Buch Tarnen und Täuschen

Diskursive Twin Towers / Theorieturnier der Dioskuren - zweiter Band

Umschlag: Tarnen und Täuschen
Umschlag: Tarnen und Täuschen

Erschienen
01.01.2010

Herausgeber
Christian Bauer

Verlag
FUNDUS-Bücher

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Seite 127 im Original

Neuerungssucht und Ewigkeitsanspruch.

Zur Endlagerung kultureller Gewißheiten.

Inzwischen wird selbst den wohlstandsverwahrlosesten Bundesrepublikanern klar, daß sich die Welt nicht ihren Vorstellungen vom Leben als permanenter Ferienreise anzuschließen gedenkt. Die harmlosen Deutschen glaubten, alle anderen Antriebe als die zum Strandleben zwischen All–inklusive-Buffets und Abtanzarena durch Konsumrismus, Pornographie und Sozialfürsorge auslöschen zu können. Aus dieser Leichtfertigkeit, das eigene Beispiel für verbindlich zu erklären, entstand die arrogante Mißachtung vermeintlich zurückgebliebener Kulturen, die ihre kulturellen Prägungen noch ernst nehmen, tödlich ernst nehmen. Alle Kulturen bieten ihren Mitgliedern die gleichen für ein menschliches Dasein unabdingbaren Voraussetzungen, nämlich Anknüpfung an letzte Gründe, Werte und Verbindlichkeiten zu ermöglichen.

Diese Rückbindung an die unverbrüchlichen Glaubensgewißheiten nennt man Religion. Alle Kulturen bieten also religiöse Gewißheiten. Das sind Behauptungen, die durch Hinweise auf Fakten nicht erschüttert werden können; das sind kontrafaktische Annahmen, die umso wirksamer sind als sie erklärtermaßen jenseits aller Vernunfts- wie Verstandesgründen gefunden werden. Alles was sich nur unserem Vernünfteln, Analysieren und Argumentieren verdankt, erweist in eben dieser Bezweifelbarkeit seine Relativität, seine Widerlegbarkeit wie seine hypothetische Vorläufigkeit. Darauf ist aber keine unverbrüchliche Gewißheit zu bauen, die sich dem zufolge nur als das Jenseits der Rationalität bestimmen lässt. Kulturelle Gewißheiten, die so mächtig sind, weil sie als Kontrafakte von keiner Argumentation, gar von verstandesscharfen Beweisen erschüttert werden können, sind also nur als irrational, alle Vernunft übersteigend anzusprechen. Solche Orientierung an den Kontrafakten lässt sich aus unserer kulturellen Tradition, der christlichen Religion, etwa mit der Maxime credo quia absurdum oder „die Liebe, welche höher ist als alle Vernunft“ belegen. Die Namen der Kontrafakte lauten „das Heilige“, „das Numinose“, „Gott“, „Tradition“, „Offenbarung“. Ihre Beglaubigung finden die Kontrafakte als unverbrüchliche kulturelle Gewißheiten einerseits durch die kultische Verehrung in den Kulturgemeinschaften, die sich dadurch ihre Exklusivität, d.h. ihre Kampfkraft erhalten und andererseits durch den evolutionären Fitnessvorteil, den die Todesbereitschaft einzelner Mitglieder den Gemeinschaften bietet. Wer bereit ist, für die Gewißheiten seiner Kulturgemeinschaft sich töten zu lassen und gegen die Exkludierten das Töten zu praktizieren, aktiviert eine schier unumstößliche Logik der Rechtfertigung, die wir in unserer Tradition mit dem Diktum „viel Feind – viel Ehr“ kennzeichnen. Dieser Logik zufolge bestätigen der Grad und der Umfang des Widerstandes gegen die Geltungsansprüche von kulturellen Gewißheiten grade deren Bedeutung. Jeder Einwand gegen eine kontrafaktische Position belegt demnach nur die Unerreichbarkeit von deren Bedeutung für diejenigen, die Einwände erheben. Dadurch wird wiederum der Anspruch auf Exklusivität jeglicher Kultur bestärkt. Ein Kontrafakt kann man nicht verstehen wollen, sondern nur bestätigen durch Unterwerfung. Wenn auch die Kontrafakte als Absurditäten von außerhalb ihrer akzeptierten Geltung als schiere Wahnhaftigkeiten klassifiziert werden können, so bleibt doch die Anerkennung ihrer methodischen Rechtfertigung: „Ist es auch Wahnsinn so hat es doch Methode. Zudem beweisen ja die Regeln des Zusammenlebens in Kulturen die normative Kraft des kontrafaktischen selbst für die alltäglichsten Verrichtungen, obwohl sie mit dieser Begründung komplizierter, d. h. unökonomischer werden.

Es dürfte einleuchten, daß mit der rapiden Zunahme des wissenschaftlich-hypothetischen Arbeitens diesseits aller kulturellen Gewißheiten das Bedürfnis nach Religiosität als Verankerung in unerschütterlichen Gründen wächst. Insofern die Moderne die Epoche der Dominanz von nicht mehr kulturell legitimierten Arbeits- und Verhaltensweisen ist (wie den Künsten und den Wissenschaften), ist sie auch die Epoche einer immer stärker werdenden weltanschaulichen Orientierung auf Religionen und Ideologien. Mit der voranschreitenden Bedeutung des wissenschaftlichen Falsifikationsgebots, also der ausdrücklichen Orientierung an Arbeitshypothesen zur Widerlegung wachsen naturgemäß die Bedeutungen religiöser Gewißheiten. Aus dieser Ko-Evolution von wissenschaftlicher Faktenerhebung und kontrafaktischer Geltung kultureller Gewißheiten ergab sich die Forderung nach strikter Trennung beider Begründungszusammenhänge, der kulturelleren-kontrafaktischen und der zivilisatorisch–hypothesengestützten. Es entspricht der angedeuteten Harmlosigkeit Wohlstandverwahrloster, lange Zeit überzeugt gewesen zu sein, daß sich die Trennung von Kultur und Zivilisation, von Kirche und Staat, von Glaubensgewißheit und Wissenszweifel ganz nebenbei erledige: wer müsse denn noch glauben, wenn ihm staatlicherseits Fürsorge gewiß sei und die Vorteile von Konsumrismus und Pornographie jedermann nahe legten, daß Gottesdienst und kulturell begründete ethische Normen nicht mehr gebraucht würden? Das Postulat der Säkularisierung ist also grade wegen der wachsenden Bedeutung von Religionen in der Moderne unabdingbar.

Es gehört zu den großen Leistungen der Menschheitsgeschichte, mit den Künsten und Wissenschaften, also seit etwa 1300 n. Chr., Arbeits- und Verhaltensweisen entwickelt zu haben, die nicht mehr kulturell legitimiert werden mußten. Wenn einer Mathematik betreibt, ist es dafür völlig irrelevant, welcher kulturellen, also Religions- und Sprachgemeinschaft, welcher Ethnie oder Rasse er angehört. Demzufolge muss er seine hypothetisch vorgetragenen Aussageansprüche auch nicht mehr durch die Autoritäten der Kulturgemeinschaften absegnen lassen – Künstler und Wissenschaftler können Autorität nur als Autoren in Anspruch nehmen, d.h. als Individuen, die ihre Aussagen jenseits von Approbation, Delegation, von Traditionskonformität und Konsensbestätigung mit weltlichen oder geistlichen Repräsentanten ihrer Kultur attraktiv formulieren. Denn solche Attraktivität der Wahrnehmungsangebote ist notwendig, um die Aufmerksamkeit Dritter zu erregen, wenn sie weder mit Belohnung fürs Zuhören noch mit Bestrafung für Gleichgültigkeit zu rechnen haben.

Aus der Entdeckung der Autorität durch Autorschaft erklärt sich die bis dato nie demonstrierte Entwicklungsdynamik, wie sie die westliche Welt seit dem 14. Jahrhundert bestimmt. Wo herkömmlich kulturell geprägte Gesellschaften alle Weltverhältnisse durch Hinweise auf sechs Quellen der Autorität begründen und damit relativ statisch, also fest gefügt verharren, konnten bei Anerkennung von Autorität durch Autorschaft zahllose Arbeitshypothesen gebildet werden deren Erprobung besagte Dynamik der Versuchs- und Irrtumsbetätigung prägt. Der Preis dafür schien nicht zu hoch, denn was geht schon an Gewißheit verloren, wenn der Nachweis von Irrtümern Einzelner gelingt. Schließlich aber schienen die kunst- und wissenschaftsbasierten Autoritätssysteme durch Autorschaften zur allgemeinen Verunsicherung zu führen, weil durchaus nicht alle Individuen die Fähigkeit besitzen, ihre Problematisierungsfähigkeit zur Basis von belastbaren sozialen Bindungen werden zu lassen. In Kulturen teilen die Menschen religiöse Gewißheiten, ihre Sprachen, Sitten und Gebräuche; in Zivilisationen teilen sie nur das Eingeständnis eigener Beschränktheiten und Ungewißheiten. Wenn der Grund für den Zusammenschluß mit anderen in dem Eingeständnis der prinzipiellen Unlösbarkeit aller Probleme liegt, also in der Einsicht, dass Probleme bestenfalls durch das Schaffen neuer Probleme hantierbarer gemacht werden können, dann verlangt das einen hohen Grad an entfalteter Charakterstärke, die eben nicht jedermann gegeben ist. Es sollte nicht verwundern, daß im Laufe der Moderne immer wieder versucht wurde, den Auswirkungen solchen verständlichen Mangels an humanitärer Größe vorzubeugen, also zu verhindern, daß die weniger entfalteten Individuen das Leben in kulturellen Gewißheiten dem Arbeiten im Felde der blühenden Hypothesen vorziehen. So wurde im 18. Jahrhundert das Angebot gemacht, eben auch für die Zivilisation Rückbindungen auf unhintergehbare Gründe in Gestalt von Zivilreligionen zu stiften. Auch wurde mit beispielloser Innbrunst immer erneut verbreitet, daß selbst ein Einstein am Ende eines langen Lebens in permanenter wissenschaftlicher Verunsicherung doch dem Zentrum kultureller Gewißheit Reverenz erwiesen habe, indem er das Wunder der Natur, die Großartigkeit der Offenbarung Gottes und dergleichen gepriesen habe. Aber allen diesen Versuchen war doch ihre pädagogische Bemühtheit anzumerken. Es fehlte die überzeugende Demonstration der unabweislichen und unabdingbaren Unterwerfung unter ein Zivilisationsgebot, das auf die gleiche Weise Verbindlichkeit in Anspruch nehmen konnte, wie die kulturell begründeten.

Nun endlich, am Ende des 20. Jahrhunderts scheint sich die Chance zu bieten, innerhalb der wissenschaftlich-anthropologisch, wie künstlerisch-individuell begründeten Zivilisation ähnliche Leistungen sicherer Orientierung zu entwickeln, wie sie herkömmlich von Kulturen geboten werden. Wenn wir jene kulturellen Gewißheiten verkürzt als Garantien für Dauerhaftigkeit, Unveränderbarkeit und Antizipierbarkeit kennzeichnen, dann dürfte es gelingen, solche Garantien auch innerhalb unserer universalen Zivilisation zu bieten. Dafür steht das Programm „Gott und Müll“: In der von kulturellen Glaubensvorstellungen vollkommen unabhängigen Notwendigkeit, auf 15.000 Jahre die sichere Endlagerung des strahlenden Mülls zu garantieren, dann überstrahlt diese zivilisatorisch gegebene Garantie von Dauer alle bisher kulturell Gebotenen. Denn Kulturen brachten es bestenfalls auf ein Ewigkeitsmaß von 1.000 bis 3.500 Jahre (den Rekord hält unbestritten die Kultur des Judentums). Aber was sind schon 3.500 Jahre demonstrierter Dauer einer kulturellen Gewißheit angesichts von 15.000 Jahren Endlagerungsfürsorgepflicht? Es kommt nur darauf an, diese alle kulturellen Gewißheiten weit übertreffenden zivilisatorischen Unabdingbarkeiten in den Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens zu stellen, wo bisher in Gestalt der Synagogen, Kathedralen, Moscheen, Tempel die Zeugnisse der kulturellen Gewißheitsgarantien vorherrschten. Statt also die Kraft, die für die nächsten 15.000 Jahre Dauerhaftigkeit, Unveränderbarkeit und Antizipierbarkeit garantieren kann, in Wüsten zu verscharren, aus denen einst schon mal die Götter kamen, sollten wir sie auf die Plätze und die Kultzentren unsere Städte zurückholen, also Kathedralen für den strahlenden Müll in jeder Stadt errichten, damit grade in multikulturellen Lebensräumen alle Menschen unabhängig von ihren kulturellen Prägungen zu Gemeinsamkeit der Verehrung des strahlenden Mülls gebracht werden können.

Seit 1985 verfolgen Michael Baumann aus Nürnberg als Skulpteur und Architekt wie ich als Kulturwissenschaftler und Anthropologe den Bau solcher Kathedralen für den strahlenden Müll, also der zeitgemäßen Kultstätten einer zivilen Religion, der Garantie von Ewigkeit. Aus dem unabdingbaren Kult der Jahrtausende fordernden Hütung des strahlenden Mülls mit den Wissenschaftlern als Kultpriestern ergeben sich auch alle zukünftigen Aufgaben der Bild – und Sprachwissenschaftler, Kommunikationsstrategen und Archäologen. Zentral bleibt die Frage, ob wir auf die gleiche Weise mit den zukünftigen Menschen in Verbindung treten können wie uns das bisher mit den Toten gelang. Die Antwort heißt eindeutig „Ja“, denn alle Vergangenheit ist ehemalige Zukunft. Und das heißt, daß wir vornehmlich als Archäologen und Historiker gut begründete Annahmen über die Zukunft formulieren können. Werden wir also zu Archäologen und Historikern der Menschheitszukunft.