Vortrag / Rede Verbindliche Maßstäbe auch in der Gegenwartskunst?

Zur Entdeckung des Decorum in der Moderne.

Vortrag im Rahmen der Tübinger Tagung zur 'Bildrhetorik' (Tübinger Rhetorikgespräch); 04. und 05.10.2010

Termin
04.10.2001

Veranstaltungsort
Tübingen, Deutschland

Veranstalter
Universität Tübingen

Transkript

Grundlegend für die Erörterung von Rhetoriken in der Moderne ist die Frage, inwieweit innerhalb der ihnen zugrunde gelegenen oder sie überführende Decorumsysteme die Orientierung auf die Durchsetzung des Ernstfalls oder auf die Durchsetzung des Ernstfallverbots abgehoben wird. Das ist die grundlegende Unterscheidung schlechthin. Das gesamte kulturelle Spektrum, von Aktivitäten in der Malerei, über die Ausstellung, die Musik, den Kanon der Architekturen etc. läßt sich besten danach sortieren, wie weitgehend ihre Verfasser, Kuratoren oder Ausstellungsmacher sich entweder den Barbaren als Kulturheros zum Vorbild der eigenen Aktivität wählt oder aber das Paradigma des verbotenen Ernstfalls durchzusetzen versucht.

Nun gibt es in der Typologie der Künstler und Aktivisten im Bereich der Kunst in jedem Jahrhundert, das sich diesen Vorgaben verschrieben hat, die Entwicklung einiger besonderer Tätertypen und besonderer Aktivisten für die Durchsetzung des einen wie des anderen Sachverhaltes. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht die Frage: Wie sieht eigentlich der Aktionstypus aus, von dem wir die Durchsetzung des Ernstfallverbotes erwarten und auf den wir uns heute konzentrieren, wenn wir den Ernstfallverbot diskutieren müssen. Nicht nur um weltweit etwa die Durchsetzung der Menschenrechte zu ermöglichen mit bekannten Programmatiken, wenn wir die kulturelle Identitätspolitik einschränken wollen, wenn wir die Erpressungsloyalitätspolitik der Multikultur einschränken wollen, wenn das absehbare Desaster der multikulturellen Erpressungsthematiken mit dem Ernstfallgebot Kopf ab, Selbstmord, Märtyrerdasein etc, eingeschränkt werden soll. Und wenn sie nicht eingeschränkt werden, dann sind wir ohnehin mit unserem Latein am Ende. Dann brauchen wir auch nicht mehr nachzudenken. Dann können wir diese fröhlichen Zustände der wechselseitigen Überbietung in Barbarei der kulturellen heroischen Aktivitäten fortsetzen und da steht dann nur noch die Überbietung etwa stalinistischer oder hitleristischer Faschismen an. Der neueste Faschismus, etwa der islamische Fundamentalismus universaler Geltung, macht heute große Anstrengung das Beispiel Stalin und Hitler zu erreichen und möglicherweise zu überbieten, sowohl theoretisch wie auch praktisch. Zumindest in absehbarer Zeit. Ob das tatsächlich aber zu erwarten ist, das hängt davon ab, ob man inzwischen zu anderen Paradigmen übergehen kann, die überzeugender sind.

Im 18. Jahrhundert entstanden Aktivistentypen für die Repräsentation wie auch die Inkorporation der Modernität in diesem Sinne, das heißt des Kampfes zwischen Durchsetzung des Ernstfalls als Letztbegründung (Kopf ab) und auf der anderen Seite der Durchsetzung des Ernstfallverbots, die strickte Reversibilität als zentrale Größe des Maßes kulturellen Handelns. Im 18. Jahrhundert finden wir die Aktivistenfigur des philosophe. Das ist nicht der Philosoph, sondern der philosophe im französischen Sinne, also jemand, der an alltagspraktischen Erörterungen interessiert ist. Das ist die direkte Aufnahme des Sophisten im antiken Sinne (die unselige Art der Intervention von Sokrates und Platon war schließlich überwunden worden), in heutige Position etwa die von Richard Rorty, um nur einen aktuellen Namen zu nennen. Wir alle können uns ja nur noch mit Vernunft definieren, wenn wir uns als Sophisten definieren, allerdings in zeitgemäßer Ausprägung dieses Aktionstypuses. Also Aktionisten der Reversibilität. Der Alltags-philosophe war jemand, der mit den Mitteln der Aufklärung, wie sie etwa in der Enzyklopädie vorgegeben wurden, vom Ackerbau bis zur Wohnungseinrichtung, in sehr radikaler Weise das Decorumsystem erfüllte. Es ging nicht mehr um Wahrheit, Schönheit oder Gutheit, sondern es ging um Wahrscheinlichkeit, um Billigkeit und Angemessenheit. Die ganze Enzyklopädie ist eine einzige Ausprägung eben dieser drei zentralen Kategorien, des Renaissance-Decorumsystems albertischer Prägung – Billigkeit, Angemessenheit und Wahrscheinlichkeit. Innerhalb derer operiert ein Sophist. …
Absolut Setzung Letztbegründung, Wahrheit, Schönheit oder Gutheit steht also zu den epistemologischen, ethischen und ästhetischen Dimensionen.

Diese philosophes haben also gezeigt, wie man in praktischer Absicht im Hinblick auf Billigkeit, Angemessenheit und Wahrscheinlichkeit argumentiert und damit Bewertungssysteme für kulturelle Aktivitäten wie Ackerbau, Viehzucht, Architektur oder medizinische Dienste schafft, also alles das, was die Enzyklopädien tatsächlich abhandeln. Das gleiche galt natürlich für die Erzieherpersönlichkeit, etwa die Prinzenerzieher, die sich im 18. Jahrhundert entwickeln, wie auch für die Gärtner beispielsweise, also den typischen Kultivateur des Englischen Gartens, denn der Englische Garten ist ja die Kulturlandschaft, in der das Decorumsystem der Angemessenheit, der Billigkeit und der Wahrscheinlichkeit vor Augen geführt wird –
strickt gegen die französische Setzung bzw. dem Französischen Garten, in dem Geometrie und Wahrheitsansprüchen anderer Art Ausdruck finden. Das gilt natürlich auch für die Salonisten, also Salonmitglieder und ihre Diskursgemeinschaften, wie eben auch für die Entdecker, egal, ob sie da einen Typus wie Cook wählen oder in kleinerem Maße jemanden wie Goethe.

Im 19. Jahrhundert treten zu diesen Aktivisten etwa der Journalist, der Parlamentarier und der Lehrer, der Intellektuelle und der Unternehmer, wobei in vielen Einprägungen dieser Begriffe bereits, denken wir einmal an den Intellektuellen, von vornherein die Auseinandersetzung über die Durchsetzung des Ernstfalls oder die Durchsetzung des Ernstfallverbots bereits im Zentrum steht. Als Napoleon seine Schmähungen gegenüber denen äußerte, die ihn als Theoretiker der Französischen Revolution an die Macht gebracht hatten, die das begründeten, was den Geltungsanspruch der Revolution ausmachte, beschimpfte er sie als diejenigen, die ihm jetzt seinen Machtanspruch nach der Krönung 1804 bestreiten wollten oder bestreiten würden in dieser Doppelheit von freischwebenden Intellektuellen ohne Bindung an praktische Durchsetzung der Ernstfallhandlungen, wie sie jedes Militär, jeder Politiker durchsetzen müsse (also auch der impérieux Napoleon, verantwortlich für die Liquidierung von 150.000 Mann in einer Schlacht, die ihm allerdings die Huren von Paris auch in einer Nacht wieder zeugten) und denjenigen, die bereits argumentierten, daß die Konsequenzen aus der Französischen Revolutionsparadigmatik gerade darin läge, solche kyrillischen Auseinandersetzungen in Zukunft unmöglich zu machen. So erhob sich Napoleon in seiner Schmähung der Intellektuellen eben gegen diese beiden Aspekte freischwebender Intellektueller, die auf Reversibilität tendiert: einerseits Vermeidung des Ernstfalls und andererseits der Ausrichtung auf Durchsetzung des tödlichen Ernstfalls.

Die ganze Polemik, die er gegen die Intellektuellen startete und die von da ab gegen die Intellektuellen gestartet wurden, prägten auch bis Mitte des 20. Jahrhunderts etwa das Dritten Reich, spielten aber auch in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 50er und 60er Jahre noch eine entscheidende Rolle. Die ganze Auseinandersetzung blieb auf dieser Ebene fixiert. Das gleiche galt für die Journalisten und für die Parlamentarier, die bis heute auf dieser Ebene fixiert werden. Die Auseinandersetzungen, die sich etwa unter den Grünen in den letzten drei Wochen oder den bundesrepublikanischen Parlamentariern in Berlin abgespielt haben im Hinblick auf Kosovo-Einsatz oder Afghanistan-Einsatz, wurden genau noch mit diesen Argumenten betrieben, so daß der tatsächliche Modernitätsanspruch in der Konfrontation von Durchsetzung des Ernstfalls und Vermeidung des Ernstfalls sich in der Wilsonschen Figur zusammenschließen gemäß seinem Motto: Wir müssen mit Ernstfall-Maßnahmen intervenieren, um den Ernstfall zu verhindern. Das heißt, wir müssen töten, um das Töten zu beenden. Das ist die große synthetische Figur, die eigentliche Leitfigur aller Decorumordnungen der Moderne. Die Intervention mit Mitteln der Durchsetzung des tödlichen Ernstfalls zur Verhinderung eben diesen tödlichen Ernstfalls und zur Beförderung der Durchsetzung des Ernstfallverbots. Denn alle Zivilisation bemißt sich an der weitergehenden Durchsetzung des Ernsfallverbots. Das schließlich umschreibt die Charta der UNO, die Menschenrechtsfrage, die Individualitätsfrage, die Persönlichkeitsentfaltungsfrage etc.

Im 20. Jahrhundert kommen in dieser Auseinandersetzung Aktivistentypen, Tätertypen hinzu, wie sie der Trainer, der Therapeut, die Programmatiker, Funktionäre und die Teams der Beweger darstellen. Aber auch sie kennzeichnet diese Auseinandersetzung. Denken sie nur an den harmlosen Fall des Trainers. Hier geht es um die harmlose und naive Auseinandersetzung, ob nur jemand Trainer sein kann, etwa einer Fußballmannschaft, wenn er auch selbst Fußball zu spielen versteht, das heißt also selbst den Ernstfall dieses aktionistischen Modells an sich selbst körperprogrammatisch, mental realisieren kann oder kann jemand Trainer sein, der seinerseits nie Fußball gespielt hat. Kann nicht möglicherweise jemand ein viel besserer Trainer von Fußballmannschaften sein, der nie selber gespielt hat? Diese Auseinandersetzungen sind gebunden an die Entwicklung dieser Tätertypen und ihre Rollen als Programmatiker-Funktionäre. Man denke an die Auseinandersetzung von Gropius um diese Fragen aus Anlaß der Wiedereröffnung der Hochschule in Ulm. Das war in seiner Rede von 1955 das zentrale Argument für und gegen Ulm zugleich, also für und gegen den Ansatz der Ulmer Nachbauhaus-Gründung zugleich.

Wenn man diese Bewegungen alle jetzt sozusagen subsumieren und fragt, welches ist der Repräsentant der modernen Vorstellungen im Sinne der Durchsetzung des Ernstfallverbots, dann kommt man auf eine sehr ridiküle Antwort, eine vielleicht auf den ersten Blick etwas problematische Antwort, nämlich zu sagen: Der Repräsentant eben für diesen Versuch der Durchsetzung des Ernsfallverbots in Aspekt der modernen Konfrontation mit der Durchsetzung des Ernstfalls als Letztbegründung und der Figur, den Ernstfall durchsetzen zu müssen, um ihn zu verhindern, also Krieg zu führen, um Kriege zu beenden, das Argument von Wilson bis in die Gegenwart, ist der Künstler. Und das ist jetzt mein Angebot an sie im Hinblick auf die Frage: Wer trägt denn heute eigentlich dieses Decorum? Wer trägt also in diesem Sinne die Rhetorikentwicklung seit der Renaissance? Betrachten wir zunächst einmal den Bruch in der Entwicklung um 1800. Der Bruch kam ja nur zustande, weil das alte Decorumsystem seine Schließung nicht erreichte, das heißt die Ergänzung um den Teil der reversiblen Ebenen, der spielerischen Handlungen, des Widerrufs, der Handlung auf Probe, des Experiments nicht kannte. Es mußte mit der Einführung des Experimentierens als einer Handlung mit Folgen auf Widerruf, auf Widerrufen der Handlung (denn sonst ist etwas kein Experiment, wenn ich die Konsequenzen, die dabei entstehen, nicht widerrufen kann und es neu beginnen kann) also ergänzt werden.

Es scheint verwirrend zu sein zu meinen, daß der Künstler der zentrale Aktionstypus dieser Art von Modernität sei. Und zwar ausgerechnet natürlich in der Form, die ihm Beuys gegeben hat. Wobei es also nicht mehr darauf ankommt, daß als Künstler verstanden wird, wer malt, wer plastiziert, wer Architektur oder Musik betreibt etc., sondern unabhängig von dem, was er de facto in seinem Metier tut, ob er Chemie betreibt oder Malermeister ist, etc., Künstler ist, im Beuys’schen Sinne, jedermann, der als von diesen Bewegungen der Modernität, unter dem Modernitätsanspruch stehend, gezwungen ist, ein Aussagenanspruch ausschließlich durch sich selbst zu begründen und sich nicht mehr auf Begründungsautoritäten verlassen und berufen kann. Im Unterschied etwa zur Wissenschaft oder anderen Bereichen, in denen das notwendig ist. Wenn sie als Parteimitglied einen Aussagenanspruch begründen wollen, vor Publikum, dann müssen sie sagen: Ich bin von der Partei in dieser Rolle delegiert ihnen mitzuteilen, ich bin approbiert, delegiert, ich spreche im Namen von, ich rezitiere jetzt einen Beschluß eines Gremiums etc. Sie berufen sich also in der Begründung ihres Aussagenanspruchs auf das, was hinter ihnen steht. Wenn sie in wissenschaftlicher Absicht einen Aussagenanspruch etwa vor Gericht geltend machen wollen, um zu vermeiden, daß sie wegen gefährlicher Handlungen, etwa als Mediziner wegen tödlichen Konsequenzen, bestraft werden, dann wissen sie, was dabei herauskommt, dann müssen sie reklamieren, daß sie state of the art gehandelt haben, also nicht aus sich selbst begründet diesen Anspruch vortragen, sondern als das, was mindestens eine hinreichend große Anzahl von Kollegen genauso tut. Eben was state of the art ist, was im Bereich einer bestimmten Ausrichtung von Problematiken von einer hinreichend großen Anzahl von Leuten für richtig gehalten wird. Wenn sie als Marktorientierter einen Aussagenanspruch begründen wollen, etwa im Bereich der Popkulturen, dann werden sie sich stets auf den Abverkaufserfolg, auf die hinter ihnen stehenden Kapitalien beziehen, auf die Unternehmen, die sie vertreten, auf die Abverkaufsraten, auf die Einschaltquoten, die sie erzielt haben. Und in dem Maße, wie sie ihre Einschaltquoten und Abverkaufsraten zitieren können, wird ihr Anspruch glaubhaft. Denn wenn sie hier stehen und sagen, ich habe bereits zwei-, drei-, viermal diese Einschaltquoten erreicht, diese Abverkaufsraten erreicht – bitte glaubt mir jetzt, wenn ich dieses neuen Anspruch auf Finanzierung eines neuen Projektes gegen euch erhebe, dann wird natürlich dieser Erfolg umso größer sein, als man eben tatsächlich den bisherigen Markterfolg zugrunde legen und aufrechnen kann.

Alles das gilt für den Bereich der Kunst nicht, das heißt für diejenigen modernen Repräsentationen, die wir als künstlerisch verstehen oder von Künstlern begründet verstehen, unabhängig von dem Metier, das sie betreiben. Wer seinen Aussagenanspruch ausschließlich aus sich selbst begründet, ist ein Künstler. Wer also nicht sagt: Hinter mir steht ein Volk, Millionen Einschaltquoten oder Abnehmer, eine Partei, Kapital etc., ist damit ein Künstler – mit der Begründung eines Aussagenanspruchs ausschließlich aus der Beispielhaftigkeit dessen, der spricht, ohne jede Gewalt, Sanktionsdrohung oder Belohnungsdrohung, denn er kann weder belohnen noch bestrafen. Es ist merkwürdig, daß man Menschen zuhört, die, in diesem Sinne als moderne Künstler thematisiert und gekennzeichnet, von vornherein zu verstehen geben, daß ihnen nicht zuzuhören keine Sanktionen nach sich zieht, ihnen zuzuhören in bestimmter Hinsicht keine erwartbaren Belohnungen nach sich zieht, sondern überhaupt keine Konsequenzen hat. Das heißt also jemand spricht ausschließlich aus der Legitimation des Beispiels, das er damit gibt, daß er jetzt als Einzelner, als Individuum spricht. Und offensichtlich liegt darin ja auch die tatsächliche Begründung dieses Modernitätsanspruches, daß der jemand als singuläre, individuelle Erscheinung spricht, das heißt als jemand, der den Geltungsanspruch seiner Aussagen ausschließlich aus sich selbst begründen muß.

Und das ist in der Tat, wie die Soziologen (denken sie nur an die von Ulrich Beck propagierte Reihe der zweiten Moderne und der Konsequenzen, die sich daraus ergeben) so genannte oder so identifizierte (...knacks) Prämie für die außerordentlichen Rollenträger der Künstler als Bohème beispielsweise, die permanente Selbstverwirklichung betreiben konnten, die aufstanden und zu Bett gingen, wann sie wollten, die aßen oder nicht aßen, wann sie wollten, die sich kleideten wie sie wollten, die also eine ungeheure Lust an der Selbstverwirklichung ihrer singulären Individualität betrieben und damit natürlich auch eine Präsentation ihres Persönlichkeitsausdrucks.

Das ist aber stets verwechselt worden (noch bis in die 70er/80er Jahre, siehe Yuppie-Zeitalter der 80er Jahre) mit dem, was soziologisch tatsächlich beschreibbar ist als entscheidende Bewegung. Statt Selbstverwirklichungsbohéme oder Selbstverwirklichungslustbarkeit war es Individualisierungsszwang. Das heißt der Druck, der auf allen Repräsentanten der Moderne liegt, besteht im Hinblick auf objektiv vorgegebene Sachverhalte in ihren Entscheidungen, diese ausschließlich aus sich selbst heraus und durch sich selbst zu begründeten und damit zu verantworteten. Das heißt die Notwendigkeit, sich nicht mehr mit Berufung auf Größen wie Experten vor der Entscheidung zu drücken, wie man sich angesichts einer gegebenen Situation verhält. Denn es gehört zum Wesen jeder Expertise, daß mindestens eine Alternative, meistens mehrere, existieren und die Erfahrung ist längst gemacht worden, daß bei Berufung auf Experten die Begründung einer Entscheidung nicht mehr möglich ist, weil Experten – gleich glaubwürdig, gleich gut begründet, gleich gut approbiert, delegiert, promoviert etc. – ganz unterschiedliche Aussagen machen; der eine für, der andere gegen.

Die Anforderung an die Individuen im Kontext dieser Entwicklung eines modernen Decorums, weder mit Bezug auf höchste Richter noch auf politische Autoritäten, noch auf Lehrer oder patriarchalische Gewalt, auf Konventionen, Traditionen etc., ist nicht, die Entscheidung zu begründen, die sie im Hinblick auf eine konkrete Anforderung treffen, sondern tatsächlich Verantwortung zu übernehmen, in der absoluten Bodenlosigkeit, die dieser Entscheidungen zu Grunde liegen. Das alte deziosonistische Modell – die absolute Bodenlosigkeit, d.h. die Nichtbegründbarkeit aus letzten, absoluten Gründen und damit eben der Notwendigkeit, Verantwortung tatsächlich als das aufzufassen, was sie zu sein hat, nämlich die Begründung aus der Beispielhaftigkeit der Konsequenzen, die sich bei jemanden ergeben, der sich so und nicht anders entscheidet; als verantwortlich für seine eigene Entscheidung, nicht mehr fremden Kräften, höheren Mächten, dem Schicksal folgend, sondern sich ausschließlich auf seine Entscheidung berufend, also auch dafür die Verantwortung übernehmend.

Jedermann ist ein Künstler, das heißt jeder ist gezwungen, Repräsentant dieses Aktionstypus der Modernitätsduchsetzung zu sein, weil er gezwungen ist, ohne Verweis auf Letztbegründungen, Autoritäten etc. Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung zu übernehmen. Das ist das Kernstück der modernen Decorumordnung. Wir stehen unter Individualisierungszwang im Hinblick darauf, daß wir auf keine Weise, anders als in der eigenen Entscheidung, die Verantwortung begründen können für die Art, wie wir uns entscheiden und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Es ist also sozusagen eine Eichung aus dem Universaldilettantismus, aus der Ahnungslosigkeit und der Kenntnislosigkeit, die uns inzwischen aufgenötigt ist. Und das ist eine soziologisch unbestreitbare Tatsache, in vielen Hinsichten von Alltagsmenschen heute ja längst beobachtbar. Wenn sie krank sind und in die Klinik gehen, unterschreiben sie dem Arzt, daß sie die Verantwortung für die Therapiemaßnahmen übernehmen, die er mit ihnen anstellt. Obwohl sie doch sagen: Hören sie mal, der Fachmann sind sie doch und nicht ich. Wie kann ich eine Verantwortung für eine medizinische Maßnahme übernehmen, von der ich nicht einmal weiß, wie sie zu bewerten ist im Hinblick auf alternative Möglichkeiten. Sie unterschreiben als derjenige, der nur entscheiden kann in der absoluten Bodenlosigkeit seiner medizinischen Ahnungslosigkeit, weil es hier um eine Entscheidung in rechtlicher Verbindlichkeit für die Versicherungen geht und nicht im Hinblick auf Wahrheitsansprüche. Und das prägt eben die Modernitätsanforderungen. In dem Maße, wie wir uns tatsächlich noch in Kleinstbereichen selber zu spezialisieren vermögen, also im Hinblick auf Wahrheitsansprüche Aussagen begründen können (und es ist ein minimaler Prozentsatz, der prozentual im Sinne unserer kulturellen Alltagsaktivitäten nicht mal meßbar ist) und in dem Maße, wie wir in diesem unmeßbaren Zusammenhang selber Experten, Spezialisten werden, werden wir in allen anderen Bereichen zu Dilettanten. Das heißt je mehr die Moderne nur funktionieren konnte durch die Spezialisierung auf diese Bereiche, gründete sich die Gesamtordnung der Bewertungsmaßsstäbe auf den allgemeinen Dilettantismus. Denn auch ein hochspezialisierter Kenner bestimmter Nierenproblematiken ist dann schon in allen anderen Bereichen der medizinischen Kenntnisse ein Universaldilettant wie wir auch und unterscheidet sich nicht wesentlich von dem allgemeinen medizinischen Dilettantismus, der auf der Ebene von Bunte-Leserei oder medizinischem Feuilletonismus basiert. Wir sind also gezwungen, in diesem Maße, in dem wir uns spezialisieren, anzuerkennen, daß die Entscheidung, die wir zu treffen haben, tatsächlich unter Gesichtspunkten einer allgemeinen Ahnungslosigkeit, Erfahrungslosigkeit und Unfähigkeit, alternative Expertisen zu treffen, entschieden werden.

Diese Art von Bodenlosigkeit in der Begründung von Entscheidungen unter der Übernahme von Verantwortung ist eben kennzeichnend für die Decorumordnung. Das heißt die moderne Decorumordnung ist überhaupt nur notwendig, weil es eben keine Letztbegründungen mehr gibt. Das Decorum ermöglicht die Eichung am verbotenen Ernstfall gerade, weil es keine Eichungsgröße absoluter Art wie den Ernstfall Kopf ab oder welche Irreversibilität auch immer gibt. Wir sind also geradezu gezwungen, uns ein neues rhetorisches Decorumsystem anzueignen bzw. sich ihm zu unterwerfen, in dem Maße, in dem sich herausstellt, was Modernitätsanspruch in der Durchsetzung der Geltungsansprüche eigentlich bedeutet. Das ist der Kernpunkt, unter dem die heutigen Entwicklungen im Bereich der Künste auf den verschiedensten Ebenen gesehen werden sollten.

Ich will nur einen Bereich herausgreifen, in dem sie zwischen dieser Bewegung der parallelen Welten, also Durchsetzung des Ernstfall und Durchsetzung des Ernstfallverbots, arbeiten müssen. Denken wir nur an die Bodenlosigkeit unserer allgemeinen postmodernen Auffassung über das Horizontloswerden unserer Urteile der Alles-geht-Maxime (natürlich nur wenn es geht, wenn es nicht geht, geht es nicht), alles ist machbar, alles ist möglich, alles ist beliebig geworden, alles ist gleichgültig geworden, etc. Unter diesem Gesichtspunkt der Durchsetzung einer neuen Decorumordnung ist das ganze Gegenteil der Fall. Nie hat es eine Ausschließung eben dieser Beliebigkeiten in einer so radikalen Weise gegeben wie heute. Das neue Decorum innerhalb der Kunstkultur zeigt das sehr deutlich unter dem Stichwort „Gott und Müll“. Denn wo beispielsweise bisher in den alten kulturellen Eichungssystemen der Gottesbegriff oder die an ihn geknüpften sozialen Institutionen wie etwa Kirchen und Glaubensgemeinschaften das Zentrum der Eichgrößen darstellten (alles wurde gemessen an dieser zentralen Größe, wie Ewigkeitsvorstellung, Schöpferkraft, Allmacht und Perfektion) wird das heute am Beispiel des Mülls getan. Nur hat der strahlende Müll eine für uns viel direktere, unmittelbare Wirkung auf unser kulturelles Decorum, als je eine Gottesvorstellung sie je auf eine Kultur gehabt hat. Denn was war schon eine kulturelle Tausendjährigkeits-Vorstellung historischer Machart, wie die Tausendjährigkeit von Byzanz, Venedig, den Etruskern oder dem Dritten Reich? Was waren diese Ewigkeitsvorstellungen kultureller Maßstäbe, was waren diese Eichgrößen der kulturellen Ewigkeiten im Vergleich zu 15.000 Jahren Halbwertzeitstrahlung, die unser Gott, nämlich der strahlende Gott und Müll, uns aufzwingt? Es gibt keine Freiheiten mehr gegenüber diesem Gotte. Er verlangt gebieterisch, daß unsere gesamte kulturelle Ordnung unter das Decorumsystem der Ewigkeiten mindestens 15.000jähriger Halbwertzeiten gestellt wird. Es gibt bereits in Amerika seit zehn Jahren eine Kommission der Regierung, an der alle Künstler, Anthropologen, Kulturwissenschaftler, Zeichentheoretiker, Philosophen beteiligt sind, und auch wir waren beteiligt, die diesem Decorumsystem gilt, etwa in der Beschreibung einer gestalterischen Zurichtung eines Areals, in dem dieser strahlenden Müll Entzeit-gelagert wird, also in einer Endlosigkeitslagerung untergebracht wird. Denn hier ist nicht nur die materielle, physische, existenzielle Gestaltung wie die Dicke der Betonwände, die nach 300 Jahren zerbröseln, von großer Bedeutung, sondern die Kennzeichnung dieses Areals, die kulturelle Lesbarkeit ist von großer Bedeutung. Denn es bedeutet, daß nicht nur nach 50 Jahren, nach 200, nach 1000 Jahren Menschen, unsere potentiellen Nachfolger, in der Lage sein sollen, zu interpretieren, was wir das hinterlassen haben als strahlenden Müll in einem Territorium, sondern nach 15.000 Jahren! Auch wenn sie sagen, was interessiert uns das, wir hoffen, daß die Welt längst untergegangen ist in 15.000 Jahren, deswegen sind wir ja Agenten der Modernität, sind wir Fundamentalisten, sind wir Terroristen und sorgen dafür, daß die Apokalypse möglichst bald ereignet, damit wir diese Probleme nicht mehr haben. 15.000jährige Gottesvorstellung als verbindliche Kulturdimension, als Eichungsgröße, das hat es in der Weltgeschichte noch nie gegeben. Die gibt es aber jetzt. Wir leben in einem Decorumsystem, dessen zentrale Größe 15.000 Jahre Halbwertzeit für strahlenden Müll darstellt. Wir geben uns mit 1000 Jahren gar nicht erst ab, kommen aber schwachstrahlend allen Vorstellungen von Ewigkeit im historischen Kontext sehr entgegen, auch wenn die Ewigkeit nur 12 Jahre war. Wir wissen, was das heißt, heute ein 12 Jahre Containment für kulturelle Aktivitäten in diesem Bereich aufrecht zu erhalten, wir wissen, was das bedeutet.

So stellen wir unser gesamtes kulturelles System modernistisch, postmodern oder wie auch immer von Gott auf Müll um, stellen die großen, perfektionistischen Madonnendarstellung, Kathedralendarstellung, perfekter Malerei und Bildhauerei um auf Müllhaufen, Fettskulpturen, Bruchstücke à la Beuys, Dieter Roth etc., die uns sozusagen schon den verschimmelten Abfall als Kunst präsentiert. Wir stellen um von Perfektibilität Raffaelschen Zuschnitts auf Müll Dieter Rothschen Ausmaßes. Damit erreichen wir jedoch tatsächlich das ganze Gegenteil von dem, was wir angeblich gewärtig haben, nämlich Maßstabslosigkeit, Verlust aller Verbindlichkeit in der Kultur, einstürzende Sinnhorizonte. Wer Gott gegen Müll tauscht – und das hat die Moderne Kunst gemacht – zieht ein Decorumsystem ganz eigener genuiner Größe und Verbindlichkeit auf, die Kulturen, die wir historisch kennen, bisher überhaupt nicht kannten. Vielleicht im Hinblick auf abstrakte Begriffe wie Unsterblichkeit oder Ewigkeit als theologische Dimensionsbegriffe, nicht aber de facto als wirkliche Eichgröße für die Kultur. Das aber ist für uns der Fall.

Wir sind also nicht nur auf diesen Umschlag von Barbarei der Kulturheroen in die Zivilisationsleistung der Verhinderter des Ernstfalls und der Durchsetzung des verbotenen Ernstfalls angewiesen – auf diese alte Auseinandersetzung, wie sie Thomas Mann in Betrachtung eines Unpolitischen etwa in den Dimensionen deutscher Kultur und französischer Zivilisation dargestellt hat. Und die heute wieder verbindlich geworden ist, in universaler Zivilisation und regionaler kultureller Identitäspolitik mit Barbarentum des religiös und sakralrechtlich begründeten Selbstopfers, Märtyrertums, Vernichtung der Gegner, der Ungläubigen und was immer ihnen beliebig einfällt. Wir sind es in einem viel höheren Maße gerade auf der Ebene, sind gerade da in einem neuen Decorumsystem verbindlichster Ordnung eingetreten, wo wir, wie im Bereich der Bildenden Kunst allgemein üblich, angeblich alles aufgegeben haben, was je Maßstäblichkeit oder Verbindlichkeit in irgendeiner Weise begründen könnte. Und warum? Eben gerade wegen der tatsächlichen Bodenlosigkeit und Unmöglichkeit letztbegründlicher Instanzen: Anrufung für unsere eigene Entscheidung. Wir sind in Hinblick auf das Hinsehen oder Wegsehen eines Werkes, das liegt oder steht, zerfallen oder fragmentiert, irgendwo uns vorgeführt wird, selbst verantwortlich. Wir können nicht mit dem Urteil gut oder schlecht, schön oder häßlich unsere Zuneigung oder Ablehnung begründen. Zwar im Hinblick auf die Meinung vieler anderer dazu unser Wegsehen oder Hinsehen, aber urteilen müssen wir ausschließlich aus der eigenen Verantwortung, weil es diese Maßstäbe nicht gibt. Diese nichtvorhandenen Maßstäbe setzen aber den Verbindlichkeitsanspruch im Maßstab etwa der Austauschbarkeit bzw. Ersetzung von Gott und Müll.

Wir haben also ein Decorumsystem in den Künsten, das sie in jeder Ausstellung, in jeder kulturellen Praxis, in den Tätigkeiten in den Ateliers, in der Vermittlungsaktivität, in der Kunstkritik, in der Kunsttheorie, in den allgemeinen Bildwissenschaften nachhalten können, sogar deutlich als die zentrale Problemstellung herausarbeiten können. Grundlage der Begründung ist der verbotenen Ernstfall, die Durchsetzung einer universalen Zivilisation gegen die Kulturbarbarei – von der Substituierung der alten sakralrechtlichen Gottbegründung zum Müll des modernen Resultats unserer Aktivitäten. Denn alles, was wir als moderne Aktivitäten in dieser Welt, in der Natur anrichten, ist ja Vermüllung. Es gibt ja gar keine andere Aktivität als Vermüllung. Wir haben ein neues Decorumsystem, das längst in Geltung geraten ist. Das merkwürdige ist, daß es aber gerade von denen, die längst unter Individualisierungszwang stehen, offensichtlich immer noch nicht hinreichend verstanden wird, sie sich immer noch einbilden, die Konfrontation der Kunst wäre eine Art von Selbstverwirklichungsvergnügen, dem sie sich opfern, hingeben oder es auch sein lassen könnten. So ergibt sich eine merkwürdige Brechung. Die Leute, die im Bereich der Medizin wissen müßten, was der Fall ist im Kulturbereich, im engeren Kunstbereich, noch nicht in der Lage sind zu begreifen, worum es geht (vergleichen sie erwähnte Unterschrift des Patienten, die anfangs der Behandlung zu leisten ist und mit der er selbst die Verantwortung für die Behandlung des Arztes übernimmt). Sie klagen immer noch: diese Vermüllungskünstler, diese Sataniker, diese maßstabslosen, kenntnislosen, unverbindlichen Formulierungen, diese Aufgabe jeder Tradition, dieses Herabspielen jedes Maßstabs zu bloßen Beliebigkeit! Obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Ein weiteres Beispiel aus dem Kulturbereich Eichungssystem Moderne ist die Vorherrschaft der Avantgarden in der Moderne, zumindest im 20. Jahrhundert. Im Unterschied zu der allgemeinen Auffassung, daß gerade durch die Beliebigkeit dieser aktionistischen Avantgarden, von den italienischen Futuristen bis zur Fluxus beispielsweise, alles zerstört worden sei, was vorher Anspruch auf Geltung im Namen von Traditionen oder approbierten Decorumsystemen der klassischen Ordnung gehabt habe, haben gerade das Obwalten dieser Avantgarden dafür gesorgt, daß in einem solch hohen Maße Traditionen vergegenwärtigt wurden, wie es bisher in noch keiner Epoche der Kulturgeschichte je der Fall gewesen ist. Weder in der hellenistischen Epoche noch in der Renaissance – obwohl sie renaissance ja hieß – ist in dem Maße traditioneller Bestand der kulturellen Produktion, vornehmlich der kunstkulturellen Produktion, als Gegenwartsressource aktiviert, präsent gehalten und vergegenwärtigt worden, wie im 20. Jahrhundert durch die Tätigkeit der Kunstavantgarden. Das heißt, je exzessiver der Neuigkeitswert und damit die Bestimmungslosigkeit der Kunst war, desto notwendiger war es, sich auf das Bekannte und Alte zurückzubeugen, in dem Maße, wie man sich mit dem Neuen konfrontiert sah. Das Beispiel bekanntester Art ist die expressionistische Schmierantenkunst. Als man sich mit ihr konfrontiert sah und sie als völlig phrasenhaft, leer und unbestimmt fand, mußte man sich zurückbeugen auf die dagegen verteidigbaren historischen Bestände. Dabei stieß man per Analogie – und Menschen operieren nun einmal per Analogie – etwa auf El Greco und sah plötzlich in El Greco einen Zeitgenossen der Expressionisten, jemanden, der, wie man sagt, geahnt habe, was da käme. Sie sahen also in ihm jemanden, der das Potential historischer, traditioneller, vergangenheitlich bestimmter Aktivitäten für die Zukunft, vermittelt auf die jeweilige Gegenwart, besaß. Der also als historische Figur zwischen 1614, seinem Todesjahr, und 1900 total in Vergessenheit geraten war, den niemand mehr kannte, niemand mehr schätzte, der in keinem Museum zur Geltung kam, wurde dann vergegenwärtigt durch die Tätigkeit der Expressionisten-Avantgarde. Plötzlich war El Greco als historischer Maler eine Ressource, eine vergegenwärtigte Vergangenheit von 1900 bis etwa 1923/25, solange man avantgardistischen Expressionismus betrieb. Und das gilt für unzählige, wenn nicht sämtliche Bereiche. Erinnern wir uns an Giacometti, an seine vier großen Entwürfe von Formtopoi, die er allein auf das afrikanische Löffelmotiv gegründet hat, um zu wissen, was es bedeutet. Natürlich wäre ich nie auf die Idee gekommen, dem etwas abzugewinnen, wenn ich nicht vorher durch diese Formtopoi und der anspruchsvollen avantgardistischen Haltung eines Giacomettis gezwungen worden wäre, mir diesen Formtopoi losgelöst von dem Avantgarde-Anspruch zu vergegenwärtigen. Ohne Giacometti hätten wir keine Ahnung davon, daß es so etwas in afrikanischen Kulturen je als Formtopos gegeben hat. Wir hätten niemals den Impuls verspürt dies zu verstehen oder einzubeziehen.

Die moderne Kunst als Bestandteil der Kultur ermöglicht also die Herausarbeitung eines neuen Decorumsystems, das auf den hier eben zitierten Eckpfeilern des verbotenen Ernstfalls usw. beruht und gleichzeitig auf einen soziologisch beschriebenen Tatbestand, eben dem Evaluierungsdruck, der auf jedem Mitglied der modernen Gesellschaft liegt. Also tatsächlich ein Angebot nicht nur für Künstler, sondern für jedermann als Mitglied einer modernen Gesellschaft ist. Macht für jedermann ist das Angebot. Die Macht, die in einer Vergegenwärtigung von traditionellen, historischen Beständen in neuer Erschließung der Ressourcen für die Zukunft mündet, die man eigentlich als eine Totalvergegenwärtigung aller Vergangenheit beschreiben könnte.
Der Museumsboom ist nur ein Ausdruck für diese Durchsetzung der neuen Decorumordnung, die wir zu erkennen habe, um überhaupt abschätzen zu können. Das heißt im einzelnen eichen oder bewerten zu können, was denn einzelne Künstler tun im Hinblick gerade auf die Entwicklung dieses Decorumsystems selber. Es ist also kein Entwurf aus dem Kopfe irgendwelcher offenbarungswissen-näheren Individuen, es ist kein genie-ästhetischer Wurf eines völlig neuen Paradigmas, es ist nicht etwas Erfundenes, Ausgedachtes, es ist nicht bloß eine epochale neue Durchsetzung avantgardistischer Paradigmen, Denktraditionen oder Diskurse, sondern es ergibt sich tatsächlich aus der Entwicklung von Modernität selber und zwar in der schönen Parallelität oder Einheit von militärischen, wirtschaftlichen, medizinischen und kunstkulturellen Aktivitäten. Alle Bereiche der Gesellschaft entwickeln sich parallel auf diese neue Decorumordnung hin.

Unsere heutigen Politiker wie Scharping und Fischer argumentieren mit dem verbotenen Ernstfall im Hinblick auf die Intervention der NATO im Kosovo. Zur Beendigung des Krieges intervenieren wir mit kriegerischen Mitteln. Es wird hinsichtlich der großen Brüsseler Entscheidungen für den Zusammenschluß von Wirtschaftsunternehmen argumentiert, welche zerstörerischen und irreversiblen Folgen Monopolbildungen einer bestimmten Größe hätten, die dann eben verboten werden, um den konkurrenzkapitalistischen Auslöschungsfall des Gegners zu verhindern und um die marktwirtschaftliche Ordnung überhaupt am Leben zu erhalten. Dieser verbotene Ernstfall wird uns in der Medizin tagtäglich zugemutet – im Bezug auf das Krankmachen von Heilungs-maßnahmen, etwa durch Einnahme von chemischen Substraten.
Niemand kann leugnen, daß er inzwischen selbst unter diesem neuen Decorumsystem zu operieren hat.

Was also ist das Kernproblem in der merkwürdigen Unversöhntheit, der merkwürdigen Fremdheit der Zeitgenossen gegenüber der Kunst? Wenn wir denn überhaupt die Fremdheit noch konstatieren. Die große Zahl von Museumsbesuchern in den modernen Museen, die große Zahl der neu gebauten Museen scheinen ja dagegen zu sprechen. Aber bleiben wir einmal bei den Vorgaben einer gewissen Fremdheit oder Befremdlichkeit der Zeitgenossen, die selber längst wissen, daß sie unter diesem Druck des neuen Decorumsystems, wie zum Beispiel dem Individualiserungszwang, leben, die gegenüber der Kunstkultur herrscht. Die Frage ist, liegt das an der mangelnden Vermittlung, an der mangelnden Leistung von Kuratoren, Skribenten oder Kritikern, dem Publikum das nahe zu bringen. Liegt das an einer wohl einsehbaren, verständlichen Abwehr der Erkenntnisse, die man längst hat, etwa bezüglich der Perspektive Jedermann ist ein Künstler.
Jedoch meinte Beuys damit nicht, jede Hausfrau könne jetzt batiken, basteln und sich einen vergnügten Tag machen. Sondern es war längst klar, daß jeder den Anspruch erfüllen muß, seine Entscheidung ausschließlich aus sich selbst zu begründen, ohne Berufung auf Letztbegründungsautoritäten. Ist es sozusagen eine Abwehr gegen die Einsicht in das, was längst für einen selbst der Fall geworden ist? Woran liegt diese merkwürdige Ungleichzeitigkeit in den Entwicklungen? Wieso beschreibt man in der Kultur Kunstkultur noch als defizitär, als defizient, als Unfähigkeit der Künstler, was in allen anderen Bereichen, in der Wirtschaft, in der Politik, längst als unumgänglich anerkannt wird. Obwohl nun gerade ausgerechnet das Beispiel der Kunstkultur ja das Paradigma für diese Modernität als aktionistische Repräsentation in ein Individuum abgibt, nämlich der Künstler selber. Künstler ist, wer seinen Aussagenanspruch ausschließlich aus sich selbst begründet und hinter dem kein Volk, keine Einschaltquoten, keine Durchsetzungsstrategien, keine Werbeagenturen, keine Parteien, keine Gremien, keine state of the art-Kollegenschaften etc. steht. Und das ist glaube ich die Antwort auf die Fragen. Wir mißtrauen nämlich tatsächlich noch der Beispielhaftigkeit des Beispiellosen in der Art und Weise, wie es Künstler liefern. In der Tat ist ja jeder Künstler, der Aufmerksamkeit von uns findet, obwohl nichts hinter ihm steht. Wir mißtrauen der Begründung der Beispielhaftigkeit des Beispiellosen, soweit wir sie nicht in ein Decorumsystem einordnen können, sobald wir glauben, das sei fallweise eine nur uns betreffende oder viele andere wie uns betreffende Situation, die man aber umformulieren, beheben oder aus der man aussteigen könnte. Es kommt also darauf an, das moderne Decorumsystem in der gleichen Weise zu entwickeln, wie ein Alberti es etwa für die fruchtbarste Periode der Nachantike, also für die Zeit des 15. – 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Das ist die Aufgabe, der wir uns heute mit verbindlichem Hinweis auf die allgemeine Bildwissen-schaften, das Imaging, die visuellen Rhetoriken, die bildsprachlichen Rhetoriken stellen, nämlich den Aufbau der Kennzeichnung und die Darstellung dieses längst etablierten neuen Decorumsystems, also dieser Rhetoriken.

Darin liegt eine Art von Verbindlichkeit für das, was wir in den einzelnen Bereichen tun, wie in der Rhetorik, der Bildwissenschaft und dem Imaging, mit der Aufgabe, eine Art von Darstellung dieses neuen Systems durch Vereinheitlichung des Begriffsgebrauchs und die Vergleichbarkeit der Darstellung zu zeigen, was eben die neue Mächtigkeit dieses Decorumsystems darstellt. Denn klar ist, daß für dieses System nicht mehr gilt einfach nur zu sagen, was ist ranghoch, was ist der höchste Sakralwert, nämlich die Stadtmauer. Obwohl wir heute alle wissen, daß sich Reiche und Mächtige in den USA in freiwillig gewählten Ghettos hinter elektronische Stadtmauer der Überwachungsanlagen verkriechen und die geschlossene Siedlung mit Tennisplatz und Schule für sie tatsächlich den höchsten sozialen Wert darstellt. Wieder gilt wie im Decorumsystem der Renaissance die Stadtmauer als höchste Ordnung, nur ist sie diesmal nicht von Michelangelo in Florenz errichtet, sondern von elektronischen Mächtigkeiten gegeben. Jedoch läßt sich nicht sagen, auch das neue Decorum wird sich nur an diesem Schema hochrangig – niederrangig, großartig – beiläufig, bedeutsam – unerheblich bemessen. Denn wie wir wissen, ist ja das Bodenlose, das Unerhebliche, das Beispiellose, der Müll von größter Bedeutung gegenüber dem perfektionistischen, dem vermeintlich fest gefügten, dem unaufhebbaren Systemen der Rangfolgen. Und seien sie auch nur noch auf die Rankinglisten im Sport oder der Universitäten angewiesen, die kein Mensch ernst nimmt, aber als solche existieren.

Die Aufgabe ist somit die Darstellung der modernen Decorumordnung, die längst verbindlicher ist als jede historische es für irgendeine Kultur, inklusive dem Islam, jemals gewesen ist. Meine Anregung gilt, von einer so alten, traditionellen Institution wie dem Rhetorikinstitut in Tübingen, als eine der Leitinstitute, diese neue Umwandlungen der Rhetoriken in die Decorumsysteme analog zu der Arbeit Albertis im 15. Jahrhundert jetzt zu starten mit der Nachzeichnung eben genau dieser Entwicklung, die längst eingesetzt und sich in weiten Bereichen durchgesetzt hat und deren einzelne Eckpunkte ich zu skizzieren beabsichtigte.