Ausstellungskatalog Vêturagen

(anlässl. der Ausstellung Nikolaus Breisach: Vêturagen, Galerie Remixx, Graz, 30. September bis 30. Oktober 2010)

Nikolaus Breisach. Veturagen, Bild: Wien: Passagen-Verl., 2010.
Nikolaus Breisach. Veturagen, Bild: Wien: Passagen-Verl., 2010.

Erschienen
01.08.2010

Herausgeber
Matzner, Florian

Verlag
Wien, Passagen Verlag Ges.m.b.H.

Erscheinungsort
Wien, Österreich

ISBN
9783851659405

Umfang
199 S.

Einband
kartoniertes Buch

Seite 85 im Original

Kleider bilden Haufen: Zur Typologie des Abgelegten, Aussortierten, Weggeworfenen

Ein Verweis auf die Ästhetik in der Alltagswelt

Mit seinen Fotowerksätzen zur „Kleidergraphik“ fordert Nikolaus Breisach gerade das kunstinteressierte Publikum zu neuen Anstrengungen seines Unterscheidungsvermögens heraus, weil Breisachs Farbfotographien von zu Haufen geworfenen Kleidungsstücken Erinnerungen an Arbeiten anderer Künstler mit Kleidung als Werkstoff wachrufen, zum Beispiel die Erinnerung an Arbeiten von Boltanski oder an die von Peter Piller oder Anna Blume, Sylvie Fleury, Simon Wassermann, um nur wenige zu nennen. Auch außerkünstlerische Wahrnehmungen werden ins Gedächtnis gerufen, nämlich Appelle zur Spende von Gebrauchskleidung für Bedürftige, an Fundbüroanzeigen und polizeiliche Fotos von Ermittlungsarbeit.

Breisachs Begriff „Kleidergraphik“ könnte man zunächst als Ikonographie der zur Kleidung verarbeiteten Stoffmuster verstehen. Das ist offensichtlich bei Breisach nicht gemeint. Die graphische Gestaltung scheint sich zuvörderst auf die Objektanmutung von abgelegten Kleidungsstücken zu beziehen – eine Anmutung, die wir als Schichtung, Faltung, Ablagerung oder im Ganzen als Haufenbildung ansprechen wollen.

Marcel Duchamp


Unmittelbar fällt die Analogie zu Arbeitsresultaten Marcel Duchamps auf, der mit seinen „Stoppagen“ graphische Eindrücke durch die zufällig entstandenen Kurvaturen fallen gelassener Wollfäden erzeugte. Statt einzelner Fäden nutzt Breisach, wenn die Analogie sinnvoll ist, die graphischen Muster zufällig gebildeter Kleiderstofflagen als „vêturagen“.

Der amerikanische Bildhauer/Maler Chamberlain hatte das Duchamp’sche Stoppage-Prinzip bereits auf große Volumen übertragen, indem er Gestaltungswerte durch Pressen von Autowracks erzeugte und sie als dritte Kategorie neben Skulpturieren (das heißt Gestalten durch Wegschlagen von Stein) und Plastizieren (das heißt Gestalten durch Hinzufügen von Elementen), nunmehr das Verfahren der Deformation einführte. Chamberlain wählte verschiedenfarbige Ausgangsmaterialien für seine Pressungen als neue Informierung des Materials, als neuartige Ausprägung des Gestaltungspotentials von „Blech“; damit wurden nach der Pressung überraschende malerische Fügungen wahrnehmbar. Chamberlain scheint in seinen viel beachteten Deformierungsversuchen gleichermaßen auf malerische Effekte wie auf Gestaltinformation ausgerichtet gewesen zu sein. In jedem Fall hat er dazu beigetragen, dass wir heute allgemein Deformation als Information zu verstehen gelernt haben.


Christian Boltanski


Es gibt wohl keinen Zeitgenossen, der nicht aus dem eigenen Inneren eine Vorstellung wachrufen könnte, die er durch die wiederholte Konfrontation mit Fotographien oder filmischen Dokumentationen mannshoher Haufen von Kleidungsstücken der Häftlinge in Auschwitz gewonnen hat: Haufen von Kleidungsstücken, deren Geschichte Christian Boltanski zu rekonstruieren beabsichtigte. Boltanski stellte vielfach, vielfältig die Haufenbildung nach und versuchte parallel zur äußeren Gestalt der Haufen mit den inneren Gestalten jedes einzelnen Teils des Kleidungshaufens die Biographien einzelner Kleidungsträger anzusprechen. Boltanski erzählt die Biographien und unterlegt die Erzählung mit den verschiedensten Evidenzbeweisen für das Erzählte: Passbilder, Familienfotos, Kleidungsstücke, Koffer, Brillen ¬wertet er als Beweise für die Glaubwürdigkeit der Erzählung als einem künstlerischen Versuch, aus den materiell-physischen Objekten eine geistige Gestalt, die Biographie von ehemaligen Objektträgern herauszulesen. Jede erzählte Biographie folgt eigenen, literarischen Logiken, die mit denen des tatsächlich gelebten Lebens erst post fest, das heißt nach tödlicher Stillstellung des Lebens kongruent werden. Umgekehrt heißt das, wir müssen unser Leben schon darauf hin führen, dass es mit Interesse erzählt werden kann – das eben war gemeint mit der von vielen Künstlern im 20. Jahrhundert angestrebten Integration der Kunst ins Leben.

Werner Büttner, einer der souveränsten Künstler unserer Gegenwart, fragt sich selbst: „Hast du in kontrastreichen Zeiten malerisch mitgedacht? Warst du wirklich deine eigene, souverän-autistische Erinnerungsgemeinschaft? Und bist du ikonologisch interessant verunfallt?“

Der Adressat der Erzählung, der Museumsbesucher oder Leser der Boltanski’schen Ausstellungskataloge weiß ohne weiteres zwischen einem Haufen Bekleidungswaren auf einem Ausverkaufstisch im Kaufhaus, also ungebrauchter Kleidung, und den bereits in den Lebenszusammenhang ihrer Nutzer eingefügten und mit Gebrauchsspuren aufgeladenen Kleidungsstücken nach Bedeutung und Verbindlichkeit zu unterscheiden.

Auch wird jeder Betrachter stillschweigend akzeptieren, dass die Erzählungen authentisch sind, selbst wenn nicht nachgewiesen wird oder werden kann, dass das einzelne Kleidungsstück aus dem Besitz einer konkreten Person stamme, sondern der Gruppe von Lagerinsassen oder von Flüchtlingen oder Deportierten zugehöre.


In der Tat rührt den Betrachter gerade die Erkenntnis an, wie sehr jede Habseligkeit, jede Brille, jeder Kamm, jeder Haarschopf zum Dokument des Kollektivschicksals wird – und Schicksal bezeichnet hier gerade die übermächtige Gewalt, mit der einzelne Menschen unabhängig von Ihrer Herkunft, ihren Berufen, Lebensaltern, Besitzständen entindividualisiert und ins Schema des Kollektivausdrucks gepresst werden.

Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass auf der Seite der Täter offensichtlich ähnliche Formen der Entindividualisierung und Einpassung ins Kollektivschema erzwungen wurden, da in Kollektiven die Zurechnung von Handlungsfolgen auf ein Individuum nicht mehr möglich sein soll. Dafür steht im konkreten Fall der Begriff der Uniform, die die Täter trugen und sie als Bestandteil der Gruppe jenseits irgendeines Rechts auf Individualitätsausdruck auswiesen. Jedem Betrachter ist aber ohne Zweifel gerade in der Konfrontation der großen Ansammlungen von Uniformen mit den Haufen der Zivilistenbekleidungen, wie sie in Auschwitz dokumentiert und von Boltanski in diversen Ausstellungen thematisiert wurden, immer bewusst gegenwärtig, dass trotz der strukturellen Gestaltanalogien die Gruppen der Opfer von den Gruppen der Täter unterschieden werden müssen und können.

Werner Büttner


Ein Beispiel für die Notwendigkeit der Unterscheidung im Ähnlichen und damit scheinbar Gleichen, ließe sich gut vorstellen, wenn etwa Boltanski neben die Präsentation der Objektbiographien, der Opferkleidung, Kämme, Brillen etc. ein Parallelstück durch Präsentation der Spind- und Bettenordnungen des Wachpersonals und sonstiger Funktionsgruppen ausgestellt hätte. Wir können das ersatzweise, nicht ohne eingestandene Leichtfertigkeit tun, indem wir an Werner Büttners Ölgemälde „Badende Russen“ von 1982 erinnern. Mit gespielt pathetischem Farbauftrag (in einem großartigen Essay bezeichnet ihn Rudolf Schmitz als „anbrandendes Farbrührwerk aus Büttners Konditorlaune“ – russisch herkömmlich: Zuckerbäckerstil der Malerei) schildert Büttner eine Strandepisode: Drei russische Soldaten entledigten sich ihrer Stiefel und Uniformen, um im Meer zu baden. Ihre Uniformen haben sie vorschriftsmäßig auf Kante gefaltet und ihre Stiefel in tadellosem Wichs den einzelnen schrankfertig abgelegten Uniformen zugeordnet. Stiefel und Uniformen sind auf Linie platziert, die genau parallel zum Küstensaum verläuft.
Es ist mehrfach verbürgt, dass man zum Tode bestimmte Lagerinsassen aufforderte, ihre ausgezogenen Kleidungsstücke sorgfältig geordnet auf den Bänken der Umkleideräume zu hinterlassen. Durch diesen Befehl wurde den Gefangenen die Gewissheit vermittelt, nach dem Aufenthalt in den „Duschräumen“ wieder zu ihren Kleidungsstücken zurückfinden zu sollen. Auch Gefangene nehmen an, dass Ordnungsschemata das Leben in Gruppen garantieren, eben das Überleben und nicht die Auslöschung. Auch nicht traumatisierte Zeitgenossen überfällt in Umkleidekabinen von Sportclubs, Badeanstalten oder Werksumkleiden ein Schock durch überwältigende Erinnerungen an jene Historie, zumindest aber ein Schauder unabweisbarer Irritation angesichts der Reihen abgelegter Zivilkleidungsstücke, der auch nicht durch die Gewissheit völlig vermieden werden kann, die Besitzer der Kleidung hätten sich freiwillig in diese Vorhölle der Verwandlung, in diesen dämpfigen Limbus der Transformation begeben und ihnen sogar noch Schlüsselgewalt über die je eigene Hinterlassenschaft erhalten – wenn auch nicht mit allzu großer Sicherheitsgarantie, wie die täglichen Meldungen über Einbrüche in Umkleidekabinen belegen.
Ebenso verbürgt ist, dass die ordnungsgemäße Ablage der Häftlingskleidung nach der planmäßigen Tötung „über den großen Haufen geworfen“ wurde mit der Absicht, sie später nach völlig anderen Kriterien als denen des persönlichen Besitzes, des Identitätsausdrucks und der Biographiehaltigkeit zu sortieren. Die Struktur der Haufenbildungen kann also durchaus einheitlich sein, ihre Funktionsbestimmung nach Kriterien der Unterscheidung von verwertbar oder nicht verwertbar, generell nützlich oder nur individuell sinnhaft, neuwertig oder gebraucht, erzwingt sehr unterschiedliche Bewertungen der immer gestaltanalogen Haufenbildungen.

Sylvie Fleury


Dass man wissenschaftlich erfolgreich nur arbeiten kann, wenn man systematisch versucht, eine Wahrheitsannahme, genannt Hypothese, zu widerlegen und nicht naiverweise zu beweisen, dass die eigene Hypothese als Wahrheit zu gelten hat, hat sich auch unter Künstlern herumgesprochen. Die Romanliteratur seit DosPassos und James Joyce bietet Elemente der Erzählung als Hypothesen über die Möglichkeit, den Roman als literarisches Werk zu Ende zu führen. Das nennt man experimentelles Schreiben, insofern einzelne Werkstücke in immer wieder neuen Erprobungen genutzt werden, um die einzeln gearbeiteten Passagen in den Roman als dem Konzept der großen Werkeinheit einzupassen (auf englisch „to fit into“).

Max Frisch hat in besonderer Weise dieses Einpassverfahren von Einzelepisoden in einen Gesamtzusammenhang als Entwerfen und Verwerfen von Biographien zu seinem Generalthema erhoben. Er ging von der verständlichen Frage aus, wie weit jeden Menschen die nicht gewählten Möglichkeiten der Entfaltung seines Lebens auch dann noch bestimmen, wenn sie sich längst erledigt haben. Frisch hat das Verfahren der experimentellen Entwicklung einer Biographie im Wesentlichen auf seine Werktätigkeit als Literat beschränkt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Künstler auf die Idee gekommen sein würden, auch experimentell zu leben und die Dokumentation dieses Lebens in Hypothesen als Literatur zu verstehen.


Zu diesen Künstlern gehört Sylvie Fleury, die in der Realität ihres Lebensalltags tatsächlich durchzuarbeiten bereit war, was die Generation „Second Life“ auf der Ebene virtueller Realität auslebt (obwohl man Berichte hört, dass Träger des „Second Life“ das Bewusstsein für die Unterscheidung von First und Second Life verloren gehen könne). Nach unterschiedlichsten Handlungsmustern – verfassen, veröffentlichen von und reagieren auf Heirats-, Vermissten-, Sterbeanzeigen oder Bewerbungen einerseits und von Rollenschemata wie die der Handlungsreisenden, der Touristenführer, der Pilger andererseits – realisiert sie Abschnitte ihres Lebens, wobei der hypothetisch-experimentelle Charakter immer bewusst bleibt, obwohl es im Leben keinen Unterschied zwischen experimentellem und realem Verlauf gibt: Die für Episoden geopferte Zeit ist immer reale, niemals widerrufbare Verausgabung von Lebenszeit als Echtzeit.

In ihren Ausstellungen und Publikationen führt Fleury in staunenswerter Weise vor, wie die Zeugnisse der Lebensbewältigung auf allen Objektebenen (von der Einkaufstasche mit neuen Kleidungsstücken, über den Stapel gefalteter Handtücher, aufgerollter Teppiche, weggeworfener Zigarettenkippen, bis hin zu angehäuften Reste von Mahlzeiten) in unterschiedlichster Weise gelesen und gedeutet werden können. Das entspricht in weiten Strecken dem Vorgehen von Archäologen und Detektiven bei der Rekonstruktion von Lebenswelten oder kriminellen Handlungen. Fleury aber ist immer zugleich der Detektiv und der Täter, der entschlüsselnde Archäologe und der Repräsentant der wieder zu entdeckenden Lebenswelt. Höchst spannend ist es für die Betrachter ihrer Arbeiten zu entschlüsseln, wie sie ein Liebesverhältnis zu sich selbst oder eine Straftat an sich selbst enträtselt und bewertet. Mit subtilsten Methoden künstlerischer Repräsentation von Begriffsverknüpfungen und Vorstellungsassoziationen inszeniert sie die Einheit von Verrätselung und Klärung, wobei sie, wie jeder gute Archäologe und Detektiv, im vermeintlich Unerheblichen und Banalen, im Selbstverständlichen und Belanglosesten, Tarnungen der tiefsten Erfahrungen, Erlebnisse und Wünsche zu entdecken vermag. Wenn da ein Rock gehoben wird, weiß man nicht, was man zu sehen bekommt, obwohl die Erwartungen ziemlich eindeutig sind. Am besten macht man sich das Fleury’sche Verfahren am Beispiel einer allgemein bekannten Episode aus einem frühen James Bond-Film klar, in welchem James Bond, wie man das üblicherweise tut, in sein Bett steigt, dann aber mit Schrecken entdeckt, dass aus den Faltungen des Bettlakens eine riesige Vogelspinne auf ihn zukriecht. Er entkommt der brenzligen Situation, vermutet aber hinfort in jedem Objekt von über faustgroßem Volumen, in jeder gefalteten Gardine, in jedem Handtuchstapel oder in jedem Bündel abgelegter Kleidung ein drohendes Unheil.. Fleury erhebt zur Methode, jedes Objektensemble in einem Handlungsraum mit der prinzipiellen Vermutung zu analysieren, dass sich die Objekte stets als Chimären von Überraschendem oder Unerwartetem erweisen werden. Dabei geht es nicht nur um Schrecken erregende Dimensionen, sondern um Ausprägungen von Bekenntnisekel, Langeweile, Genusssucht und Neugierde.

Simon Wassermann


Anfang der 70er Jahre bot ich Studierenden der Hochschule der Bildenden Künste in Hamburg ein Trainingsprogramm der kriminalistischen Imagination, das wenig später im Internationalen Design Zentrum Berlin und im Sender Freies Berlin unter dem Titel „Ästhetik in der Alltagswelt“ veröffentlicht wurde (als Ausstellung und als Fernsehfilm). Eine der Übungen bestand darin, von zerwühlten Betten, verschobenen Teppichen, verstreuten Kleidungsstücken auf die Handlungen zurück zu schließen, durch deren Verlauf die jeweils bestimmte Gestalt der Objektgruppen entstanden waren. Der Hamburger Konzept-Künstler Simon Wassermann, damals Studierender an der HbK, Lerchenfeld entwickelte ein Objektensemble, indem er es systematisch variierte zum Musterbeispiel für die Entfaltung von Imagination: Alles was man als konkrete Gegebenheit in einer Konstellation antrifft, sollte um alle anderen denkbaren Positionen innerhalb der Konstellation erweitert werden. Aus der konkreten Vorgabe eines verlassenen Bettes entwickelte er zwölf grundsätzliche Möglichkeiten, ein Bett nach dem Aufstehen zu hinterlassen. Wir stellten dann die zwölf Grundpositionen für besagte Ausstellungen nach – einmal nach Benutzung der Betten durch Kurzzeitnutzer wie im Stundenhotel und ein zweites Mal nach Kriterien der künstlerisch-gestalterischen Unterscheidbarkeit, also nach den Logiken der Gestaltbildung. Erstaunlicherweise erkannten so gut wie alle Kursteilnehmer die Prägnanz der Unterscheidung nach gestaltungslogischen Gesichtspunkten als interessanter an, wobei „interessant“ den Reichtum an Assoziationen und Animationskraft meint.


Peter Piller


Peter Piller gab für die jüngste seiner Ausstellungen im Kunstmuseum Bonn
eine begriffliche Einheit von Assoziation und Animation: Er repräsentierte fotographisch „verlorene Kleidung im öffentlichen Raum“. Sogar Avantgarde gelangweilte Rezensenten schilderten begeistert, wie sie den Vorstellungsraum, den bei ihnen Pillers Objektkennzeichnungen eröffnet hatten, erkenntnisgesättigt durchschritten. Ihnen gingen plötzlich Wahrnehmungen über die ästhetische Attraktivität in ihren Lebensumgebungen auf, die sie bisher nicht gesehen, weil sie den Objekttypus „verlorene Kleidung im öffentlichen Raum“ noch nie zum Thema erhoben hatten; das heißt, ihnen waren die schon hunderte Male allüberall in ihren Lebensräumen herumliegenden Kleidungsstücke nie im Kontext künstlerischer Aneignung von Vorgefundenem zum Problem geworden – und zwar gerade deshalb nicht, weil die Duchamp’sche Methode des Thematisierens von „objets trouvés“ durch De- und Rekontextuierung so erfolgreich gewesen ist, dass man zumindest als Nicht-Künstler kaum noch an andere Formen der Problematisierung zur Themenbildung denkt.


Bei Piller könnte es etwa um die Bestimmung des öffentlichen Raums durch die Annahme sein, Öffentlichkeit werde durch Urheberlosigkeit hergestellt, also als der Raum, in dem keine privaten Besitzansprüche oder andere privaten Zuschreibungsnotwendigkeiten reklamiert werden. In der Tat kann man öffentliche Plätze als besonders interessant empfinden, weil die Fassaden der sie umgebenden Häuser in ihrer architektonischen Interessantheit gerade die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Für die Objekte solcher Grenzmarkierungen wie „verlorene“ oder „vergessene“ Gegendstände („objets oubliés ou objets perdués“) gibt es auch eigene Präsentationsformen: Die Fundbüros oder Versteigerungspodien für in öffentlichen Verkehrsmitteln herrenlos aufgefundene Objekte vom Regenschirm bis zum Fahrrad.

Anna Blume


Mit größter Selbstdistanzierung, dem Bekenntnis zu Witz, Ironie und tieferer Bedeutung, bearbeitete Anna Blume (langjährige Partnerin von B. J. Blume) Aspekte unseres Themas. Sie zeichnete in souveräner Leichtigkeit in den 80er Jahren Kleidung auf weiblichen Körpern. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten war jenes legendäre Foto einer documenta 2-Besucherin von 1959, die auf ein „abstraktes“/ „ungegenständliches“ Gemälde schaute und kaum bemerkte, dass sie das gleiche Bildmuster als Kleiderstoffdesign auf ihrem Leibe trug. Diese Konstellation von Ausstellungswand und Besucherin, von Bild und Stoffdesign trifft eine historische Tatsache genau, dass nämlich sehr viele Zeitgenossen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht unmißverständlich ihre instinktive Abneigung gegen die „abstrakte Kunst“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit demonstrierten, aber eben das abstrakte Form- und Farbgeschiebe als Muster für Tapeten, Teppiche, Stoffbezüge und Kleidungsstücke nicht nur tolerierten, sondern in den eigenen vier Wänden und am eigenen Leibe als Ausdruck von Modernität, Lebensbejahung und Modebewusstsein präsentierten. Anna Blume schilderte in ihren 80er Jahre-Zeichnungen solcher Stoffmuster auf Frauenkörpern mit subtilsten Mitteln entsprechende Auswölbungen und Faltenwürfe sowie Deformationen durch Disproportion von Bild und Trägerkörper und reduziert so die heroischen Programmdeklarationen von Großmeistern der abstrakten Kunst bis auf ihren Kern – die leere Mitte. Bauhäusler behaupteten 1925, „die neue Kunst will nicht mehr tragische Gestaltung, sie will abstrakte Schönheit sichtbar machen“. Malewitsch manifestete 1922: „Nur in der Gegenstandslosigkeit kann sich das kosmische Zusammenwirken vollenden.“ Anna Blume entwickelte sehr ernste Scherze, also Karikaturen des Künstlerpathos, indem sie die durch Gegenstandslosigkeit bekleidete Frau zur abstrakten Schönheit werden ließ. Ihre zeichnerische Vorgehensweise erlaubte es, sehr viel differenzierter und interessanter die delikaten Wülste, Falten, Verschiebungen der auf den Leib gezogenen und damit aus der Fläche in die Dreidimensionalität erhobenen Bildwerke, als es mit Fotographien realer Ausstellungsbesucherinnen möglich gewesen wäre.


Nikolaus Breisach: Von der Stoppage zur Vêturage

Auf den ersten Blick scheint Nikolaus Breisach von den eben angesprochenen Vorgehensweisen der genannten Künstler je einen Aspekt zur Erfindung und Begründung seiner eigenen Arbeiten zusammengefügt zu haben. Wie Piller gibt er mit Farbfotographien vereinzelte oder gehäufte Kleidungsstücke wieder; wie Chamberlain interessiert er sich gleichermaßen für Farb- wie Formwerte durch Deformierung; wie bei Sylvie Fleury animieren Breisachs Fotos, eine Erzählung zu starten – entweder in kriminalistischer oder archäologischer Absicht; wie Boltanski erweckt er einen leicht metaphysischen Schauder vor der Drohung mit gewaltsamer Verwandlung der Individuen in Verfügungsmasse eines ihnen fremden Beliebens; wie Anna Blume achtet er auf Distanz zum Pathos künstlerischer Proklamationen; wie Büttner formt er die Kleiderhaufen zu Zeugnissen konventioneller Ordnungen; und wie Duchamp bei seinen „Stoppagen“ verwendet er den Zufall als heuristisches Prinzip.
Man spürt die Freude, mit der die Kleiderhaufen zu Plastiken gruppiert werden, die dem Plastiker jeweils formal interessante Aspekte bieten. Der gezielt erzeugte Zufall ist nämlich gerade in Hinblick auf die Ökonomie des Gestaltens effizient. Man kommt mit den Zufallshandlungen schneller zu attraktiven Arbeitsresultaten; deren Problematik besteht dann allerdings in ihrer Vielzahl, aus der dann doch wieder nach Gesichtspunkten systematisch entwickelter Grundpositionen (siehe das Beispiel von Simon Wassermann) ausgewählt werden muss.

Damit kommen wir zu den Eigenarten Breisach’scher Arbeiten: Er ist Synkretist und einer der besten. Synkretismus ist die gegenwärtig leistungsfähigste Verfahrensweise zur Bildung von Zusammenfügungen, von Zusammenstellungen, von Konstellationen, in denen die Dinge durch ihre Relation zu Anderen Bedeutung erhalten. Bisher favorisierte Verfahren wie die Orientierung auf Gesamtkunstwerke oder auf Reduktionismus als Optimierungsstrategie („less is more“) reichen offensichtlich für bestimmte Anforderungen nicht mehr hin. Ausdruck dafür ist die tausendfach reproduzierte Formel „Alles und mehr“ in der Gestalt von „Geld und mehr“, „Fisch und mehr“, „Design und mehr“, „Urlaub und mehr“, denen man in jeder Stadt täglich vielfach begegnet. Ein derartiges „Mehr als alles“ bezeichnet eben die Forderung nach einer synkretistischen Zusammenfügung in Konstellationen. So wird relativ, weil alles erst durch seine Zuordnung zu Anderen Bedeutung erhält, die über die bloße Totalität der Dinge, Summe ihrer Bestandteile, Summe ihrer Produktions- und Erwerbskosten, Summe ihrer Wiederverwertbarkeit hinausverweist. Solches Hinausverweisen definiert das „Mehr“ als „Alles“.

Also inszeniert Breisach die Haufen seiner Kleidung und gibt nicht nur Objektensembles wieder, die sich irgendwo beliebig dem Auge bieten. Dabei wird über die Optik vor allem die haptische Wahrnehmung stimuliert, weil durch die Art der Einpassung von einzelnen Stoffen in die Kleiderstückensembles der animistische Impuls ausgelöst wird, das Sehen auf die Objekte als ein haptisches „Begreifen“ auszustellen. Auch die farblichen Kompositionen sind sehr bewusst der delikaten Malerei, der Farbe als Formempfinden analog gesetzt. Zum überwiegenden Teil lassen sich die Kleidungsstücke einem gehobenen Lebensstil ihrer Besitzer zuordnen und gehoben heißt hier mit ausgebildetem Anspruch, Sichtbarkeit, Tastbarkeit, Verformbarkeit und klimatisch-atmosphärische Anmutung als Einheit zu erwarten.


Wir schlagen in Anlehnung an Duchamps Begriffsbildung „Stoppage“ für den Typus der Arbeit von Breisach den Begriff „Vêturage“ vor, also das Bekleiden als Formierung einer Plastik. Die „Vêturage“ lässt sich deutlich vom Bekleiden als soziale Formierung wie in der Mode einerseits und von dem Verfahren der Christos, dem Verhüllen als Formierung eines Volumens unterscheiden. Denn die Pointe der Breisach’schen Vorgehensweisen und damit der „Vêturagen“ liegt ja darin, dass die Formierung nicht durch das Anziehen der Kleidung, sondern durch das Ablegen geschieht. Eine anspruchsvolle Stripperin fühlt sich in ihrer Absicht erst bestätigt, wenn es ihr gelingt, die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die Wäsche zu lenken, die sie gerade auszieht. Damit wird sie wirklich zu dem, was mit „Reizwäsche“ gemeint ist, nämlich die Möglichkeit, einen unsichtbaren Körper zu imaginieren, indem man ihn durch Reizwäschehüllen vorstellbar, aber nicht darstellbar werden lässt. Ginge es nämlich um die nackten Tatsachen, bräuchte man das Attraktionspotential von Kleidung überhaupt nicht ins Spiel zu bringen. Aber Nacktheit ist eine geistige Gestalt und nicht eine Tatsache. Analog dazu sind die „Vêturagen“ von Breisach Verweise auf den Träger der Kleidung als sozialer, physiologischer, ästhetischer Gestalt, auf die sich der Träger der Kleider in seinen Haltungen, Werturteilen, Attitüden bezieht, ohne sie selbst darzustellen. Die kulturgeschichtlich wirkungsvollste Vermittlung zwischen sichtbaren Attraktoren und nur imaginierbaren Gestalten entdeckte man in den unterschiedlichsten Weisen, Objekte zu falten – natürlich in Abhängigkeit von den Materialcharakteren. Faltung ist inzwischen auch in mikrobiologischem Sinne als leistungsfähigste Form der Bewältigung von Informationsfülle verstanden worden. Die Faltung
in verschiedensten Lagen wird nicht nur aus ökonomischen Gründen gegenüber der glatten, voll einsichtigen Flächentafel bevorzugt. Die Gestaltbildung wird beim Falten und Entfalten als Einheit von Ordnen durch Wegnehmen und Ordnen durch Hinzufügen produktiv. Auf der harmlosesten Stufe wird Faltung durch nicht antizipierbare Deformation erreicht (siehe Chamberlain). Als Gestaltungsstrategie wie bei Breisach macht sie sich in immer erneuten Formfügungen durch Umlegen, Umgruppieren und Umstellen bemerkbar und nutzbar. Das ist mit dem Begriff der Vervielfältigung gemeint, also die vielfältige Weise der Wandlung des Verhältnisses von Faltung und Entfaltung. Somit könnte man sagen, dass Breisachs Fotos Formevolutionen dokumentieren, Evolution also im Sinne der Entfaltung eines Gestaltpotentials, das durch Faltung aktiviert wird. Breisachs Arbeiten zeigen in der Faltung der Kleider als Haufenbildungen ein Formgedächtnis, das evolviert wie Nitinoldraht, der aus jeder beliebigen Deformation in seine Ausgangsform zurückkehrt, sich also reformiert.