Vortrag / Rede Symposium: Probleme, die unlösbar sind: Wie gehen wir damit um? Ursachen, Folgewirkungen, Konsequenzen

29./30.04.2013

Ort:

Denkerei, Oranienplatz 2, 10999 Berlin - www.denkerei-berlin.de

Wenn Menschen in Zukunft überhaupt noch etwas gemeinsam haben werden, dann sind es nicht Illusionen kultureller Identität, wie gemeinsame Sprache, Religionen, Tischsitten, sondern die Konfrontation aller mit nicht lösbaren Problemen. Zum einen machen Ereignisse, wie sie etwa die Veränderung des Weltklimas darstellt, nicht an den Grenzen kulturell definierter Lebensräume halt. Zum anderen führen Bemühungen, die vordergründig als Problemlösung ausgegeben werden, üblicherweise zu neuen Problemen, so dass die Erweiterung des Wissens auf der einen Seite eine enorme Steigerung des Nichtwissens auf der anderen Seite zur Folge hat. Problem-„Lösungen“, durch die neue Probleme geschaffen werden, sollten gesellschaftlich deshalb nur dann akzeptiert werden, wenn die Nachfolgeprobleme kleiner sind als das Ausgangsproblem. Oft ist es sogar sinnvoller, sich von der Allmachtsphantasie endgültiger Lösungen zu verabschieden und stattdessen Alternativen zu entwickeln, wie mit vorläufig oder prinzipiell unlösbaren Problemen dem Menschen dienlicher umzugehen sei.

Ein historischer Rückblick

Wie die Geschichte zeigt, werden Probleme nur dadurch „gelöst“, dass neue Probleme geschaffen werden. Es ist deshalb an der Zeit, sich von der Illusion, alle Probleme lösen zu können, zu befreien, und statt dessen zu lernen, mit prinzipiell unlösbaren Problemen sinnvoll umzugehen. Nehmen wir als Beispiel die Erfindung des Autos. Zweifellos wurde durch sie die Mobilität des Menschen erhöht. Das Problem der Raum- und Zeitdistanzen war, wenn schon nicht gelöst, so doch marginalisiert. Hingegen ergaben sich nun Folgeprobleme dort, wo sie sich zuvor nicht einmal vermuten ließen. Über kurz oder lang ergab sich als Folgewirkung die Notwendigkeit asphaltierter Straßen und mehrspuriger Autobahnen. Ein raumgreifendes Tankstellennetz wurde erforderlich. Auch Menschen, die über kein Auto verfügen, mussten sich der Disziplin neuer Verkehrsformen unterwerfen. Völlig neue Bedürfnisse wurden geschaffen, aber auch Belastungen, wie Umweltverschmutzung und völlig neue Zeitregulative sie darstellen.

Wissenschaft und Technik haben den Umfang und die Brisanz unlösbarer Probleme in bislang nicht gekanntem Ausmaß gesteigert. Natur und Tradition haben ihre gesellschaftliche Gestaltungsmacht verloren. Die Ökonomie hat alle Traditionen zur Folklore verkommen lassen. Die Natur ist zum Gestaltungsmaterial einer wissenschaftlichen Technologie geworden. Bewusste Entscheidungen, die von Menschen getroffen werden, sind an ihre Stelle getreten. Ein weiteres Beispiel mag den Sachverhalt verdeutlichen: Wenn eine Frau vor fünfzig Jahren ein behindertes Kind zur Welt gebracht hat, dann war das ein Schicksalsschlag, eine Laune der Natur. Heute weiß eine werdende Mutter aufgrund von Screening-Tests sehr früh, ob sie ein gesundes oder ein behindertes Kind zu erwarten hat. Es ist kein Schicksalsschlag, keine Laune der Natur mehr, sondern ihre bewusste Entscheidung, ob sie es zur Welt bringen wird oder nicht.

Ein Taxonomie möglicher Probleme

Analytisch betrachtet, lassen sich grundsätzlich drei Arten von Problemen unterscheiden: erstens Probleme, die zu lösen gegen das verstößt, was wir gemeinhin als Naturgesetze bezeichnen, also zum Beispiel ein Perpetuum mobile erster und zweiter Art, so genannte Scheinprobleme, die auf falschen Fragestellungen beruhen, zweitens die relativ schnell lösbaren Probleme, bei denen es nur ein Frage der Zeit ist, bis sie gelöst sind, typische Alltagsprobleme, wie Hausfrauen, Klempner oder Psychologen sie kennen. Und dann gibt es noch eine dritte Kategorie: die epochenbezogen bzw. grundsätzlich unlösbaren Probleme. Sie sind epistemologisch und gesellschaftspolitisch die interessantesten, weil man nicht von vornherein, sondern nur im Nachhinein sagen kann, ob sie vorläufig oder prinzipiell unlösbar sind. Jedenfalls erleben die Menschen einer gegebenen Kultur- bzw. Gesellschaftsepoche sie in der Regel, unabhängig davon ob sie epochenbezogen oder grundsätzlich unlösbar sind, als unlösbar, auch wenn die Wissenschaft, die Politik oder wer auch immer das Gegenteil verspricht.

Für sie vor allem, die sich durch radikale Ungewissheit auszeichnen, stellt sich die Frage, wie mit ihnen in angemessener Weise umzugehen sei. Weil nicht von vornherein klar ist, ob es sich im konkreten Fall nur um ein vorläufig oder um ein prinzipiell unlösbares Problem handelt, mag es angemessener sein, sich von der Vorstellung, endgültige Lösungen seien möglich, zu verabschieden und stattdessen zeitbezogene Strategien zu entwickeln, wie mit Ungewissheit menschendienlicher umzugehen sei, etwa bei Krankheiten, die nach wie vor als unheilbar gelten. So mag es hilfreicher sein, gesellschaftliche Ressourcen umzuwidmen, um die Leiden krebskranker Menschen erträglicher zu machen, anstatt der Utopie nachzujagen, diese Krankheit in einer fernen Zukunft zu besiegen.

Jede Epoche, jede Gesellschaftsformation erzeugt in sich Probleme, die im Rahmen ihrer Systemimperative nicht lösbar sind. So war es den Griechen zur Zeit des legendären Ikarus nicht möglich zu fliegen, weil ihnen das dafür notwendige Wissen und die Technologie fehlten. Ähnlich verhält es sich mit vielen gegenwärtigen Problemen. Sie sind in der Form, in der heute Wissenschaft, Politik und Ökonomie üblicherweise betrieben wird, nicht lösbar, sei es der Klimawandel, das Bevölkerungswachstum oder die Finanzmärkte. Zu ihrer Lösung bedarf es neuartiger gesellschaftlicher Institutionen und vor allem soziologischer Phantasie.

Die gesellschaftlichen Probleme, die heute einer Lösung bedürfen, sind durch zwei Kerneigenschaften charakterisiert: Ungewissheit und Wertevielfalt. Radikale Ungewissheit über die Folgewirkungen und eine Vielzahl legitimer Sichtweisen verweisen darauf, dass Lösungen nicht entlang eines idealisierten linearen Pfades gestaltet werden können, der seinen Ausgang in der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens nimmt, um dann in seine Anwendung zu münden. Die Methoden der Wissenschaft, derer sie sich bisher im akademischen Umfeld bedient hat, sind in einem Kontext, in dem der Prozess der Entscheidungsfindung ebenso wichtig ist wie das Resultat, das schließlich zustande kommt, nur von begrenzter Wirksamkeit. Im Gegensatz zu dem Eindruck, den die akademische Wissenschaft vermittelt, verfügen die meisten Probleme einer technologisch geprägten Welt über mehr als nur eine plausible Antwort, und auf manche gibt es überhaupt keine Antwort.

Entweder gelingt es einer Gesellschaft, ihre bestandsgefährdenden Krisen durch Umgestaltung und Überschreitung ihrer Systemgrenzen zu bewältigen, wie das im Fall der französischen Revolution geschah, oder sie geht daran zugrunde, wie im Fall der Kultur der Osterinseln. Ressourcenknappheit wurde für die Bewohner der Osterinseln zum unlösbaren Problem, das im Kannibalismus endete. Doch selbst wenn es einer Gesellschaft gelingt, eines ihrer gravierenden Probleme zu lösen, ist die Lösung in der Regel erkauft – man gebe sich da keinen Illusionen hin – um den Preis eines Rattenschwanzes an Folgeproblemen.

Was tun und warum?

Was bleibt zu tun? – eine Frage, die sich in den Worten Anthony Giddens´ reformulieren lässt: „How shall we live after the end of nature and the end of tradition?“, eine Frage, die zunächst und vor allem die Verantwortung des Einzelnen und des Intellektuellen in der heutigen Gesellschaft thematisiert. Dabei geht es um das Erkunden wissenschaftlicher, künstlerischer und literarischer Interventionsmöglichkeiten in die Gesellschaft, das heißt um die Einflussnahme auf ihre weitere Gestaltung.

Worin besteht das Charakteristikum der heutigen Weltgesellschaft? Antworten gibt es viele. Unhintergehbar aber ist: Die Menschheit entdeckt nicht länger Wahrheiten über die Wirklichkeit, die sie umgibt, sondern sie muss über die Wirklichkeit von Wahrheiten, die sie selbst produziert, entscheiden. Soll der Weltraum erobert, die Kernfusion realisiert werden? Die von uns selbst geschaffenen Technologien erzwingen diese Entscheidungen.

Unlösbar sind Probleme, wenn man in der Eigenlogik des Systems, dem sie entstammen, verbleibt. Werden Grenzen überschritten, Gegenmodelle entwickelt, könnte auch alles ganz anders sein. Zwei Aufgaben vor allem stellen sich dem Intellektuellen heute: Aufklärung und Intervention.
Aufklärung

Die Probleme sind offensichtlich: ungesteuertes Bevölkerungswachstum, ein Klima, das aus dem Ruder läuft, eine wild gewordene Finanzökonomie, die weltweit mehr Elend als Wohlstand schafft. Der Leidensdruck, der dadurch entsteht, wird in weiten Teilen der Welt aber nicht mehr unmittelbar körperlich oder sinnlich erlebt. Er muss deshalb mental erfahrbar gemacht werden. Durch Aufklärung im klassischen, im Kantischen Sinn. Das, was in der Welt passiert, muss nachdrücklich, künstlerisch, wissenschaftlich, literarisch, wie auch immer vermittelt, in die Köpfe gelangen. Wichtig hierbei ist insbesondere die mediale Aufbereitung: dass wir es nicht mehr mit punktuellen Krisen, sondern nach allem, was wir wissen, mit einem Epochenbruch, mit einer sozialhistorischen Sackgasse zu tun haben. Wir müssen lernen, in Ereignisketten, in Folgewirkungen und nicht mehr in Bildern isolierter Objekte zu denken. Respice finem! Nicht der Anfang, das Ende trägt die Last. Wir befinden uns in einer Situation, Entscheidungen für das 21. Jahrhundert treffen zu müssen, verharren aber weitgehend in Mentalitäts- und Bewusstseinsstrukturen des 19. Jahrhunderts. Ein Beispiel wiederum mag den Sachverhalt verdeutlichen: Mücken übertragen Malaria. DDT, im Labor entwickelt und getestet, macht ihnen den Garaus. Im Labor funktioniert das. Draußen in der Welt hat es das Gegenteil bewirkt und aggressive, DDT-resistente Mückenstämme erzeugt. Im Ergebnis wurde ein Problem wissenschaftlich gelöst, ein weiteres als Folgewirkung erzeugt. Das heißt, eine Wissenschaft, die im Labor und im Elfenbeinturm ihr Betätigungsfeld sieht, eine Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, ist nicht mehr zeitgemäß. Heute gilt es, problemorientiert, von den Handlungsfolgen her zu denken. Die Gesellschaft selbst ist zu einem riesigen Labor geworden.

Intervention

In einem ersten Schritt, der Tradition kritischer Aufklärung verpflichtet, wären Lügengeflechte als ideologische Monster zu entlarven und die Interessen, die dahinter stehen in durchaus unterschiedlichen Darstellungsformen der Wissenschaft, der Literatur, der Bildenden Künste ins öffentliche Bewusstsein zu heben: Was bedeutet es, wenn einige wenige Menschen aus Geld mehr Geld machen können? Die griechischen „Listen der Schande“ sind ein Anfang, um auf diesen Widerspruch zu reagieren.

Aber Aufklärung allein genügt nicht mehr in einer Zeit, in der unter dem Deckmantel der Demokratie ein trübes Gemisch aus Partei-, Industrie-, Finanz- und Militär-Interessen – politisch, nicht demokratisch – über gesellschaftliche Entwicklungspfade entscheidet, ohne Verantwortung zu übernehmen. Es bedarf der unmittelbaren Einmischung, der Intervention kritischer Intelligenz in gesellschaftliche Problemfelder. Mittelfristig wird es zu einer Entfetischisierung „demokratischer“ Institutionen kommen müssen und zu einer völligen Neuordnung des Verhältnisses von parlamentarischer Demokratie, Basisdemokratie und Experten-Autorität, zu institutionellen Formen einer zeitgemäßen gesellschaftlichen Willensbildung.
Als Beispiel sei eine Intervention des Amtes für unlösbare Probleme genannt, in der politische Handlungsträger öffentlich aufgefordert werden, einen seriösen Umgang mit dem gegenwärtigen Problem der Atom-Müll-Lagerung in die Wege zu leiten: Wenn man Atom-Müll in alten Bergwerkstollen versteckt, dann macht man es wie kleine Kinder, die ihre Augen schließen, wenn sie Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Der Gegenvorschlag des Amtes lautet, an zentralen Orten in großen Städten Kathedralen zu errichten, in denen der Müll öffentlich sichtbar gelagert wird, so dass allen Menschen deutlich vor Augen geführt wird: Das sind die Kosten unserer Zivilisation, die wir zu tragen haben.

Programm

29.04.2014

18.30 - 19.00 Uhr Arno Bammé: Vorstellung des Veranstaltungsdesigns
19.00 - 19.30 Uhr Bazon Brock: Einführung in die Thematik
19.30 - 20.00 Uhr Martin Nebel: Die Macht der Nährstoffe oder wie steuert man Systeme?
20.00 - 20.30 Uhr Diskussion der beiden Referate
20.30 - 21.00 Uhr Pause
21.00 - 21.30 Uhr Elke Gruber: Lebenslanges Lernen - ein unlösbares Problem?
21.30 - 22.00 Uhr Diskussion

30.04.2014

18.30 - 19.00 Uhr Arno Bammé: Vorstellung des Veranstaltungsdesigns
19.00 - 19.30 Uhr Peter Heintel: Geld, der Gott der Neuzeit
19.30 - 20.00 Uhr Wilhelm Berger: Die Entschleunigung der Zeit
20.00 - 20.30 Uhr Diskussion der beiden Referate
20.30 - 21.00 Uhr Pause
21.00 - 21.30 Uhr Birger Priddat: Wenn wir ein Problem nicht lösen können, dann nehmen wir doch ein anderes
21.30 - 22.00 Uhr Diskussion

Moderation: Arno Bammé (Klagenfurt), Ingrid Reschenberg (Hamburg)

Arno Bammé, em. Univ. Prof. an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt, Direktor des institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society in Graz, Leiter der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle in Klagenfurt.

Wilhelm Berger, Univ. Prof. an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt, Prodekan der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Sozialwissenschaftler.

Elke Gruber, Univ. Prof. für Erwachsenenbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Peter Heintel, em. Univ. Prof. an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Philosoph und Gruppendynamiker, Begründer des "Vereins zur Verzögerung der Zeit“.

Martin Nebel, Dr. rer. nat., Konservator für Bryologie am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart, Ehrenamtlich Naturschutzbeauftragter der Stadt Stuttgart.

Birger Priddat, Univ. Prof. für politische Ökonomie an der Universität Witten/Herdecke, zuvor Präsident dieser Universität, Wirtschaftswissenschaftler.

Ingrid Reschenberg, Dr. phil., Erwachsenenpädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle in Klagenfurt.

Termin
29.04.2013, 18:30 Uhr

Veranstaltungsort
Berlin, Deutschland

Veranstalter
Denkerei