Buch Tarnen und Täuschen
Diskursive Twin Towers / Theorieturnier der Dioskuren - zweiter Band
Diskursive Twin Towers / Theorieturnier der Dioskuren - zweiter Band
Seite 393 im Original
Orientierung in einer Welt, die man nicht zu verstehen braucht.
1. Wie erklärt sich die unglaubliche Karriere des TV-Programmtypus Talkshow? Unter den vielen erörterten Begründungen ist eine ausgezeichnet, die der US-Österreicher Paul Watzlawick bereits in den 70er Jahren formulierte: "Man kann nicht nicht kommunizieren."
In den Talkshows erfährt jeder aktiv und passiv Teilnehmende, daß auch gekränktes oder bockiges oder vermeintlich überlegenes Verweigern von Aussagen als Kommunikation wahrgenommen wird; sogar das abrupte Verlassen der Talkshowszene wird als Aussage gewertet, als eine besonders eindeutige. Selbst das Abbrechen der Kommunikation mit anderen in einer bestimmten Situation ist also kommunikativ. Die Kommunikation zu verweigern, um nicht zu kommunizieren, ist unmöglich.
Die Talkshow, ob als Unterhaltungsprogramm oder als Diskussionsrunde unter Experten, ist demzufolge immer erfolgreich; sie kann als kommunikativer Akt nicht scheitern. Das wissen inzwischen alle; denn so gut wie alle beklagen, daß selbst Expertenrunden unbefriedigend sind, eigentlich zu nichts führen – auch wenn einige Teilnehmer den gegenteiligen Eindruck haben, so wird der von anderen eben nicht geteilt.
Und obwohl mehr oder weniger alle schon dutzende Male den unbefriedigenden Verlauf von Talkshows beklagten, nehmen sie doch wieder die nächste wahr, um sie hinterher als ebenso ergebnislos und unverbindlich abzutun wie alle anderen.
Gerade in dieser Verlaufsform zeigt sich das Wesen der Kommunikation deutlicher als bei Partei- oder Kirchenveranstaltungen, bei denen die programmatische Übereinstimmung Harmonie und Konsens, jedenfalls zeitweise, vorzuspiegeln vermag. Aber ebenso regelmäßig folgt den Erlebnissen der harmonischen Übereinstimmung das Gefühl der Langeweile oder Ereignislosigkeit und damit die Kritik, daß gegenläufige Ansichten nicht zu Wort gekommen seien, daß man Auseinandersetzungen umgangen habe. Denn wirklich kommunikativ sei nicht die Gleichschaltung von Meinungen und Haltungen, sondern der Konflikt.
Die Karriere der Talkshows als auch quantitativ erstrangiges TV-Format erklärt sich also aus ihrem stets garantierten Erfolg, wie immer sie auch verlaufen mag.
2. Einwände gegen diese Erklärung stützen sich auf die Behauptung, die kommunikative Beziehung zwischen den Menschen sei danach zu gewichten und zu bewerten, wie weitgehend die Beteiligten sich und die Welt zu verstehen vermögen. Diese Auffassung belegt man mit der umgangssprachlichen Rückfrage: "Haben Sie das verstanden? – Ist das verständlich?".
Aber selbst wenn man das bejaht, meint man nicht viel mehr, als daß einem das Gesagte momentan einleuchtet. Wenig später, nach einer Bedenkzeit, wenn man darüber noch einmal geschlafen hat, kommen einem dann doch wieder Zweifel. Was eben noch so klar erschien, erscheint nun wieder problematisch oder verwirrend durch Konsequenzen, die man im Augenblick nicht sah. Auch macht jeder die Erfahrung, daß ihm in bestimmten Situationen und Lebensabschnitten etwas als selbstverständlich einleuchtete, was ihm in anderen Zusammenhängen, nur wenig später, kaum noch vertretbar erscheint.
Etwas zu verstehen, garantiert also keinesfalls gleichbleibende Orientierung auf Wahrheiten oder Sachzwänge oder Gesetzmäßigkeiten. "Was schert mich mein Verständnis von gestern", antwortete Adenauer auf Vorhaltungen, daß das, was man einmal als begründet oder wahr verstanden habe, auch weiterhin gelten müsse. Adenauer, wie jedem Lebenserfahrenen, war klar, daß es im eigentlichen Sinne nicht darauf ankommt, die Menschen in ihrer Welt zu verstehen, sondern mit ihnen zu kommunizieren.
Wenn es uns zum Beispiel nur erlaubt sein sollte, in der dunklen Wohnung das elektrische Licht einzuschalten, nachdem wir verstanden hätten, was Elektrizität ist, säßen wir wohl lange im Dunklen und zwar umso länger, je mehr Physikerexperten zu Rate gezogen würden, weil Experten sich dadurch auszeichnen, vermeintlich einleuchtendes Verstehen immer erneut zu problematisieren.
Durch die Entwicklung des Beziehungstypus Kommunikation ermöglichte uns die Natur, in der Welt bestens überleben zu können, ohne sie verstehen zu müssen. Talkshows demonstrieren also die Funktionstüchtigkeit von Kommunikation ohne Verstehen. Wer dafür kein Verständnis aufbringt, erlebt sie als leerlaufendes Ritual ohne Resultat.
3. Demzufolge ist man geneigt, die Zunahme der Talkshows im Programmangebot aller Sender darauf zurückzuführen, daß immer mehr Menschen die Welt, in der sie leben, unverständlich geworden sei, weil alle Verhältnisse immer mehr von allen anderen beeinträchtigt würden. Die Welt sei komplexer geworden, sagt man. Für diese Auffassung kann man gute Gründe ins Feld führen, aber gerade der angedeutete regelmäßige Verlauf von Talkshows spricht gegen die Auffassung, in den Talkshows repräsentiere sich erst die jüngste Entwicklung der sozialen Kommunikation. Darstellung und Kritik der Kommunikation zwischen Menschen führten immer schon, seit sie schriftlich aufgezeichnet wurden, zu den gleichen Bewertungen wie unsere heutigen Erfahrungen mit Talkshows.
Die Auseinandersetzungen zwischen Bürgern antiker Städte auf den Marktplätzen, das Gespräch der Waschfrauen an den Brunnen mittelalterlicher Siedlungen, das Feilschen der Händler mit ihren Kunden auf den Märkten, der Budenzauber der Unterhaltungsclowns auf Jahrmärkten belegen das – auch wenn man diese Demonstrationen von Kommunikation mit anderen Namen kennzeichnete.
Auch die Mischung von Klatsch und Ranküne, von Verstecken und Entlarven, von Sympathie und Antipathie, von Beifall und Protest ist in historischen und aktuellen Performances der Kommunikation ziemlich gleich und folgt einer Dramaturgie, die kein Moderator oder Symposiarch nach eigenem Gutdünken zu entwerfen oder zu beherrschen vermag. Strafft er die Gespräche, monieren die zur Ordnung Gerufenen, daß man sie erst einmal ausreden lassen müsse. Ließe man sie ausreden, würde jeder zeitliche Rahmen gesprengt, ohne daß etwas anderes herauskäme als der Vorwurf, der Moderator erlaube den Beteiligten, endlos zu monologisieren. Wie man’s auch macht, ist es verkehrt, aber gerade deswegen ungeheuer kommunikativ.
Warum das so ist, versuchten Dramatiker und Romanschreiber, Bildkünstler und Filmer herauszuarbeiten: sie führten Kommunikation vor, sie stellten sie aus in Schauanstalten. Die Anschauung der Kommunikation wurde zur Show, zum Schau- und Zeigespiel.
In Theatern und im Fernsehen, bei Happenings und Performances, im Event-Marketing und in Ausstellungsinszenierungen geht es also nicht bloß um das Initiieren von Kommunikation durch das Zusammenführen von Menschen; vielmehr gewinnen diese Gelegenheiten zur Aktualisierung von Beziehungen ihre Ereignishaftigkeit gerade dadurch, daß alle Beteiligten bereit sind, mehr oder weniger ausdrücklich eine Rolle zu spielen: als Publikum so gut wie als Akteure, als Gruppe wie als Individuen. Man spielt die Rolle des Querulanten oder Störenfrieds, des Meinungsführers oder des Querdenkers, des sachlichen Experten wie des emotional Betroffenen – aber jeder weiß, daß er eine Rolle spielt – heute bei dieser Gelegenheit die eine und morgen bei der nächsten Gelegenheit eine andere.
4. Wenn wir nicht nur talken, sondern eine Talkshow bestreiten, wenn wir nicht nur Gespräche führen, sondern uns als Gesprächsfähige vorführen, gewinnen wir Distanz zu unserem eigenen Verhalten. Wir vertreten nicht naive Behauptungen, die Wahrheit zu sagen, sondern Meinungen, die nur so lange interessant sind, wie sich andere Meinungen gegen sie ins Feld führen lassen. Wir meinen nicht nur irgendetwas, sondern demonstrieren die Bedeutung der beschränkten Meinungen und ihren Umgang mit ihnen, und alle wissen, daß es in diesem Für und Wider auf Bewertungen ankommt, die sich nicht aus zwingenden verstandesmäßigen Ableitungen, sondern aus unseren Gefühlen ergeben. Die haben wir von Natur aus alle gemeinsam. Wir kommunizieren vor allem auf der Basis dieser allen zugänglichen Affekte. Dramatiker, Schauspieler, Politiker, Erzieher, kurz, alle auf Kommunikation in der Öffentlichkeit Trainierte kennen sich in der Affektkommunikation besonders gut aus. Die Berufsrolle des Künstlers wurde im 15. Jahrhundert an den Erwerb der Fähigkeit gebunden, Affektkommunikation zu beherrschen. Im Zentrum etwa von Albertis ästhetischen Theorien steht die Lehre von der Kommunikation über Affektdarstellung. Alberti knüpfte bewußt an die Lehren antiker Rhetoriker an, die die Praxis politischer Kommunikation genauestens studiert hatten.
Heute studieren Ästhetiker und Künstler die Praxis der Stammtische, Parlamentsausschüsse, der Wahlveranstaltungen und Produktwerbung mit dem leider immer noch als peinlich empfundenen Ziel, sich selbst ins Gespräch, in den Markt der Produkte und Meinungen zu bringen. Peinlich berührt das, weil man meint, dem Künstler dürfe es nicht um Meinungen, sondern müsse es um höhere Eingebungen und Wahrheiten gehen. Peinlich andererseits aber auch, weil man bemerkt hat, daß die angeblich großen, dauernden, hoch bewerteten Leistungen der Künste einer Epoche schon kurze Zeit später ganz anders bewertet oder gar vergessen werden. Diese Zusammenhänge versuchen Künstler nicht nur aus dem Bauch zu berücksichtigen, sondern ausdrücklich darzustellen. Wo das erreicht wird, repräsentieren die Werke der Künstler die Einheit von Affektäußerung und Affektbeherrschung, von Praxis und theoretischer Rechtfertigung. Ihre Werke sind sowohl Monstranz wie Demonstration. Damit spielen sie eine Rolle in der öffentlichen Kommunikation. Sie als Talkmeister zu bezeichnen, mögen die als despektierlich empfinden, die immer noch der Chimäre des Verstehens nachjagen. Wer hingegen erfahren hat, daß wir kommunizieren müssen, weil wir weder uns noch andere noch die Welt tatsächlich verstehen können, wird den Meistern der öffentlichen Kommunikation womöglich größeren Respekt bekunden als den Gott- und Wahrheitssuchern.
Buch · Erschienen: 1998 · Autor: Brock, Bazon | Darsow, Götz-Lothar · Herausgeber: Bernhart, Bernhart | Meyer-Büser, Susanne