Ausstellungskatalog Uli Bohnen: Paradise l'Ost

Uli Bohnen: Paradise l'Ost
Uli Bohnen: Paradise l'Ost

Der Kunsttheoretiker und Ausstellungsmacher Uli Bohnen (*1948), der seit etwa 30 Jahren auch mit einem klar konturierten Konzept fotografiert, hat zwischen 1994 und 2005 zahlreiche Reisen in Länder des abgeschafften beziehungsweise untergehenden Realsozialismus unternommen. Seine Fotos aus der ehemaligen DDR, aus Polen und Litauen, Georgien und Armenien, aus Albanien und Kuba markieren Schnittstellen zwischen alten und neuen Ansprüchen, Veränderungen im Erscheinungsbild von Städten und Landschaften und erzählen von den materiellen und psychologischen Problemen der Menschen.
Auch dem Umgang mit christlichen Symbolen widmet Bohnen besondere Aufmerksamkeit. Zwischen der Zielstrebigkeit, mit der in den ehemals sozialistischen Ländern eine auffällige (Re-)Christianisierung forciert wird, und der Achtlosigkeit, mit der man christlichen Zeugnissen in Westeuropa und sogar Mexiko begegnet, werden krasse Unterschiede sichtbar.
Der Band stellt mit dem Blick auf sozialistische und christliche Motive zwei große Fotozyklen Uli Bohnens einander gegenüber und zeigt damit beispielhaft die enorme Dynamik globaler Wandlungsprozesse unserer Zeit auf.

Ausstellung: Von der Heydt-Museum Wuppertal 12.3.-9.4.2006

Erschienen
2005

Herausgeber
Von-der-Heydt-Museum Wuppertal

Verlag
Hatje Cantz Verlag

Erscheinungsort
Wuppertal, Deutschland

Konstellationenschöpfer

Uli Bohnen als Künstler und Sammler

Vor einem viertel Jahrhundert holte Dieter Henrich, den erklärten Verächter der 68er Denkstile, Verhaltensweisen und der Rhizom-Kulte von Pilzkopffrisurenträgern doch noch das New Age ein. Der gepriesene Philosoph altdeutscher Schule übertrug einen zentralen Begriff der Astronomie und der Astrologie nach alter spiritualistischer Manier auf unser zufälliges, irdisches Dasein an beliebigen Orten, wo wir mit anderen dort zufällig Wimmelnden nach unerklärlichem Ratschluß Familien gründen, Freundschaftsbünde schließen, Werkstätten aufbauen, Einflusszonen entwickeln, Diskursgemeinschaften bilden – vor allem durch Knüpfen von Beziehungsnetzen. Die Logik solcher Gesellungsformen müsse doch jenseits von Wissenssoziologie, Diskursarchäologie und Populärbiografik nach höherem Bilde zu verstehen sein, meinte Henrich und sah fortan in derartigen Gegebenheiten sozialen Daseins Konstellationen. Die Himmelsskundigen und die Himmelsdeuter bezogen diesen Begriff auf die dynamischen Formationen der Gestirne, vor allem der Planeten in unserem Sonnensystem. Die Gestirnkonstellationen im extraterrestrischen Raum, dem Weltraum, dokumentierten vom 16. Jahrhundert an, also seit dem Beginn der küstenfernen Hochseeschiffahrt, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Heerscharen von Himmelsanalytikern als Naturphilosophen, die den Umläufen der Gestirne, ihren „Revolutionen“, nutzbringenden Ausdruck verschafften. Diese bald weltweit operierenden Mitglieder der Greenwich-Researchfamily verfolgten, wie auch ihre jahrmarkterprobten Kollegen der Wahrsagerzunft, ein erklärtes Ziel, nämlich aus der Erkenntnis der ewigen Himmelskonstellationen in ihren Dynamiken die Zukunft vorhersagen zu können: Den Astronomen lag an Vorhersagen berücksichtigenswerter Ereignissen wie Sonnenfinsternissen; den Astrologen ging es um die voraussehbare Auswirkung der himmlischen Konstellationen auf das Leben von Individuen und Kollektiven in ihren irdischen Lebensräumen. Daß solche Wirkungen unleugbar waren – jenseits von theologischen oder kulturellen Begründungen – bewiesen die Phänomene von Ebbe und Flut, von Mondphasenzyklen wie die Menstruationszyklen der Frauen und ganz generell die Jahreszeitenzyklen. Alle diese Phänomene hatten evidenter Weise Einfluß auf das menschliche Befinden in Geist und Körper. Da lag das Ziel nahe, die den Konstellationen unterworfenen Psychodynamiken und somatischen Dispositionen systematisch zu erfassen und dadurch die Zukunft von Menschen steuernd vorauswissen und vorhersagen zu können.

Ganz soweit will die heutige Konstellationenforschung nach Henrich freilich nicht gehen. Ihr genügt es, analog zum Weltraum und Lebensraum den Denkraum zu vergegenwärtigen, in dem sich historisch eine Konstellation verschiedener Individuen zum Beispiel als Philosophen, wie in Jena um 1800, entfaltete. Dort lebten und wirkten gleichzeitig etwa Hölderlin und Novalis, Schiller und die Schlegels, Fichte und Schelling und zwei Dutzend weitere Hochleister. Die Konstellationsforscher bemühen sich nun, die dokumentierbaren wie die kryptischen, also nur annehmbaren, aber nicht belegbaren, wechselseitigen Einflussnahmen zu rekonstruieren, durch welche die in Jena lebenden und wirkenden Philosophen, Theologen, Dichter, Naturwissenschaftler (damals noch Naturphilosophen geheißen), Ästhetiker, Historiker und Gesellschaftsintendanten das so zukunftsträchtige System des deutschen Idealismus auf seinen später so verhängnisvollen Weg bringen konnten. Zu welchem Nutzen und Frommen? Auf dem Politjahrmarkt versierte Wissenschaftsunternehmer versuchen, mit einer derartigen Rekonstruktion fruchtbringender Gesellschaften nach Belieben schon in nächster Zukunft vermarktbares Wissen produzieren zu können, indem sie irgendwo, in inspirierenden Industriebrachen oder auf teuersten Baugründen im internationalen Fünfsterne-Stil Anlagen für extragenetische Begattung außerordentlicher Geister (Denkborne e.V.) hochziehen. Wenn die Konstellationenforschung zu zeigen vermag, wie im Füreinander, Gegeneinander, Miteinander und Durcheinander freudig erregter oder exotisch schwankender Gestalten grandiose, das heißt nutzbringende Leistungen den menschlichen Hirnen abverlangt werden können, dann kann man mit Fug und Recht annehmen, jederzeit und an jedem Ort bei entsprechendem Ressourceneinsatz Athenische Akademien, Florentiner Meisterschulen, Oxforder Colleges, Weimarer Musenhöfe, also wirtschaftsförderliche Elitenarkadien zu kreieren.

Gründliches Nachdenken wie Erprobungen zeigten aber längst, daß dieser Nutzen der Konstellationenforschung wenig verspricht. Vielmehr scheint die Orientierung an Konstellationen ein Weg zu sein, wie man retrospektiv sinnvolle Erklärungen des historisch Einmaligen zu stiften vermag, obwohl eine Geschichte der singulären Ereignisse eben gar keine Geschichte sein kann. Irgendwelche Konstellationen gibt es ja stets und überall, wo Menschen miteinander mit Bezug auf unterschiedliche Ressourcen leben. Aber nicht aus jeder Konstellation ergibt sich bereits ein bemerkenswertes Ereignis oder schöpferische Hervorbringung respektive die Erarbeitung nutzbringender Erkenntnisse über jene Möglichkeiten hinaus, über die auch jedes beteiligte Individuum im Rahmen seiner genetischen oder gesellschaftlichen Konstellation verfügt.

So kam es und kommt es dazu, den Konstellationenbegriff auf andere als die sozialen Formationen anzuwenden, die Henrich bei der Einführung der Konstellationenforschung im Auge hatte. Von den Collagenmeistern der Frühmoderne über die Surrealisten bis zu den Filmschnittartisten gilt die Konstellation als eine Anordnung von Elementen in einem Wahrnehmungsraum vor lebendigen Betrachtern. Als Kriterium für das Gelingen einer Gestaltung von Konstellationen gilt der an Betrachterreaktionen ablesbare Effekt, den Konstellationen wie die „Begegnung der Mona Lisa mit einem Regenschirm auf einem Bügelbrett“ hervorzurufen vermögen. Schließlich kann man jede Gestaltung als die Entwicklung von Konstellationen der Gestaltungselemente auf einer begrenzten, also definierten Leinwand (Bildraum) oder in einem Anschauungsfeld, das als Kontinuum diskreter Attraktoren gezeigt wird, auffassen. Aber, bereits die ersten Surrealisten erfuhren, daß die planvoll entwickelten Konstellationen der Gestaltungselemente relativ effektarm bleiben, weil derartige Intentionen von Künstlern schnell durch den Betrachter antizipierbar sind. Deshalb entwickelte man, angeleitet durch Marcel Duchamp, die Konstellation als eine Umgrenzung von zufälligen, vorgefundenen, räumlich und zeitlich in ein Wahrnehmungskontinuum eingehegten Elementen. Konstellationen entstanden durch Umrahmung, Umgrenzung, wobei das Framing auch durch unterschiedliche Schärfeneinstellungen der Vorder-, Mittel- und Hintergründe im Wahrnehmungsfeld vollzogen werden kann. Die weiteren Mittel wie Überblendungen, Verzerrungen, Vergrößerungen, Verkleinerungen, Bewegungsumkehr, Replay, simulierte Allansichtigkeit, kaleidoskopische Dekonstruktion bieten schier unerschöpfliche Variationen für den Aufbau von Konstellationen als Bezugsfeldern, die zudem durch ihren Verwendungskontext in Kunsträumen oder Unterhaltungsformaten, in programmierter Instruktion oder in Wohnräumen zusätzliche Aufladungen mit Sinnfälligkeit erhalten. In diesem Sinne sind Konstellationen für die Künstler auch durch die Einheit von Dekontexturierung und Textuierung, von Redundanz und Information, also von Erwartbarkeit und Überraschung, vor allem aber von Evidenzerzeugung und Evidenzkritik bestimmt. Die künstlerisch entwickelte Konstellation stiftet in dem Maß Sinnfälligkeit, wie sie diese Vorgehensweise als Zufallsresultat, Manipulation oder Primat unbewußter Steuerung kritisiert. Das kommt zum Ausdruck in der alltäglichen Einwendung, daß es zwar einem Künstler gelungen sei, die Betrachter seiner Arbeiten zu düpieren mit Aufhebung jeder vorerwartbarer Sinnbezüge – aber so what? „Da ist jemand offensichtlich nur auf sich selbst hereingefallen,“ heißt es dann.

Aber mit der harschen Kritik an derartigen Konstellationen als retrospektiven Illusionen intellektueller Setzung oder gestalterischen Kunstwollens muß man behutsam umgehen. Denn es spricht vieles dafür, daß nur postfest, also aus der Gegenwart nach rückwärts Ereignisse zu geschichtlichen werden können, weil sie erst von der jeweiligen Gegenwart her als deren bestimmte Vergangenheit gewonnen werden können – und das auch noch durch stets erneute Umwandlung unter dem Druck des Historischen-noch-gar-nicht-da-gewesenen. Derart entfaltete Konstellationen etwa als die „50er, 60er und 70er Jahre etc.“ beweisen täglich ihre ökonomischen wie sozialen Effekte.

Hier gilt es von einem Meister der Konstellationenbildung zu berichten, dessen besondere Leistung darin besteht, daß er zugleich die als sozialistische Epoche der osteuropäischen Länder beschriebenen Konstellationen vor Augen führt, aber diesem Augenschein jede Beweiskraft nimmt. Der in Darmstadt lehrende Kunstwissenschaftler und Künstler Uli Bohnen erreicht das vor allem durch wechselseitige Kontrolle seiner Künstler- und Sammlertätigkeit. Sammlungen erschließen sich nur als interessant und eigenständig durch die vom Sammler selbst entwickelten Konstellationen als Beziehungsgeflecht zwischen den gesammelten Objekten. Der Sammler arbeitet für die Präsentation seiner Objektansammlung wie jeder Kurator, dessen Leistung gerade darin besteht, durch elaborierte Hängelehre und Präsentationsmodi Wirkung zu erzielen. Der Gründervater solcher Hängelehren als Konstellationenbildung durch Rahmung, Edmund Husserl, beschrieb das Framing als Epoché, als Abschattung, heute Focusierung genannt. Die phänomenologische Methode bietet vor allem die Möglichkeit, aus zumindest für den Betrachter zunächst zufälligen Ansammlungen Ausschnitte herauszukopieren und in vielfältigen Kontexten zu gewichten als Träger von Sinnhaftigkeit. Dieser notwendigen Intentionalität zur Diskretheit der Phänomene korrespondiert indessen eine ebenso unabweisbare Intention auf Etablierung von Kontinua. Beide Intentionen zusammen repräsentiert die Konstellation. Bereits Lessing beschreibt den dramatisch-effektvollen Aufbau von Bildfeldern oder Erzählungsmustern, in denen gerade durch die Diskretion das Verlangen nach Kontinuität stimuliert wird. Die Konstellation als Aufbau dieses Wechselspiels beschreibt er etwa in der Anleitung zum Darstellen eines Ereignis-Höhepunktes. Lessing stellt fest, daß der Höhepunkt der Wirkung gerade nicht durch die definitive Aussage über das Ergebnis eines Vorganges geboten werden darf sondern als Moment vor der Entscheidung, in dem der Betrachter das distinkte Ereignismoment noch in die verschiedensten erzählerischen Zusammenhänge einbetten kann. Diese Lessingsche Dramaturgie berücksichtigt Bohnen mit großer Konsequenz. Wenn ein destruiertes Automobil in der ukrainischen Hinterwelt auf einen armseligen Bauernkarren gehoben wird, um von einer klapprigen Schindmähre, die evidentermaßen weniger als ein PS Bewegungsenergie zu mobilisieren vermag, abtransportiert zu werden, dann zeigt Bohnen den dramatischen Augenblick der präzisen Wahrnehmbarkeit der Elemente des Vorgangs, bevor entschieden ist, wie der Versuch der Landleute ausgehen wird, eine kontinuierliche Bewegung zwischen der Ausgangssituation und einen möglichen Zielort für die Lokomotion des Gefährts zu Stande zu bringen. Oder: In der Konstellation vom massiv-monumentalen Lenindenkmal als representierten bösen Geist der Geschichte zur fleißigen Beweglichkeit guter Haugeister in Zwergengestalt, die indes an portable Stellschilder ausgerechnet vor einem Souvenirgeschäft gekettet sind, eröffnet sich der Wirkungseffekt als Antizipation eines Eingriffs, durch den die Einheit von Denkmalsimmobilie und Mobilitätssouvenir sinnträchtig wird. Oder: Die Hunde warten unter dem Fleischtragenden Baum in der ungewissen Haltung, ob ihnen, auf welche Weise auch immer, es noch gelingen wird, einen Happen zu ergattern oder ob ihnen demnächst selbst das Fell über die Ohren gezogen wird.

Stets lassen die Arbeiten Bohnens erkennen, wie er durch die Wahl der Bildausschnitte und ihrer Einpassung ins Bildfeld das Wechselspiel von Diskretheit und Kontinuität in der Konstellation zustande bringt. Etwa, indem er die nur noch allgemein identifizierbare Ausdrucksgeste der Figurengruppe eines Knaben mit älterem Mädchen intentionale Orientierung auf etwas Höheres, über ihren Köpfen sich Ereignendes sichtbar werden läßt und diese Vertikalorientierung durch Hinweis auf eine ins Bildfeld ragende Leiter begrifflich erschließt: das kindliche Wachsen wird so als erstrebter Aufstieg sinnfällig. Man könnte dieses Verfahren parallel zu Duchamps Arbeit mit den object trouvé als Eröffnung einer constellation trouvé oder als aktivierte Inspiration oder als durch Rahmung konkretisierte Interpretation beschreiben. Etwa in Bohnens Bildern wie dem Blick auf eine Sitzgruppe modernistischen Zuschnitts vor Radiatorenheizung und Fensterbankikonostase. Der Portraitierte richtet seinen Blick aus dem Bilde auf das technische Gefüge der Kamera, die sein Verhältnis zu Bildmaschinen wie Fernsehgeräten als insgeheimen Glauben an animistischer Beseelung erkennen läßt. Das ist keine Denunziation kleinbürgerlichen Stolzes über endliche Indienstnahme eines Signums der Modernität, sondern enthüllt mit Hinweis auf das kleine Geisterwesen in Gestalt eines Spielzeugteddys neben dem TV-Kasten die Wahrheit der Technologievermittelten Welt, die selbst im Hochkapitalismus von animistischer Beseelung der Waren und ihrer Wirkung abhängig ist. Denn die gezeigte Bildmaschine liefert im Wesentlichen werbliche Anleitung zur Inkarnation, Inkorporation und symbolischen Repräsentation der Welt als Ware. Die „Miefies, Gilbs, Meister Proppers oder Fleckenteufel“ sind die Verkörperungen der im Bild repräsentierten Wirkzusammenhänge, die unser Leben beherrschen. Und das ist beileibe kein Widerspruch zu Modernitätsforderungen, im Gegenteil: das Bohnsche Bild kritisiert die rationalistische Auffassung, man könne sich als moderner Zeitgenosse nach Belieben oder Opportunität entweder auf die symbolische Repräsentation der Welt oder die bloße Verkörperung von sozialen Rollen oder auf die Freßorgien von Inkarnationen beschränken.

Geradezu einzigartig erhellend steht für diese Kritik etwa Bohnens Bildfeld, das einen leeren Rollstuhl vor einem 50er-Jahre-Radio mit magischem Auge und einer Pinnwand von Erinnerungszeichen unterschiedlicher Kontexte zeigt. Verwiesen wird auf die Memorialfunktion der Verbrecherkartei, der Staatsikonographie, der Zuwendung zu Nächsten und Liebsten, zu Identitätsmarkern wie Passphotos oder zur Erinnerung an die nie wieder erreichbaren Orte des Glücks wie Heimat, Paradies und Frieden. In der Erinnerung kompensieren wir den Verlust von Möglichkeiten aktueller Bewegung oder Handlung, zugleich aber lähmt diese Fixierung auf das Gewesene. Wer seine Erinnerung auch verkörpert, wird wohl sehr häufig zum Krüppel; zugleich ist die Erinnerung das Hilfsmittel zur wenigstens teilweisen Kompensation eben jener Einschränkung der Freiheit und der Zukunftserwartung. Das Inkarnationsgeschehen wird auf der ebene des Betrachters angesprochen, der ja weiß, daß er nicht, wie stets behauptet, in virtuellen Welten zu leben vermag, also stets durch körperliche Bedürfnisse genötigt werden wird, seine Unterwerfung unter Repräsentationscodes und Rollenschemata zu durchbrechen. Selbst der Kaiser kann bei der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse nicht vermeiden, selbst zu kloakieren, so sehr er auch darauf in seiner Rolle festgelegt ist, die Welt zu repräsentieren und ununterbrochen seine Rolle durchzuspielen. Den Funktionsregulativen für die Erfüllung der Einheit von Inkarnation, Inkorporation und Repräsentation als Lebensvollzug spürt Bohnen in den vielen Beispielen des Wandels von Herrschaftsikonographien im Ostblock nach. Besonders interessant ist dabei die kuratorische Konstellation von Sozialismus (als Verpflichtung auf soziale Evolution) einerseits und das Ausdruckspotential der Art brut zwischen Negerplastik, Eingeborenenritualen und Werkschaffen der Geisteskranken und Kinder andererseits. Beides, Sozialismus und Art brut der unverstellten menschlichen Ausdrucksfähigkeit prägte die Moderne in der Kunst, in Architektur, Design, Musik, Tanz und Theater. Das läßt sich heute als Programm des Fortschritts durch intentionale Rebarbarisierung kaum noch sinnfällig erfahren oder aus eigener Anschauung bewerten – außer in eben jenen Sammlungs- und Präsentationskonstellationen, wie sie Bohnen zu schaffen versteht: ohne jede institutionelle oder korporative oder kollegiale Rückbindung, Stützung oder Förderung durch ein zeitgenössisches Jena, Weimar, Florenz, Oxford oder Harvard, wo das Gefüge wirkmächtiger Akteure aus sich heraus, als objektiver Geist mühelos Wahrheiten als abnickbare Evidenzerlebnisse geschaffen haben soll. Einen solchen Gründermythos macht Bohnen in seinen Arbeiten sichtbar. Aber eben als retrospektive Illusion (Marian Füssel). Und Bohnen zeigt zugleich, wie wir im aktuellen Handeln und Verhalten uns durch die Aussicht bestimmen lassen, in zukünftigen Rückblicken möglichst eine jetzt wünschbare Rolle zu spielen, repräsentiert in museal-gehüteten Artefakten, nach dem es uns noch gelang, trotz harter Arbeit an dieser Aussicht in der Weltaneignung zu luxurieren. Bohnen ist auf diesem Wege als Künstler, Sammler und Gelehrter schon erstaunlich weit gekommen. Und er wohnt in Belgien, weil dort bekanntlich durch exquisite Küche die Inkarnationsverpflichtungen besondern lustvoll erfüllt werden können.