Buch Re-Visionen der Moderne: Begegnungen mit Heinrich Klotz

Re-Visionen der Moderne : Begegnungen mit Heinrich Klotz
Re-Visionen der Moderne : Begegnungen mit Heinrich Klotz

Der Band enthält sowohl theoretische als auch persönlich gehaltene Texte, welche die unterschiedlichen Stationen des Denkens und Schaffens von Heinrich Klotz nachzeichnen.

Anlässlich des zehnten Todestages von Heinrich Klotz ist eine Reihe von Essays entstanden, in denen Weggefährten, Kollegen, Freunde und Schüler ihre Begegnung mit dem bedeutenden Kunst- und Architekturtheoretiker schildern, dessen Name sich in die Kulturlandschaft Deutschlands nicht nur durch die Neugründung mehrerer zukunftsweisender Institutionen eingeschrieben hat.

Der Band enthält Beiträge von Volker Albus, Hans Belting, Horst Bredekamp, Ursula Frohne, Ullrich Großmann, Marvin Trachtenberg, Martin Warnke, Peter Weibel u.v.a.

Beitr. teilw. dt., teilw. engl.

Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe: Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe; N.F., Bd. 6

Erschienen
2009

Herausgeber
Rottenburg, Judith | Arnecke, Henning

Verlag
Fink

Erscheinungsort
Paderborn, Deutschland

ISBN
978-3-7705-4993-1

Umfang
153 S.: Ill.; 22 cm

Einband
Broschiert

Seite 135 im Original

Vorwärts und Funktionalismus

Die universale Moderne und das Design. Mit Heinrich Klotz im Reiche Tecta

Heinrich Klotz wurde zu einem der erfolgreichsten Gründerväter einer Kulturinstitution im 20. Jahrhundert, weil er besonders darauf achtete, Partner zu gewinnen, zum Beispiel als Lehrer und Forscher am ZKM und an der Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe, die ihrerseits Staatengründerformat besaßen. Zu diesen gehörte mit Peter Sloterdijk, Hans Belting, Boris Groys, Wolfgang Riehm, Gunter Rambow, dem Klotz als Grafikdesigner der HfG eine entscheidende Rolle zugestand. 1996 gab Klotz im Cantz Verlag die brillantesten Arbeiten Rambows aus mehr als 30 Jahren heraus. Inzwischen ist Rambow altersbedingt aus dem Karlsruher Lehrkörper ausgeschieden, aber nur um ein weiteres Medium seines Wirkens zu erobern. In seiner Heimatstadt Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern) gründete Rambow ein Aktionszentrum (Galerie, Fotostudios, Seminarräume) im Wallensteinpalais am Dom, einen Bau, den der Schüler Rambow auf dem morgendlichen Gang ins Lehrreich (Lateinschule) ehrfurchtsvoll staunend passierte. Seine jüngste Aktivität in diesem Altersarkanum galt mit Verweis auf Heinrich Klotz einem Aspekt der Güstrower Lokalgeschichte.

Güstrow war nämlich der Ursprungsort von Tecta, deren heutiger Chef, Axel Bruchhäuser, durch folgenreiche Kooperation mit Künstlern, Designern, Architekten und anderen Aktivisten der Moderne die Firma zu einer beständigen Größe im Design der Nach-Bauhaus-Ära gemacht hat. Durch bornierte SED-Funktionäre aus Güstrow vertrieben, gelang es Axel Bruchhäuser in Lauenförde bei Kassel, durch getreuliche Insistenz sein Werk zu realisieren, das einmalig genannt zu werden verdient.

Zum Gelingen dieser Hochleistung der Integration von Design, Kunst, Architektur und Kulturgeschichte hat Heinrich Klotz beigetragen in vielfachen persönlichen Kontakten zu Bruchhäuser und seinem Gesamtkunstwerkerteam.

Im Frühjahr 2008 vergegenwärtigte Rambow in seiner neuen Güstrower Galerie und in den städtischen Museen Güstrows jenen Teil der Tecta-Geschichte und ihrer Designproduktion, die Güstrow durch das Diktat der SED entgangen war.

Nun aber Tecta, Klotz und Rambow in Güstrow: Wir versichern, dass es nicht um eine wechselseitige Auf- und Abrechnung gehen kann, die vom persönlichen Schicksal des Tecta-Chefs Axel Bruchhäuser beziehungsweise vom beispielhaften, zeittypischen Spiel der Mächte in Ost und West bestimmt wäre. Bruchhäuser ist vom SED-Bezirkschef 1972 auf die gleiche Weise seiner Würde als sozial verantwortlichem Unternehmer und der Resultate der Arbeitsleistung dreier Generationen seiner Familie in Güstrow beraubt worden wie 1992 durch die Treuhandgesellschaft. Bezogen auf das Unternehmen der Bruchhäuser und auf die Niedertracht, d.h. den Grad der Willkür autokratischer Funktionäre, gibt es da nichts aufzurechnen; das kapitalistische Regime der Treuhand muß gegenüber dem sozialistischen Regime der SED nicht zurückstecken. Also: Abrechnung nicht möglich, Rückkehr nach Güstrow kein triumphaler Einzug der Sieger. Werden das die Güstrower endlich kapieren? Auch im Blick auf die Funktionalismusdebatte, die im Osten wie im Westen seit 1892 immer wieder anschwoll und verebbte, stehen sich sozialistisches Lager und freiheitlicher Kapitalismus in nichts nach. In der Bundesrepublik wurde die Ulmer Hochschule für Gestaltung, der Walter Gropius 1955 persönlich als Vertreter der universalen Modernität den Rang seines Bauhauses zuerkannte, geschlossen – unter Umständen, die an Tragikomik sprich Blödheit von hohen Funktionsträgern durch keine Funktionärsfarce der DDR-Kulturpolitik überboten wurde (etwa Rausschmiß der Bruchhäusers 1972).

Wir verweisen aus diesem würdigen Anlaß der Rückkehr von Axel Bruchhäuser in die Stadt seines väterlichen Unternehmens auf Herbert W. Kapitzkis Mitteilung, dass er mit anderen namentlich bekannten Designern während des Kampfes um die HfG Ulm in den Jahren 1967/68 mit Klaus Wittkugel, Mitglied der Akademie der Künste der DDR und des SED-Zentralrats, darüber verhandelte, ob und unter welchen Bedingungen man bereit wäre, dieser weltbekannten Agentur für die Zivilisierung des Raubtierkapitalismus und des totalitären Sozialismus Asyl und Fortbestehenschancen zu bieten. Resultat: die universale Moderne durchzusetzen, hatte unter allen Regimes die gleichen Widerstände zu gewärtigen. Und das nicht nur in der Pionierzeit bis zur Weltausstellung 1937 und bis zur Vertreibung der Avantgarde aus Deutschland, sondern auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ja, bis heute, weshalb die Mission von unternehmerischen Repräsentanten dieser universalen Moderne wie Axel Bruchhäuser unverzichtbar bleibt. Heinrich Klotz kennzeichnete die rigide Manipulation des Bauhauskonzepts durch Kapitalherren wie Sozialfunktionäre als „Bauherrenfunktionalismus“, nachdem beide Lager mit allen Mitteln versucht hatten, das Pathos der Funktion aller Programmatiken zu neutralisieren. 1977 konnten François Burckhardt und ich im Internationalen Designzentrum Berlin die Chance bieten, dieses Pathos der Funktionalität in historischer wie systematischer Hinsicht zu untersuchen (bisher unveröffentlicht).

Also Vorwärts und Funktionalismus!
Vorwärts meint und meinte voran zum visionären Ziel und Zweck einer großen Anstrengung. Das hieß, Primat der Politik.

Funktionalismus meinte, dass es nicht in erster Linie auf die großen Ziele ankommt, sondern auf die Mittel, mit denen man sie zu erreichen versucht. Das bedeutete Entfaltung von Kreativität als Design, als strikte Orientierung auf Brauchbarkeit, Leistungsfähigkeit wie ökonomisch-ökologische und soziale Rationalität der Mittel allen Bestrebens. Die historische Bilanz besagt, dass weder im Osten noch im Westen, weder im sozialistischen noch im kapitalistischen Lager die Anerkennung dieser Verpflichtung zur Universalität der Moderne von einer Mehrheit getragen wurde. Der Osten verspielte sein Potential aus dem Gefühl, die höchsten Ziele der Menschheitsentwicklung könnten schließlich nicht verloren gehen; der Westen ruinierte seine Leistungsfähigkeit, weil er mit dem Hochmut von vermeintlichen Siegern die Qualitätskriterien für die Entwicklung der Zweck-Mittel-Relationen aufgab – gerechtfertigt von einer Ideologie der Globalisierung, deren Haltlosigkeit sich so desaströs auswirken wird wie die Phrasendrescherei des real existierenden Sozialismus. Letztere führte zur Zerschlagung des Ostblocks, erstere wird genauso unaufhaltsam zur Zerstörung des Westens führen; 1989 gab das Startsignal für diesen Prozeß: nicht der Osten ging unter, sondern alles das, was „Wohlgesinnte“ je mit dem „freiheitlichen Westen“ hatten verbinden können.

Also noch einmal: Voran. Das heißt und hieß, kollektiv wie individuell voran zum Aufbau des Sozialismus als freiheitlich-soziale Marktwirtschaft. Voran zum letzten Ziel, hieß vor allem: nehmt keine Rücksicht, laßt euch nicht irritieren oder gar hindern von Bedenklichkeiten, widerspenstigen Erfahrungen, von Mahnungen der Alten und den Tücken der Objekte. Voran also hieß, die Zwecke heiligen die Mittel, alles ist erlaubt, alles ist gerechtfertigt, wenn es nur zum Ziel führt. Im Westen war und ist dies das alleine noch propagierte wie akzeptierte Ziel der Gewinnoptimierung, der individuellen Bereicherung; alles Handeln wird daran gemessen wie weit es „zielführend“ ist, also den Erfolg erreicht, also erfolgreich ist, „pflastern auch Leichen seinen Weg“.

Im Osten war die Heiligung der Mittel, inklusive absurdester kontraproduktiver, durch das Ziel unangreifbar, die Welt einer säkularen Heilsgeschichte zu vergewissern, die es mit der religiös-kulturell getragenen Heilsgeschichte aus Jerusalem, Rom und Mekka mehr als aufnehmen können sollte. Was kann es für einen größeren Zweck allen Sinnens und Trachtens geben, als die Menschen und die Menschheit von Elend und Armut, von Unterdrückung und Hoffnungslosigkeit schon im irdischen Leben zu befreien?

Da sollte es nicht verwundern, dass erfolglose Individuen wie Kollektive immer wieder zur Schlußfolgerung verführt werden, sie hätten ihre Ziele nur deshalb nicht erreicht, weil sie nicht hinreichend radikal den Einsatz ihrer Mittel durchgesetzt hätten, nicht „gnadenlos“ genug gewesen seien – „gnadenlos“ ist die verbreitetste Kennzeichnung des totalen Einsatzes aller Mittel, seit Richard Wagner mit diesem Eigenschaftswort den Charakter aller erfolgreichen Erzwingungsstrategen des Absoluten, des Heils, der Erlösung kennzeichnete.

Soweit die Auslegung des „Vorwärts“ und wer wollte nicht voran-, vorausgehen in eine bessere Welt? Wohin die gnadenlose Orientierung an den alle Mittel heiligenden Zwecken führte, hat man im 20. Jahrhundert unmissverständlich zur Kenntnis nehmen müssen. Der Tugendterror grassierte; seine heutige Variante als Diktat der politischen Korrektheit vernichtete die Öffentlichkeit als Entfaltungsraum des Geistes. Man wagt nicht mehr auszusprechen, was doch der Realität entspricht: der so großartig proklamierte „Wandel durch Annäherung“ der Systeme hat mit der List der historischen Vernunft tatsächlich den Westen an die „östlichen“ Zustände angenähert, die er doch angeblich gerade zu überwinden versprach. Das werden sich die Menschen des ehemaligen sozialistischen Lagers niemals verzeihen, die Lebensziele der Westler gnadenlos übernommen zu haben, obwohl deren selbstzerstörerische Entfesselung ja gerade von ihren kanonischen Stammvätern längst klipp und klar dargestellt worden war. Und die Westler beginnen gerade zu ahnen, welchen Preis sie für die prahlerische Überschätzung ihrer Überlegenheit zu zahlen haben werden. („DDR-Aufbau? Das zahlen wir aus der Portokasse“ – so und ähnlich ließen sich dieselben Phrasendrescher des Westens 1990 beim RTL-Heißer-Stuhl vernehmen, die heute mit unveränderter Ahnungslosigkeit die Globalisierung anrichten.)

Also noch einmal Funktionalismus: Meine recht umfängliche Erfahrung als Beteiligter am Design-Diskurs seit vierzig Jahren erlaubt mir das Urteil, bisher hätten wir kaum zu schätzen gewusst, was die tatsächlich zukunftsreichste Aufgabenstellung für die Entwicklung des Design war und ist. Wie andere Träger und Vermittler des Zeitgeistes, der sich in der Arts and Crafts-Bewegung, in den Lebensreformprogrammen, in der Gesamtkunstwerksideologie, der Werkbund- und Bauhaus-Gründung, der ZKM/HfG-Gründung manifestierte, hat die Mehrzahl der Gestalter unter den Bedingungen der industriellen Produktion ihre Arbeit der Durchsetzung des Fortschritts gewidmet: sei es als Gestaltung für das Existenzminimum oder als Durchsetzung von Gesundheit durch Hygiene und Leibesertüchtigung in freier Natur oder als ästhetische Erziehung gegen Überwältigungsbombastik des Gelsenkirchener Kleinbürger-Barock. Was aber diese Gestalter zu Designern werden ließ, war die von allen geteilte Verpflichtung, bei aller Würdigung der Fortschrittsziele sich erstrangig und nachhaltig, kompromisslos und sachlich auf die Analyse und Entwicklung von Gegenständen des modernen Alltagslebens von Individuen wie Kollektiven zu konzentrieren; das heißt, sie bestanden auf dem Primat der Mittel. Design hieß, im Rausch der industriellen Massenproduktion zur Beglückung selbst der Mittellosen dafür zu sorgen, dass möglichst jedermann die ästhetischen und kulturgeschichtlichen Kenntnisse und Urteilskräfte entwickelte, um sich vor opportunistischen Allianzen mit dem Mittelmäßigen zu schützen, weil absehbar geworden war, dass die Freiheit der Unterscheidung zwischen zwanzig Waschmittelsorten weder langfristig durchhaltbar noch systematisch als tatsächliche Autonomie der Individuen behauptet werden konnte. Der Höhepunkt strikter Orientierung auf die Mittel und nicht die Ziele und Zwecke der Warenproduktion, der Architektur, des Journalismus, der Werbung, war die Erkenntnis, dass „Luxurieren als Strategie der Weltaneignung“ die einzig sinnvolle Alternative zur konsumeristischen Beliebigkeit und vor allem ihrer Kontraproduktivität sei. Im gleichen Jahr 1972, als Bruchhäusers wegen dieser modernen Design-Konzeption aus der DDR verjagt wurden, habe ich im IDZ Berlin mit Heinrich Klotz, Martin Warnke, Rudolf Arnheim, Norbert Elias, Erwin W. Palm unter dem programmatischen Titel „Mode – das inszenierte Leben“ einen Vergleich zwischen den Ausstattungskonzepten der Unter-, Mittel- und Oberschichten für ihre jeweiligen Wohnungen angestellt und gezeigt, dass die Orientierung auf höchste Qualität ökonomisch, ökologisch, medizinisch, psychosozial am sinnvollsten ist. (Das kann hier nicht begründet, sondern nur als Tatsache wiedergegeben werden.) Luxurieren ist eine Wertschätzungsstrategie, die sich strikt an Rationalität und Funktionalität im tatsächlichen Sinne orientiert – und genau auf der Ausbildung dieser Fähigkeit zur Wertschätzung ist die Arbeit der Designer ausgerichtet. Denn sie verhelfen eben diesen Kriterien anhand der von ihnen entwickelten Artefakte zur Geltung. Nun gibt es ohnehin nur wenige Studien zum Zusammenhang von Genesis und Geltung im sozialen, politischen oder philosophischen Sinne. Für die Geschichte des Design als Instanz kritisch analytischer Entwicklung von Mitteln der Lebensbewältigung sind bisher unbekannt geblieben – sollte es sie denn geben. Damit ist auch gesagt, was mit Blick auf die Bruchhäuser-Tecta-Artefakte als exemplarische Repräsentanten des Design wünschbar und fällig ist, Bei Anlässen wie der experimentellen Rückkehr der Bruchhäusers an ihren Ursprung ist es wohl erlaubt, einen solchen Wunsch, auf Deutsch ein derartiges Desiderat, anzusprechen.

Bis auf weiteres können wir nur auf diejenigen zählen, die nicht aufgaben und nicht aufgeben, was Zivilisierung durch Design, d.h. Unterwerfung der Heilsvisionen unter den Primat der Mittel, bedeutet. Zu ihnen gehört, das wollen wir gerade in Güstrow bekennen, Axel Bruchhäuser und sein Unternehmen Tecta, dessen Mitarbeiter das beste Beispiel für zivilisierte Zeitgenossen bieten. Sie und wir alle sind in dieser Haltung durch die Arbeit von Heinrich Klotz geprägt worden, von einem Zeitgenossen also, der das Pathos der Modernität niemals aufgab und deswegen sogar seinen Gegnern, den Verzweifelten der Moderne wie den Zweiflern an deren Konzept generell, ein Exil bot in der Postmoderne und der Zweiten Moderne.

siehe auch: