Ausstellungskatalog 30x2 Sessel/Stühle

30 x 2 Sessel/Stühle
30 x 2 Sessel/Stühle

ein Projekt der Artelier Collection: mit einem Essay von Bazon Brock und 30 Seiten mit Beiträgen von Peter Noever, Friedrich Achleitner, Volker Albus, Ernst M. Binder, Franz Josef Czernin, Hermann Eisenköck, Max Gad, Hermann Glettler, Walter Grond, Franz Kaltenbeck, Wolfgang Lorenz, Markus Mittringer, Peter Pakesch, Rolf Sachsse, Ferdinand Schmatz, Heimo Steps, Rudolf Taschner und Manfred Wolff–Plottegg und 30 Fotos sowie 2 Ausstellungsfotos von Michael Schuster mit Sesseln/Stühlen von Heiner Blum, Herbert Brandl, EVA & ADELE, Peter Friedl, Jakob Gasteiger, Franz Graf, G.R.A.M., Markus Huemer, IRWIN, Michael Kienzer, Peter Kogler, Zenita Komad, Brigitte Kowanz, Hans Kupelwieser, Thomas Locher, Rudi Molacek, Christian Philipp Müller, Flora Neuwirth, Tobias Rehberger, Werner Reiterer, Gerwald Rockenschaub, Eva Schlegel, Michael Schuster, Hartmut Skerbisch, Gustav Troger, Peter Weibel, Hans Weigand, Markus Wilfling, Erwin Wurm, Heimo Zobernig und einer Covergestaltung von Manfred Erjautz

Erschienen
01.05.2008

Herausgeber
Ralph Schilcher

Verlag
Literaturverlag Droschl, Graz

Erscheinungsort
Graz, Österreich

Geständnisse eines tapferen Zinnsoldaten

Der Anlass, mich zum zigsten Male auf die Programmatik „Stehen – Liegen – Sitzen“ (siehe nachfolgenden Auszug aus Dietmar Spielmann/Richard Kampfmann (Hg.): SitzLast StehLust. Plädoyer für das Arbeiten im Stehen. Berlin 1993. S. 91-100.) einzulassen, entstand durch eine Besonderheit unseres „Lustmarschs durchs Theoriegelände“. Das Ausstellungsterritorium war weder in den bespielten Museen, Kunstvereinen oder Theatern noch etwa in den multifunktionellen Raumgefügen wie dem ZKM in Karlsruhe groß genug, um in ihnen wie im Englischen Garten die Bewegungsprogrammatik „Lustmarsch“ realiter auszuführen.

Wir führten als Synthese von blockierter Vorwärtsbewegung, dem Spazierenstehen, und der ebenso unmöglichen Bildung von Picknickhockerei respektive Massenlagerung von Publikum à la Pipilotti Rist in einer Kirche von Venedig (Biennale Venedig 2005), das Spazierensitzen als olympische Disziplin ein.
„Auf Hockern mir nach“, hieß dann das Kommando wie bei einer Kavalkade der Dadaisten im Cabaret Voltaire, die möglich wurde, weil Richard Huelsenbeck verkündet hatte, er habe herausgefunden, DADA hieße Steckenpferdchen, und die Dadaisten seien demzufolge Kavalleristen im stehenden Kinderzimmergalopp.

Das Spazierensitzen im Theoriegelände führte in die Kunstrezeption Tugenden der politischen Lenker und Geisteshaltungen der religiösen Denker ein. Helmut Kohl, der Siegfried, der die zerstreuten Glieder des europäischen Schwertes zur Einheit fügte mit Hilfe einer Glüheinrichtung, die mit D-Markkohle beheizt statt mit Holzkohle befeuert wurde, empfahl das Aussitzen. In unserem Falle also das Aussitzen von Nicht-Verstehen und Perplexität – sehr nahe an der Strategie Za-Zen der Buddhisten, dem Sitzen in Versunkenheit, das heißt, nachdem der Versuch gelungen ist, in den Boden zu versinken (auf Dauer gestellt ist das die Hockergrabstellung).

Die berühmteste Metapher in der Tradition von Feuerbach und Marx hieß, die Hegelsche Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Davor war es auch eine Metapher für das lebendig begraben werden; mit dem Kopf nach unten aufgehängt zu werden, war eine Folter und Maßnahme im Strafvollzug. Ich habe von 1959 bis 1963/64 viele Vorträge im Kopfstand gehalten. Daß es bei dieser Haltung Parallelen zum Yoga gibt, wurde mir erst später bewußt. Ich wollte vor allem die Metapher des auf dem Kopf-Stehens wörtlich nehmen, und das ging nur, wenn man dabei auch redete. Man muß dabei auf jegliche Bewegung verzichten, so daß man vollständig auf den eigenen Stand fixiert ist. Man kann nur noch mit dem Körper denken und wenn man es richtig beherrscht, hat man das Gefühl, als verfüge man total über seinen Körper.

Still gestanden, still gelegt

Unsere Nationalhymnen sind eine Musikkategorie, die für das stehende Singen und Hören entwickelt worden ist. Auch die kirchliche Bekenntnismusik ist eine Art Stehmusik. Gemeinschaft wird nicht durch die Sitzenden gebildet, sondern im Wesentlichen durch die Stehenden, die füreinander einstehen. Dahinter verbirgt sich das alte Modell der lebenden Mauer, also die nebeneinander stehenden Männer mit der Waffe in der Hand. Die Bewegungsform der Stehenden ist die Phalanx, ein in sich stehender Verband, der sich als Ganzes bewegt. Das war die überlegene griechische Kampftechnik, die den Athenern den Sieg gebracht hat. Jeder stand in der Reihe starr, die Reihen wurden nicht geöffnet, kurz – es war eine Stehformation in Bewegung.

Das Motiv des Einstehens und Eingestehens ist von ungeheurer Bedeutung; man braucht ja nur die etymologischen Wörterbücher aufzuschlagen und die Begriffsgeschichte von Einstand, Eingeständnis, Ständeordnung etc. nachzulesen.

Im Hinblick auf die Vermittlung von Wissen kennen wir in der Antike die Symposien, wo man in der Regel die liegende Haltung bevorzugte. Im Liegen sind wir aber am extremsten gefährdet, weil die Reaktionszeiten am längsten sind und der Liegende ruhig gestellt ist bis hin zum Verlust des Situationsbewußtseins. Die Schüler des Aristoteles, die Peripatetiker, tauschten sich im Gehen aus, doch ansonsten wurde im universitären Bereich bis heute mehr oder weniger gesessen. Im Sitzen sind Menschen im höchsten Maße der Suggestivität von Außen ausgesetzt. Die Absenzen von Konzertgängern sind notorisch. Die Auditorien von Kunstpädagogen versinken regelmäßig in dem berüchtigten Museumsschlaf. Die Reaktionen eines Vortagspublikums auf einen überlegenen Fachmann führen zur Duldungsstarre. Kein Poptitan käme auf die Idee, sein Konzept vor einem sitzenden Publikum zu geben. Die Ereignisarenen der Begeisterungsgemeinschaften müssen stuhllos bleiben. Ermüdung durch Stehen wird durch den Körperwald kompensiert. Aber zumeist wird gar nicht gestanden, sondern Bewegtheit im Erlebnis wird in Körperbewegung bis hin zur ekstatischen Entgrenzung umgesetzt.

Der Begriff Stehkonferenz zeigt aber, daß es auch produktiv sein kann, wenn sich eine konferierende Gruppe nicht zu stark in eine Situation einlebt und dadurch der Gefahr potentieller Seßhaftigkeit begegnet. Vor allem im japanischen Geschäftsleben werden in erster Linie Stehkonferenzen abgehalten. Zu den morgendlichen Besprechungen stehen alle von ihren Arbeitstischen auf, kommen dann zusammen und besprechen sich im Stehen. Wer aktiv sein Territorium ausfüllt, statt nur einen Gummibaum oder die Kinderschuhe seines Erstgeborenen aufzustellen, sichert sich sein Aktionszentrum vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit, mit anderen darin gemeinsam vorzukommen.

Allerdings hat diese Art der Auseinandersetzung auch einen Nachteil: Beim Sitzen sind die Menschen mehr oder weniger alle auf einer Blickebene, während sich bei der Stehkonferenz, vor allem aufgrund unterschiedlicher Beinlängen, die Augenkontakte nicht mehr auf einer Höhe befinden. Dadurch kann es leicht zu mißverständlichen Äußerungen oder kompensatorischen Redeeinsätzen kommen; der Blick nach oben ist eben noch immer der zu einer Autorität.

Die Möbeleinrichtung von Büros sollte vor allem das eigene Stehvermögen trainieren. Es muß dazu animieren, daß Arbeit wieder gemessen wird in einer Leistung, die der Körper erbringt, wenn er etwa eine Last von hier nach dort befördert. Seit mehr als fünfzig Jahren wird in unseren Büros in diesem Sinne nicht mehr gearbeitet, weil der Körper nichts leistet, sondern nur die Psyche. Erst wenn man Büromöbel und Einrichtungen daraufhin konzipiert, daß das Stehen wieder eine aktive Form der Positionierung ist und die Entwicklung des Standvermögens gefördert wird, dann kommt es auch wieder zu einer ausdauernden konzentrierten geistigen Arbeit. Denn die sitzende Arbeit ist ja deswegen so ermüdend, weil ihr kein körperliches Äquivalent entspricht. Ein lebendiger Gedanke muß verkörpert werden.

Spätestens Friedrich Nietzsche, der ständig gegen das müde Sitzfleisch polemisierte, hat an vielen Stellen seiner Schriften betont, daß alles verkörpert werden sollte, daß alles Embodyment sein muß.
Sozialverbände, wie sie Firmen darstellen, sind im Grunde Begeisterungsgemeinschaften. Firmenführung bedeutet demnach, die gebündelten Energien solcher Gemeinschaften auf Ziele auszurichten. Gegen derartige Diktatur des Sitzfleisches ist die Initiative der rhetorischen Vermittlung von sozialer Gemeinsamkeit gerichtet, denn der Rhetor darf nicht sitzen. Die direkte Art des Miteinanders in der sozialen Rhetorik wird durch das Stehen gefördert, ist auf Bewegung und ein Ausschreiten im Raum ausgerichtet. Genau das verhindert die herkömmliche Struktur des Büros. In den Arbeitsräumen, die wir Büros nennen, haben technische Entwicklungen zwei große Revolutionen hervorgerufen: das eine war die Erfindung der Schreibmaschine, die ihre Betätiger – und hier wurde zum ersten Mal Frauen Zugang zu Bürotätigkeiten gewährt – zwang, an einem Ort und im Sitzen die Maschine zu bewegen. Das gesamte restliche Comptoir-Personal hockte währenddessen auf Misericordien von erhöhten Sitzböcken mit Anlehnmöglichkeit, arbeitete also an Stehpulten. Zur selben Zeit machten die höheren Chargen aus Supervisionsgründen eine kontinuierliche Bewegung durch die Arbeitsräume. Die Frauen wurden als erste im Büro zum Sitzen verdonnert, symbolhafter Ausdruck ihrer niederen Position - nicht nur in der bürokratischen Hierarchie. Sie waren lediglich Reagens auf die Vorgaben der Maschinen und Vorgesetzten und konnten selber gar nicht aktiv werden.

Die zweite große technische Revolution, die das Büro erreichte, wurde durch die Mikroelektronik eingeleitet. Eine der Errungenschaften dieser Revolution war das drahtlose Telefon. Mit diesem kabellosen Sprechapparat wird fast jeder im Stehen oder in einer Schaukelbewegung telefonieren, die nicht sehr fern von einer gewissen Krankheitserscheinung kasernierter Tiere im Zoo ist - dem Hospitalismus. Zumindest wird er den inneren Impuls verspüren, sofort stehend zu kommunizieren. Warum? Weil er über die akustische Wahrnehmung seinen Gesprächspartner vor sich sieht und in einem lebendigen Austausch sofort kommunikativer Teil des sozialen Miteinanders und Interaktionsmodells wird. Das Sitzen zeichnet sich durch eine auch physiologisch bedingte Art der Sedierung, des Stillstellens aus. Im Prozeß der sitzenden Entspannung verliert der Sitzende jegliche Form der Aktivität. Die modernen Bürosessel hatten wenigstens versucht, mit ihrer Kompressionsfederung mobiler zu machen, und der Sitzende wurde hin und wieder mal ein bißchen in die Höhe katapultiert. Das ist aber nicht weitgehend genug gelungen. Mit der Einführung der Stehmöbel in die Büros sollte das nun in einem hohen Maße möglich werden.
Gegenüber der Verhocktheit des Sitzfleischungeheuers in den normalen Verwaltungen und Bürokratien ist die Aktivierung durch das Erlebnis der gemeinsamen Orientierung auf die Anwesenheit des Anderen notwendig, sonst wäre Soziales kaum faßbar.

Auch in Bezug auf das daran anzubindende sportliche Equipment ist darauf zu achten, daß Stehen und Gehen miteinander verknüpft werden. Früher gab es das sogenannte Laufband, wo man auf der Stelle stand, aber lief. Das hat sich an vielen Sportübungsgeräten (z.B. dem Walker) weiterentwickelt.
Durch Stehen Platz zu sparen, das wurde z.B. in Wien vom Verein zur Förderung der Senkrechtbestattung propagiert, der vorschlug, die Toten künftig im Stehen zu begraben. Diese Art der Senkrechtbestattung hat keinerlei Vorbilder und ist wohl auch schon wieder ad acta gelegt worden. Aber im Arbeitsleben bedeutet Stehen nicht, einzementiert zu sein, denn zu jedem Stand gehört auch die entsprechende Fläche für den Standwechsel; Stehen und Gehen beanspruchen einen entsprechend dimensionierten Raum, so daß in dieser Hinsicht kaum gespart werden kann; mit der zeitlichen Ökonomie verhält es sich hingegen anders, wie das Beispiel Stehkonferenz in Japan oder die höhere Konzentration durch körperlichen Ausgleich nahelegt.

Von regelrechten Raum- und Zeitspar-Möbeln könnte man allerdings bei dem Stehimbiß-Design sprechen. Hier werden die Speisenden auch zu einer ganz anderen Haltung erzogen: Während sich die Tischhöhe beim Sitzenden etwa am Ellenbogen bemißt, sind die Stehtische meist auf Brusthöhe angehoben, so daß sich der Essende nicht beugen muß. Da das Stehen auch eine ganz andere Form der Selbst-Exponierung und der sozialen Kommunikation bedingt, entscheiden Stehmöbel letzten Endes auch über das Gelingen von den immer beliebter werdenden Stehempfängen und -partys.

Derartige Eigentümlichkeiten auf die Bühne, auf die agora, den großen Platz oder den Kasernenhof zu übertragen, bedeutet eine Anleitung zu geben, wie man eine Art von Initiativkraft herausbilden kann: Angefangen von der simplen Neugierde bis hin zu der mitreißenden Begeisterung der „Bewegung“ und der enthusiasmierenden Art der Gemeinschaftsbildung.

Bei der Möblierung eines Steh-Ambientes wird natürlich auch die Tradition der Säule bzw. die Kultur der Ständer und Stelen eine Rolle spielen.

Die Gestalt der Säule ist abgeleitet einerseits aus der anthropomorphen Gestalt, also aus der Ähnlichkeit zum stehenden Menschen, andererseits aus der Analogie zum Baumstamm. Eine Zeichnung, die aus dem 18. Jahrhundert datiert, zeigt in einem Wald wie zufällig in einem Viereck gewachsene Bäume, deren Kronen nach innen zusammengezogen sind, so daß die vier Baumstämme die Säulen bilden und die Kronen das Dach. Die andere Herleitung ist die griechisch-römische, wo die Säule aus der Analogie zur Menschengestalt entwickelt wird. Deswegen heißt das Oberteil der Säule auch Kapitell: Caput ist das Haupt. Die Schaftformen standen anfangs noch primär auf monolithischen Steinen – ein Stein wie ein Körper. Erst später hat man sie aus technischen Gründen in Trommeln zerlegt, da Transport und Bearbeitung einzelner Säulenscheiben einfacher war. Die wohl stärkste Übertragung eines architektonischen Körpers auf den Menschen und seine Haltung geht von der Säule aus: „Er steht wie eine Säule“. Die Karyatiden sind logische Entwicklungen aus der Analogie zwischen Säule und Mensch, denn ob ich nun eine Säule darstelle oder direkt den Menschen als Träger, beide Male geht es um eine zu tragende Last. Am Erechtheion auf der Akropolis sind sie im 5. Jahrhundert v. Chr. eingeführt worden.
Im hellenistischen Griechenland, etwa um 170 v. Chr., also nachdem sich die Römer durchgesetzt hatten, kommt die abgebrochene Säule als Grabstein bzw. als Epitaphstele auf. Eine ungefähr Dreiviertel hohe Säule, oben abgebrochen als Zeichen des abgebrochenen Lebens. Auf solchen Mementosteinen für das Leben eines Verstorbenen bleibt der Kopf weg.

Bei seiner architektonischen Inszenierung La presenza del passato (Venedig, 1980) hat Hans Hollein den abgebrochenen Säulenschaft umgekehrt, von oben nach unten gehängt. Das ist wohl das beste Beispiel für eine zeitgenössische Thematisierung von Säule in Menschenanalogie, denn der Witz bei dem Holleinschen Eingang war, daß man nur unter der abgebrochenen Säule durchgehen konnte, und in dem Augenblick, wo der eintretende Betrachter unter der abgebrochenen Säule stand, ergänzte er sie wieder. Jeder der eintrat, um die Ausstellung zu sehen, stellte die ursprüngliche Bedeutung der Säule wieder her.
Entstanden ist die Steinsäule aus der Holzbauweise; die ganze Ornamentik wurde aus der Umsetzung von Holz in das Material Stein entwickelt. Beispielsweise erinnern die Guttae und Mutuli an die ursprünglichen Metallnägel und -köpfe im Holzgebälk; als dies umgesetzt wurde von Holz in Stein, hat man das als Ornamentalform übernommen. Aber ganz sicherlich ist der Übertragungseffekt auf die menschliche Haltung allein deswegen in der griechischen Tradition am stärksten, weil in der Säule die Analogie zum Menschenkörper gemeint war.

Im Hinblick auf das soziale Leben stellt sich für den Menschen die Frage nach dem eigenen Stand und der Bedeutung seines Standes. Im Stand trägt er auch das gesamte soziale Gebäude, denn die Institutionen sind ja standhafte Formen des Sozialen. Und Standhaftigkeit ist an die Behauptung der Position am Ort gebunden. Vermutlich läßt sich eine solche Metaphorik bereits an den Pfahlbauten festmachen: da wurde die Säule als Pfahl in den Boden gerammt und bildete das Postament des Unsichtbaren; Gründungen, die wie die Säule auf die Vertikale ausgerichtet waren. Bekanntestes Beispiel ist Venedig. Bei den Griechen bilden die Säulen dann das Postament des Sichtbaren.

Die Säule wurde vom Pfeiler weitgehend verdrängt, weil der vom Bauaufwand viel einfacher zu handhaben ist als die Säule. Auch die großen zentralen Bauaufgaben seit der Romanik ließen sich nicht mehr, wie zum Beispiel die Ausweisung der Vierung, durch Säulen zeigen, sondern die Ableitung aus dem basilikalen Bau im christlichen Longitudinalbau macht es notwendig, den Rhythmus der Säulen zumindest im Hinblick auf die Vierung durch Pfeiler zu ersetzen; gleiches gilt für die Portalwände. Diese Umorientierung im Bauen auf den Pfeiler hat dann die ursprüngliche Analogie zur Menschengestalt etwas verblassen lassen, obwohl der Pfeiler als Grundmotiv in der christlichen Ikonographie der sakralen Architektur immer noch vorkommt: „Auf diese Steine will ich bauen“ - damit sind natürlich nicht einfach nur die Grundsteine gemeint, sondern das sind die Pfeiler, die Vierungspfeiler. In der Moderne gab es die Umsetzung des Pfeilerprinzips in die gesamte Architekturhülle in Gestalt der Stahlträger. Allerdings sieht man den Stahlträgern nicht an, daß sie tragende Säulen, bzw. Pfeiler sind, weil sie sich über den gesamten Baukörper erstreckt haben.

Das grundlegende Gefühl, was denn eine Säule in Analogie zur Menschengestalt ausmacht, das haben die Architekten verloren, weil sie die Säule nicht mehr als Menschengestalt aufzufassen wußten. Dadurch kommt es dann zu vollkommen unproportionalen und völlig unangemessen gestalteten Säulen. Wenn man in der Moderne nach Beispielen einer Säulenarchitektur sucht, dann findet man nur noch die gegossene Betonröhre, die völlig unproportional ist und deren Querschnitt zu ihrer Höhe keine Beziehung mehr hat, deren Leib auch nicht mehr durch Kannelierungen strukturiert ist.

Denken mit dem Knie

Die Griechen haben aus dem Standmotiv sämtliche Aussagen über die eigene Gattung, also über das menschliche Geschlecht hergeleitet; denn Genus kommt von „genu“, dem Knie. Wenn der Krieger getroffen wurde, brach er zuerst im Knie zusammen und deswegen wurde in der archaischen Plastik bis ungefähr 510 v. Chr. als einzig anatomisches Detail das Knie von den Bildhauern bearbeitet. Das ist das Besondere an dieser frontalstatuarischen Jünglingsgestalt, die den Gott anlacht und nur entweder ein Bein steif vorstellt – den Kontrapost gab es noch nicht – oder die Arme entsprechend einer Gehbewegung hält. Das war zu der Zeit alles noch anatomisch unwichtig. Nur das Knie war interessant: Der Sitz der menschlichen Lebenskraft ist das Knie, weil es das Aufrechtstehen des Kriegers ermöglicht. Wenn das Knie zusammenbricht, kann ein Mensch nicht mehr stehen.

Von dieser Ableitung des Aufrechtstehens kommen auch im heutigen Sinne unendlich viele anthropologische Behauptungen, die in der Orthopädie und verschiedenen medizinischen Spezialdisziplinen eine Rolle spielen: weil uns die Aufrichtung von der vorverwandtschaftlichen Primatenart, die noch auf vier Beinen ging, die Aufrichtung der Wirbelsäule, bis heute Probleme bereitet. Die ganze Metaphorik des aufrechten Ganges, des starken Rückens oder der Charakterschwäche als Rückgratlosigkeit – all das stammt aus jenem Motiv der Aufrichtung. Als der Mensch von den Bäumen herunterstieg, mußte er sich in der Steppe aufrichten. Dies ermöglichte den Fernblick zur Erkennung potentieller Feinde. Und das war der Grund, so gewisse Anthropologen oder Evolutionstheoretiker, weshalb sich die Aufrechtstellung durchgesetzt hat. Dieser Moment des Stehens mit frei gewordenen Händen als Erhöhung des Menschen aus der Tierexistenz ist geradezu das Kennzeichen des Anthropos. Auch die Würde des Einzelnen wurde ja im Stehen repräsentiert, bevor er auf den Thron gesetzt wurde, der dann ebenfalls erhöht war. Als der Herrscher saß, mußten alle anderen ihr Aufrechtstehen aufgeben und vor ihm auf die Knie fallen; das heißt zu dieser Form der Herrschaftsikonographie gehört das Beugen des Rückens und das Herabsinken auf den Boden, das Zurück in die Tierhaltung. Oder die Untergebenen mußten sich ganz auf den Boden legen, wie zum Beispiel vor imaginierten Göttern.

So betrachtet, ist es eine kulturpolitische Besonderheit der Griechen, daß sie ihren Kouros dem Gott in völlig aufrechter Haltung entgegenschreiten lassen. Sein archaisches Lächeln ist die Bekundung der Annäherung, nicht der Unterwerfung, sondern der Anerkennung des Gottes. Der Kouros lächelt archaisch in der Sicherheit, seinen Gott zu sehen. Dieses archaische Lächeln ist nicht auf einen Partner der Statue ausgerichtet, sondern auf die Einbeziehung in die mythologische Glaubensbehauptung. Der Kouros ist derjenige, der in seiner kulturellen Welt aufrecht geht, für den die Götter die Sehnsucht nach Unsterblichkeit erfüllen. Das ist eine andere Vorstellung als das christliche Auferstehungskonzept.
In der Ikonographie der Herrschaft ist das Aufgeben der Aufrichtigkeit bis ins 18. Jahrhundert hinein vielfältig belegt, zum Beispiel als das Bütteln, das katzenbuckelartige Herumschlawinern, das Gesicht halb zum Boden oder schräg nach oben gerichtet, während der aufrechte Mensch immer sein Gesicht darbietet. Zu der Aufrichtigkeit gehört auch die Möglichkeit, en face wahrzunehmen; die Darstellungen von Christus in der byzantinischen Tradition sind beispielsweise solche Begründungen der en face-Darstellung. Vollkommen en face heißt vollkommen plan, also ein direktes ins Gesicht sehen.
Durch die Aufrechtstellung kommt es zu einer ganz entscheidenden evolutionären Leistung im Hinblick auf die sinnliche Vermittlung von Welt: Es ist die Vorherrschaft des Gleichgewichtsorgans, was eine strikte Ausrichtung auf Vertikalität und Horizontalität bedingt. Wenn wir Kultur als das Kontrafaktische begreifen, das sich im rechten Winkel ausdrücke, den es in der Natur nicht gäbe, dann ist das falsch. Denn der rechte Winkel ist tatsächlich durch unser Gleichgewichtsorgan ein Naturresultat. Im Grunde kann man die Kulturen danach unterscheiden, ob sie Aufrichtigkeit, also Frontalität, Aufrechtstehen zu ihrer Generalmaxime machen oder durch die Aufgabe der vertikalen Dimension primär verschiedene, in sich zurückgeschwungene Formen ausgebildet haben. Der Japaner macht bis heute noch den Diener bis in die Horizontalität, was aber kein Katzbuckeln bedeutet. Ein japanisches Sichverbeugen ist eben kein Rückenbeugen im Sinne einer Charakterschwäche, sondern im Sinne einer Bestätigung der Ordnung selber, denn auch der Herrscher verneigt sich. Das ist das Besondere, daß sich sogar der höhergestellte Partner in diesem Ritual der Begrüßung seinerseits verneigt.

Das ist ein großer Unterschied zu unseren Traditionen. Diese strikte Vertikalität, die Rechtwinkligkeit als Kulturleistung, bedingt also ein anderes Koordinatengefüge im Häuserbau oder im Straßenbau.
Zum Aufrechtstehen gehört wahrscheinlich auch die Entwicklung des Begriffs der „geraden Linie“. Daß die Griechen die Geometrie entwickelt haben, dürfte ziemlich stark mit dieser Art von Bedeutung der Aufrichtigkeit, wie beim Kouros, also mit dem Stehen als der Grundfunktion des menschlichen Lebens zu tun haben.

Die Kontrapostik beginnt bei den Darstellungen des archaischen Jünglings, des Kouros, der die geschlossene Beinhaltung auflöst. Daraus entwickelt sich die Verlagerung des Körpergewichtes auf das Standbein, das Spielbein wird ausgestellt, dann kommt der Hüftschwung, die Achsdrehung im Rücken und die aufgepackte Muskulatur als Halteprogramm. Wichtig ist auch der Wippstand: die Verlagerung von den Zehen auf die Ferse und umgekehrt. Die ganze Spannweite in Bezug auf eine solche Motorik des Stehens kann man unter anderem den Unterrichtsbüchern für Boxsportler entnehmen. In allen Ringsportarten wird der aktive Stand eingeübt, denn der Gegner muß ja aus dem Stand gebracht werden. Im Gegensatz dazu sind wiederum die ostasiatischen Standtechniken interessant: Hier wird der Aktionsschwung des Gegners aufgenommen und verstärkt, so daß er fallen muß. Hingegen basieren die europäischen Standprogramme der Aggressivität vor allem darauf, aus dem eigenen Stand heraus stärker zu sein als der Gegner. Das beansprucht natürlich viel mehr Kraft, während der asiatische Kämpfer nur steht und die gegnerische Standveränderung als Aktionsschwung gegen diesen selbst leitet.

Am Beispiel von Lucas Cranach habe ich gezeigt, daß in der Malerei des 16. Jahrhunderts alle möglichen Materialien und Bodenbeschaffenheiten, Erde, Wiese, Schotter, Stein etc. im Hinblick auf ihre Auswirkung auf den Stand des Menschen untersucht und dargestellt werden. Cranach demonstriert auch das jeweilige Stehen, wie es etwa durch Barfüßigkeit oder eine eiserne Ritterrüstung bedingt ist. Zum ganzen Stehprogramm gehört also auch die Kulturgeschichte des Bodenkontakts, also des Schuhwerks, das ganz verschiedene Standfestigkeiten und Balanceakte förmlich erzwingt. Man könnte das auch als eine Sonderform der Sockelung betrachten; davon gibt es zahllose Beispiele in der Kunstgeschichte. Hier gelingen manchmal ganz mirakulöse Balanceakte wie bei den Reiterstandbildern, wo Roß und Reiter auf den beiden schmalen hinteren Hufen des Pferdes stehen, also auf kleinster Standfläche das größte Volumen gehalten werden muß.