieren. Also neben der unmittelbaren Reflexion auf die kulturelle Prägung, die wir von Natur aus sind - und alle kulturelle Prägung ist reine Natur -, sich auf die transkulturelle Ebene, das, was man seit 2000 Jahren Zivilisation nennt, zu orientieren und diese Balance zwischen dem sehr radikalen, meistens zu blutigen Konflikten führenden Bestehen auf kulturelle Identität herauszuarbeiten auf eine universale oder globale Zivilisierung der Bürger.

Wer Repräsentant des Ganzen ist, ist in diesem Sinne zivilisiert und Bürger. Daran scheitern ja alle Diskussionen heute über unsere lieben ‚Mitbürger’. Das ‚Mit’ sollen dann Migranten sein. Aber wo sind die Bürger? Was heißt das ‚Mit’, wenn gar keine Bürger da sind? Das ist doch alles leeres Stroh, das da gedroschen wird.

Wir haben die Kampagne nicht als Integration der Zuwanderer zu verstehen, sondern als Ausbildung unseres eigenen Anspruchs darauf, wieder Bürger zu werden, also unsere eigene Bevölkerung zu zivilisieren. Wenn man darin ein Beispiel gibt, dann werden die anderen, die das sehen, sich dem wahrscheinlich eher anschließen, als wenn man sie in irgendeiner politischen, tantenhaften Bemutterung überzeugen will: Wir hätten doch auch ein bisschen dazu beizutragen. Wir sind diejenigen, die zivilisiert werden sollten. Es gibt - nicht nur soziologisch - kein Bürgertum mehr, sondern es gibt auch im Hinblick auf die Ansprüche der hier die Mitbürger [kennzeichnen Nichtbürger entwickeln (?)], nämlich: Wer ist denn eigentlich noch bereit, für das Ganze zu sprechen und sich entsprechend seiner eigenen Disposition darauf einzustellen?

Die Logik heißt doch selbst: Diaspora für alle. Das heißt Globalisierung. Was ist denn da noch das große Diaspora-Gerede, jüdische Gemeinschaft in die Welt zerstreut. Heute ist die ganze Welt eine Diaspora für jedermann. Und da verspürt man den Grundimpuls der Gründung von terra murata, von Zivilisationsräumen viel höher oder mindestens so stark, wie das in der Geschichte bei uns zuletzt zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert zum Höhepunkt kam.

Wir haben unter diesem Gesichtpunkt einige Programme entwickelt, natürlich wieder nur provinziell, die etwa vorschlagen - an der Karlsruher Uni machen wir das mit dem schon zitierten Herrn Sloterdijk als Galionsfigur - Professionalisierungskampagnen für Bürger zu machen; Profi-Bürger auszubilden. So viele, wie hier sitzen, sitzen jeden Donnerstag bei uns und lassen sich von den Fachleuten als Bürger ausbilden. Auch in dem klaren Bewusstsein, dass sie heute nicht über den Mangel des Versorgungssystems der Gesundheitspflege klagen können, wenn sie selber als Patient im Krankenhaus nicht bereit sind, mitzuarbeiten. Als Kranker hat man die Verpflichtung für den Laden. Also muss man Diplom-Patient werden. Der Studiengang Diplom-Patient ist einer der best besuchten, weil inzwischen alle wissen: Wenn man das nicht kann, kommt man kranker aus dem Krankenhaus raus, als man rein gegangen ist. Das ist heute Allgemeinwissen. Darauf muss man aber antreten. Das muss man den Leuten bieten, so dass wir Diplom-Patienten, Diplom-Rezipienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Wähler und natürlich Diplom-Gläubige haben. Denn wenn Sie einmal in die Klauen einer spirituellen Zwangsvergemeinschaftung gekommen sind, dann müssen Sie ungeheuere Fähigkeiten haben, um überhaupt wieder herauszukommen. Und das müssen Sie lernen.

Die Professionalisierung der Bürger - das ist das, was ansteht -, und was die Bürger selbst wissen. Und einige Politiker. Es gibt einen süddeutschen Bürgermeister, Hochleistungssportler, der vielleicht nach einem Unfall im Hochgebirge öffentlich bekannte: Er glaubt nicht mehr an seine Verwaltung. Er glaubt nicht mehr an die Experten. Er glaubt nicht mehr, dass irgendjemand aus dem Team, das bisher für die Stadtgeschichte und die Führung verantwortlich war, einen Wandel herbeiführen wird. Er zählt auf die Bürger. Und er übergibt hiermit die Macht über die Politik der Stadt wieder den Bürgern.

Es hat eine unglaubliche Bewegung innerhalb eines halben Jahres gegeben, in dem die Beteiligung der Bürger an der Lösung der Probleme, die dort auftraten, enorm gestiegen ist: 1000 Prozent rechnet man gegenwärtig.

Wir haben den dritten Aspekt, die Vorstellung genannt bekommen: Wie würde man denn, wenn man unter solchen Gesichtspunkten - aus der Provinz natürlich - an die Probleme herangeht, die hier so strahlend und glänzend in der Ruhr-Metropolen-Selbstbeweihräucherungskampagne mit ungeheurem Medienecho… Als ob es auf Medienecho ankommt. Es kommt auf das Echo von den Bürgern an und nicht auf das Medienecho. Das sind doch die alten Strategien, wo sich Leute selbst beweisen durch die von ihnen selbst gesteuerten Rücklaufprogramme. Dummes Zeug. Es kommt auf das Bürgerecho an, auf das, was praktisch getan wird. Unter diesen Gesichtspunkten ist es möglich, solche Programme durchzuziehen.

Wir haben schon vor zwanzig Jahren sie hier ausprobiert. Nur, hier hat sie keiner im Glanz dieser großartigen Ideen zur Kenntnis genommen. Zum Beispiel: Die Bewohner der Städte, die sich ja an den Straßen, in denen sie wohnen, grundsätzlich orientieren - dazu gibt es spezifische Studien: Topographie der Stadt -, zu Experten der Patrone zu geben, die die Straßennamen ausweisen. Die Bewohner der Amselstraße wurden zu Experten der Vogelkunde. Die Bewohner der Schillerstraße wurden zu Experten Schillers. Die Bewohner der Goethestraße wurden zu Experten Goethes usw. Und wer sich dort professionalisierte, um mit einem kleinen Schild an der Haustür: Ich stehe für den Patron … und das Wissen um die Namensgeberpatronage anbringen ließ, bekam einen Mietnachlass von der Stadt gewährt. Sie hätten es wirklich nicht für glaubhaft halten können, wenn Sie nicht gesehen hätten, wie das geht: Dass plötzlich die abstrusesten Namenspatrone in einer Stadt - seit 100 Jahren mitgeschleppt - in der Aktualität des Bewusstseins auftauchten und dass plötzlich die Stadttopographie tatsächlich an den Köpfen der Bürger sich ausbildete und nicht an den toten Frakturen auf einem Plan. Wer das einmal erlebt hat, was in einer Versammlung der Amselstraßenbewohner an ornithologischem Spezialwissen eingebracht wird und in welcher Weise mit Leidenschaft und Hingabe die Birkenstraßenbewohner - von Richard Wagner oder [Roon] gar nicht zu sprechen - […?], der weiß, was da zu tun ist jenseits von Medienecho und Prumbum. Man muss es nur wollen.

Ich habe entsprechend den Vorgaben des Zeitplans - und als Vertreter der Provinz - mich auf diese wenigen Bemerkungen heute Morgen zu bescheiden. Alles andere finden Sie seit Jahrzehnten gedruckt wohl zugänglich oder in aktueller Form […?]. Bitte bemühen Sie sich einmal, reinzugucken. Denn was im Grunde der Kern aller Überlegungen ist, ist nicht, sich mit seiner eigenen unglaublichen Intelligenz auf die ganz neuen Perspektiven einzulassen, sondern es ernst zu nehmen, was tatsächlich die Neuheitszumutungen in den technischen Entwicklungen etc. darstellen, in den Künsten darstellen.
Neophilie der Avantgarde: Warum sind die alle auf Neuigkeitsproduktion ausgerichtet? Wenn etwas neu ist, ist es bestimmungslos. Gegenüber der Zumutung des bestimmungslos Neuen kann man nur reagieren, indem man ikonoklastische Zerstörung betreibt oder leugnet - oder sinnvoll lernt, vom Alten zu sprechen. Das heißt, die absolute Orientierung auf das Neue ist der einzige Weg, um das vermeintlich Bekannte, schon zum Halse raushängende, redundant Gewordene endlich wieder in der aktuellen Gegenwart als Wirkungskraft, genannt Geschichte, präsent werden zu lassen.

Diese Art von Übung der Vergegenwärtigung der Städte und ihrer Strukturen als historisch gewachsene ist ganz grundlegend. Ich nehme auch die Wette mit jedem an - ich habe schon 20.000 Euro gewonnen: Sie können mir ein Stadtpublikum vorsetzen, wie Sie wollen. Ich bringe dem innerhalb von drei Tagen bei, als Repräsentanten dieses Gemeinwesens sich so ins Zeug zu legen, dass die Profis, die bisher als die Vertreter galten, nämlich die Profi-Professoren, die Profi-Stadtplaner etc., davor erblassen. Wenn Sie das einmal in Berücksichtigung nehmen könnten, dann wissen Sie eigentlich, was Sie erwartet, nämlich eine unglaubliche Förderung durch diejenigen, auf die Sie hin arbeiten. Die zu Entwickelnden sind heute die Experten, die zu Entwickelnden sind die Eliten der Gesellschaft. Das Versagen ist nicht die breite Masse verblödeter, verdummter, an Reichtümern erstickter Idioten, die Verblödung der Eliten ist es. Das sind wir. Wir müssen uns mit uns in dieser Hinsicht beschäftigen. Dazu fordere ich Sie auf - allerdings nur aus der Provinz. In den Kapitalen, den glanzvollen Ruhr-Kapitalen sieht man das natürlich ganz anders.
Vielen Dank.