Buch Tarnen und Täuschen

Diskursive Twin Towers / Theorieturnier der Dioskuren - zweiter Band

Umschlag: Tarnen und Täuschen
Umschlag: Tarnen und Täuschen

Erschienen
01.01.2010

Herausgeber
Christian Bauer

Verlag
FUNDUS-Bücher

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Seite 409 im Original

Die Wiederkehr des Schicksals als Risiko

Späte, zu späte Reue der Käufer, Wähler, Patienten und Liebhaber der Künste, weil sie zu wenig apokalyptisch dachten

Warum hat der vom Münchner Soziologen Ulrich Beck lancierte Begriff „Risikogesellschaft“ eine derartige Karriere machen können, daß gegenwärtig in so gut wie allen Diskursen zur Lage der öffentlichen wie auch der privaten Angelegenheiten schon Hinweise auf unvermeidliche Risiken den Eindruck zu erwecken vermögen, man habe etwas erklärt und verstanden?

Ist mit der Bemerkung, das Leben sei generell ein Risiko, welches kein vernünftiger Mensch einzugehen bereit wäre, wenn er denn jemals die Wahl gehabt hätte, zur Welt zu kommen oder sich ihr vorzuenthalten, mehr gesagt als mit der Anrufung des Schicksals respektive des göttlichen Willens?
Aber schon während der schulischen Zwangsbeglückungen mit den edlen Werken der europäischen Theatergeschichte amüsierten wir uns über angeblich so bedeutende Vertreter der Menschheit wie Hamlet, die sich in unbändiger Vitalität vor den Augen des Publikums mit der Frage beschäftigten, ob es besser sei, gar nicht erst geboren zu werden, als sich den unkalkulierbaren Zumutungen des Lebens ausgesetzt zu sehen.

Ähnliche Provokationen durch Blödsinn, der als Tiefsinn bestaunt wird, empfand man als Schüler in Opernaufführungen, in denen die Sänger/Darsteller minutenlang mitteilten, daß mit ihnen jetzt etwas gewaltiges geschähe, ohne daß da etwas geschah („Ich sterbe, ich steeeerbe…“ – „Na, dann tu’s doch endlich, statt weiter zu singen!“).

Erst recht schienen den Schülern die Hinweise auf das Leben als für jeden wachen Geist untragbares Risiko grotesk zu werden, wenn ihnen von weltberühmten Denkern erzählt wurde, die in existentialistischer Radikalität den Selbstmord als einzigartige Freiheitsgeste priesen und bei diesem glorreichen Preisungen der Selbstentleibung ein gesegnetes biblisches Alter erreicht hatten (siehe den Pariser Existenz-Gladiator Cioran). Wenn wir Schüler in pubertärem Triumphalismus von Ohnmächtigen die Lehrer auf die offensichtliche Widersinnigkeit derartiger philosophischer Fragestellungen festzunageln versuchten, endete das jedes Mal mit einer peinigenden Einsicht.

Das europäische Pathos der Modernität von Unternehmern und Bankern, Heerführern und Seefahrern, Entdeckern und Erfindern konnte sich gegenüber der Schicksalssklaverei und der Inschallah-Bekenntnisse (inklusive Leibniz’ Konzept der prästabilisierten Harmonie, der A.H.-Vorsehung und der horoskopischen Vorherbestimmtheit) gerade deshalb durchsetzen, weil zur Bereitschaft, selbstverantwortete Risiken einzugehen, immer zugleich die Bemühungen parallel liefen, die Konsequenzen tatsächlich eingetretener Risikofolgen zu vermeiden. Die Risikogesellschaften wurden, und das ist ihre Hauptleistung, zu Risikoabsicherungsgesellschaften. Das gelang in erster Linie durch die Entfaltung des mathematisch formulier- und damit kalkulierbaren Versicherungsgeschäfts. Man sandte nicht einfach im Bewußtsein berserkerhafter Stärke kostbare Schiffsladungen durch die Welt, sondern versicherte sich gegen die Risiken des Verlusts, gerade weil man nicht mehr davon ausgehen konnte, daß die eigene Kraft ausreiche, das gewünschte Handlungsresultat zu garantieren.

Man versicherte die Zukunft der eigenen Töchter gegen das kalkulierbare Risiko, sie an niemanden verheiraten zu können. Man versicherte nicht nur Haus und Hof gegen das Risiko von Bränden in dicht besiedelten städtischen Räumen, sondern auch das eigene Leben. Man versicherte sich sogar gegen das Risiko, die Versicherungsprämie nicht mehr zahlen zu können. Den Höhepunkt dieser Art von Absicherung gegen Risiken erreichte man mit Rundum-sorglos-Policen, wie sie angeblich nahezu jeder bundesrepublikanische Haushalt abgeschlossen haben sollte. Jeder Kabarettist fühlte sich verpflichtet, den als kleinbürgerlich geschmähten Sicherheitsfanatismus vorzuführen. Was gab’s da zu lachen? Gerade die Orientierung auf unvermeidliche Risiken zwingt jeden Vernünftigen, deren unerwünschte Folgen kompensieren zu können. Wollten die Kabarettisten aller kritischen Schulen der Kapitalistenpropaganda auch bei Kleinbürgern zum Durchbruch verhelfen, daß höhere Gewinne nur durch die Bereitschaft erzielt werden könnten, höhere Risiken einzugehen? Das ist natürlich kein rationaler Begründungszusammenhang von Gewinn und Verlust, sondern eine Strategie, die mit fremden Geld agierenden Banker von jeder Verantwortung für Verluste frei zu sprechen: „Sie wollten ja Gewinn erzielen, also ist das Risiko unvermeidbar, der Verlust also ganz natürlich von demjenigen zu tragen, der Gewinn zu erzielen beabsichtigte.“ Zu Recht salvieren sich mit schönen Abfindungen und Pensionen diejenigen Banker und Manager, die der kapitalistischen Logik immer wieder zum Durchbruch verhelfen: Exorbitante Gehälter stehen nur denjenigen zu, die psychische Stabilität demonstrieren, Risiken eingehen zu können, von denen sie wissen, daß sie als Verluste realisiert werden, gerade weil die Klientel meint, daß kein vernünftiger Mensch ein Risiko eingehen würde, wenn er nicht dafür sorgen kann, möglicherweise eintretende Verluste zu kompensieren. So erfüllt sich in der Tat die selbstverständliche Annahme von Firmenmitarbeitern und Sparern, „die da oben“ wüssten schon, was sie tun.

In der Tat: Die jüngste, so genannte „Hypothekenkrise“ zeigt, daß in klar krimineller Absicht das Risikoabsicherungsbedürfnis ausgebeutet wurde, indem man Haus und Grundbesitz ohne jede Prüfung ihres tatsächlichen Marktwerts als Garantie von Bonität verkaufte. Die bürgerliche Tendenz, Risiken zu vermeiden oder abzusichern, führte zur Realisierung des größten inszenierten Risikos aller Friedenszeiten. Bingo! Endlich wissen wir, was der Begriff „Risikogesellschaft“ als freier Markt eigentlich meint.

Fazit: Das Risiko verwirklichte sich, weil der Großteil der Sparer und Steuerzahler, der Anlagenberater und Politiker gerade nicht mit dem Risiko rechneten, sondern es wegrechnen zu können glaubten.


Apokalyptisches Denken als Heilmittel

Wenn die kontrafaktische Behauptung eines freien Marktes, also die westliche Ideologie vom Markt als dem besten Regulativ zwischen kriminellen Absichten und Haftung der Opfer, sich trotz aller gegenteiliger Erfahrung so hartnäckig halten kann, muß außer den bekannten Psychomechanismen der Verdrängung, der Verkehrung ins Gegenteil, der nachträglichen Verklärung des Scheiterns zum Beweis für die übermenschliche Größe des Wollens, eine anthropologische, also menschheitsgeschichtlich entwickelte Strategie im Umgang mit Risiken eine entscheidende Rolle spielen.

Wir nennen das die Strategie des Fininvest, des Rechnens mit dem apokalyptischen Ende. Pointiert gesagt: Der Zusammenhang von Risikobereitschaft und Risikovermeidung, oder umgangssprachlich ausgedrückt, der Zusammenhang von Optimismus und Pessimismus, muß in der Evolution des Menschen unüberbietbar effektiv entstanden sein. Und dem ist so. Wer bloß aus überschwänglicher Lebenskraft glaubte, den Risiken des Überlebens in prähistorischen Zeiten gewachsen zu sein und sich in Gefahr begab, kam darin um. Wer aber in realistischer Einschätzung seiner Schwäche, Verletzbarkeit und Sterblichkeit mit den Risiken der Jagd außerhalb der Schutzhöhle zu rechnen bereit war, indem er die Gefahren bis in die letzte Einzelheit bildhaft antizipierte und sich mit Anderen in die bloß vorgestellten Bedrohungen einfühlte, hatte tatsächlich eine Chance, die Risiken zu bewältigen. Naive Optimisten gingen zu Grunde, radikale Pessimisten, die möglichst noch kleinste Risiken miteinkalkulierten, überlebten, weil ihr kritischer Pessimismus die Voraussetzungen für das Krisenmanagment tatsächlich enorm verbesserten. Das heißt für jeden Vernünftigen: Nur radikaler Pessimismus bietet die Begründung für Optimismus jenseits von Allmachtsphantasien, naiver Unsterblichkeitsannahme oder bloßer Dummheit.

Besagte Kabarettisten und andere Selbstentlastungskünstler mokieren sich auch mit schöner Regelmäßigkeit über die methodische Schwarzseherei, als sei es eine Frage der Tagesstimmung und von Bekenntnislyrik, ob man im herzlichen Vertrauen auf die Logik „Wir werden siegen, weil wir siegen müssen“ in die Zukunft blickt. Derartige kabarettistische Selbstgefälligkeiten der Ahnungslosen versuchte bereits der Apostel Johannes aus dem Exil in Patmos risikosensiblen Römern in der nach-neronischen Zeit, vor allem unter der Diktatur von Domitian, auszutreiben.

Er schrieb das Standardwerk des auf radikaler Kritik basierenden Optimismus, die sogenannte „Apokalypse des Johannes“. Im Gegensatz zur landläufigen Auffassung, da habe einer die Christenmenschen durch Drohung mit dem Weltenende und Jüngsten Gericht zur Raison bringen wollen, gelang es Johannes zu zeigen, daß man das Ende immer schon vorweg genommen haben muß, wenn man die Kraft zum Beginnen entwickeln will. Der Tischler muß die Idee eines fertigen Möbels bereits erarbeitet haben, bevor er mit deren handwerklichen Realisierung beginnen kann. In der Vorstellung des Endes liegt also die Möglichkeit des Anfangens.

Ähnlich muß der Heilsuchende das Ende aller Tage wie auch sein eigenes Ende antizipieren, um täglich sein Tun und Lassen zu motivieren, anstatt sich angststarr selbst das Unheil zu bereiten durch den Mechanismus von sich selbst erfüllenden Prophetien. Der wohlverstandene Apokalyptiker (O ihr Schüler!) ist fröhlich, initiativ und ausdauernd, weil ihn keine Drohung mit „Murphys Gesetz“ – alles was schief gehen kann, geht schief – zu erschüttern vermag. Wie anders dagegen das Zittern und Zagen der naiven Optimisten! Sie glauben allen Ernstes als Nobelpreisträger für Wirtschaft oder als Politiker der Spitzenklasse oder als Denkmalsdenker sich bewahren zu können vor Marx’schen Gespenstern, Kritikteufeln und Gewissensdämonen. Wer dem Einmaligkeitsanspruch der Entwerfer des Holocaust-Denkmals in Berlin mit dem Hinweis entgegentritt, Carlo Scarpa habe bereits 1968 in Venedig für das Denkmal zu Ehren der Frauen in der Resistance eine Skulptur von A. Murer so gerahmt, daß die Berliner Anmutung vorweggenommen sei, wird als intriganter Meckerer in die Wüste gejagt, anstatt aus der Kritik gerade eine Stärkung des Berliner Konzepts zu entwickeln.

Wenn der konservative Präsidentschaftskanditat McCain eine running maid erwählt, weil sie mit Jagdleidenschaft, Abtreibungsgegnerschaft und vielfacher Mutterschaft eine unangreifbare Repräsentation der heiligsten Programmgüter biete, riskiert er mit der naiven Behauptung von programmatischer Reinheit Enthüllungen und hämische Kritik der Schwarzseher.

Wenn ein gescheiter Wirtschaftsredakteur den Nobelpreisträger M. S. Scholes interviewt, um den Leser mit dem Motto „Keine Panik auf der Titanic des Kapitalismus" zu beruhigen, wird dieser Optimismus mangels Kritikfähigkeit das Gegenteil des beabsichtigten Ziels erreichen. Scholes steht als unglaublich dämlicher Naivling da, der nichts anderes zu sagen hat als: Wenn die Hypothekenkrise bewältigt wird, ist die Krise gemeistert – und der Nobelpreis erscheint schlagartig als systematische Auszeichnung von Wissenschaft als schierer Ideologie, die den Eindruck erwecken soll, man verstünde die Logiken der Kapitalbewegungen, obwohl man in Wahrheit nur der Logik der legalisierten Kriminalität folgt.

Was kann da schon die späte Reue ihrer Klientel bewirken? Wir wagen ebenso risikolos wie die Kapitalagenten eine Prognose, deren Selbsterfüllung nur noch Russen, Chinesen, Pakistani und Perser, also die Kräfte des guten Bösen, durch ostentative Androhung von militärischer Gewalt verhindern können: Die 100-Jahr-Feier der Oktober-Revolution wird in den Ruinen der Wall-Street-Banken geboten werden. Die Posaunen werden bereits auf das Geräusch gestimmt, das die Twin Towers bei ihrem Zusammenbruch erzeugten.

Memento: Nur radikalste Vorwegnahme des Endes begründet die Hoffnung auf die Chance des neuen Beginnens.

siehe auch:

  • Build das Architekten-Magazin 05/08

    Build

    Magazin · Erschienen: 01.10.2008 · Herausgeber: Prof. Dr. Johannes Busmann