Magazin Der SPIEGEL

Der SPIEGEL 16/1995
Der SPIEGEL 16/1995

Erschienen
17.04.1995

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
16/1995

Seite 216 im Original

Spiegel-Essay: Die Kultur zivilisieren

Nachdem sie das Ende des Sozialismus ausgerufen hatten, suchten linke Karrieristen und rechte Abzocker nach einer neuen Legitimation dafür, sich den Ratlosen und Ratsuchenden in aller Welt als Heilsbringer ideell und materiell zu empfehlen. Bemerkenswerterweise einigten sich links und rechts auf die Ideologie des Multikulturalismus als neue Menschheitsbeglückung.

Selbst bei großzügigster Interpretation aller vorliegenden Veröffentlichungen zum Multikulturalismus läßt sich aber leider nur feststellen, daß es überhaupt keine konkreten Vorstellungen davon gibt, wie eine multikulturelle Gesellschaft funktionieren soll. Denn was links und rechts unter Multikultur als Lösung des Problems halbwegs friedfertigen Zusammenlebens von unterschiedlichen Ethnien, Sprach- und Kulturgemeinschaften, Wirtschafts- und Gesellschaftsformen ausgeben, ist bestenfalls die Benennung oder Beschreibung des Problems, nicht aber seine Lösung.

Die Rechten verstehen Multikultur als Sicherung der homogenen Kulturen nach dem Motto: jeder Gemeinschaft ihr Territorium, ihren Kompetenzbereich - aber bitte auf Abstand, unter strikter Wahrung der Autonomie. Die Linken berufen sich auf das Hirngespinst der kulturellen Identität von lauter Minderheiten, die alle das Recht erhalten sollen, ihre kulturelle Eigenart nach innen zu wahren und nach außen zur Geltung zu bringen.

In der Berufung auf die je eigene kulturelle Identität mit Sprachgemeinschaft, Religionsgemeinschaft und Überlebensgemeinschaft liegt der Kern für neue Konflikte, die bereits überall auf der Welt im Namen der Durchsetzung autonomer kultureller Identität zu blutigen Auseinandersetzungen führen: zwischen den Kaukasusvölkern, zwischen den Völkern Jugoslawiens, Sri Lankas, Burundis und in über 40 anderen Regionen der Welt.

Auf den ersten Blick scheinen diese exzessiven Kämpfe um kulturelle und ethnische Autonomie vielen friedfertigen und ein wenig naiven Europäern unbegreiflich zu sein. Man schüttelt den Kopf, ist entsetzt und propagiert humanitäre Hilfe durch die Uno und viele Initiativen Gutgläubiger. Man tut so, als gäbe es in Europa keine historische Erfahrung mit solchen Situationen. Jedem historisch Interessierten drängt sich aber beispielsweise das europäische 17. Jahrhundert als Analogie zur heutigen Situation auf.

Die Deutschen machten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts - im Dreißigjährigen Krieg - unter Verlust der halben Bevölkerung die Erfahrung, wohin Kulturkampf als Religionskampf zwischen Protestanten und Katholiken führt. Die Polen erlebten die schwedische Sintflut mit ungeheuren Zerstörungen, für die es nur einen schwachen Trost gibt: das Wunder von Tschenstochau und die Geburt des polnischen Barock auf den Trümmern der zerstörten Städte.

Die Engländer köpften 1649 ihren König, um diese angebliche Befreiungstat als zehnjährigen fundamentalistischen Terror von Cromwell, Vater und Sohn, zu büßen. Richelieu und Ludwig XIV. versuchten verzweifelt, die regionale Fürstenwillkür zu bändigen mit einer ungeheuren Überanstrengung, die das Land fast ruinierte. Und vor Wien führten 1683 die Heroen der christlichen Kulturen Krieg gegen die Heroen der islamischen Kulturmission.

Aus diesen Katastrophen-Kämpfen um regionale, kulturelle, religiöse und politische Autonomie zogen die französischen Aufklärer, die englischen Zivilisationstheoretiker und die deutschen Humanisten des 18. Jahrhunderts Schlußfolgerungen, die beispielhaft waren. Allen ging es um die Zivilisierung der Kulturbarbaren.

Bis heute kann man die Enzyklopädie Diderots, den englischen Landschaftsgarten und die deutschen Reformbewegungen der fruchtbringenden gemeinnützigen Gesellschaften als höchste Ausformung des Zivilisationskonzepts verstehen, das in der kantischen Philosophie, in der amerikanischen Verfassung und in der Menschenrechtsdeklaration von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit durch die erste Generation der Französischen Revolution von 1789 seine theoretische und praktische Grundlegung erhielt. Leider sind dessen Wirkungen zunächst durch Napoleon, dann durch seine europäischen Ordnungsvorstellungen zunichte gemacht worden.

Das Konzept einer universellen, republikanischen, sozialrevolutionären Zivilisation und seiner Realisierung als Verwaltungsstaat wurde gekontert durch das Konzept des Nationalstaats auf der Basis homogener ethnischer und kultureller Identität.

So wurde in Deutschland ab 1806 im Widerstand gegen Napoleons Armeen von Dichtern, Künstlern und Geisteswissenschaftlern (vor allem von Philosophen, Kunsthistorikern und Germanisten) der traurige, weil sehr erfolgreiche, Versuch unternommen, eine deutsche kulturelle Identität zusammenzuschustern, die selbst vor historischen Fälschungen nicht zurückschreckte (die mittelalterliche Gotik wurde als genuiner Ausdruck der deutschen Kultur ausgegeben).

Mit dieser Fiktion, oder besser mit dieser kontrafaktischen Behauptung einer jahrhundertealten Kultur der Deutschen, wurde das Verlangen nach dem Nationalstaat geschürt und schließlich 1871 realisiert. Zeitgenossen dieser Entwicklung wie Heine, Fontane oder Nietzsche sahen schon damals ganz klar, wohin die unheilige Allianz von Kulturnation und Nationalstaat führen mußte. Selbst Bismarck war skeptisch, ob man ungestraft Machtpolitik unter Berufung auf die Rechte einer Kulturnation betreiben könne. Als er den fatalen Nationalismus in die Schranken weisen wollte, war es zu spät.

Kaiser Wilhelm II. politisierte die Kulturnation zu einer aggressiven Macht, die die Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen zu einem heiligen Krieg deutscher Kulturidentität gegen die von Frankreich repräsentierte universelle sozialrevolutionäre Zivilisation ausrief.

Auch der deutsch/jüdische, deutsch/polnische, deutsch/russische Antagonismus wurde aus der Verpflichtung radikalisiert, die deutsche Kultur gegen ihre angeblichen Feinde zu behaupten - und mehr noch, ihren Führungsanspruch durchzusetzen.

Die Folgen sind bekannt - selbst die systematische Ausrottung der Juden kann noch als das Resultat dieser Kulturkonzeption gesehen werden. So sehr man auch verstehen kann, daß der Holocaust für eine bisher einmalige Form der Kulturbarbarei gehalten wird - wir sollten nicht so sicher sein, daß sich dergleichen nicht wiederholt.

Alle Kulturen entwickeln nämlich tendenziell barbarische Formen der Selbstbehauptung, sobald man ihnen im Namen der Wahrung ihrer Autonomie die Möglichkeit läßt, sich zu radikalisieren, das heißt: ihnen Anspruch auf totalitäre Bestimmung aller rechtlichen, religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zugesteht.

Ein zivilisiertes Zusammenleben von Menschen durch gemeinsame Verpflichtung auf für alle geltende staatliche Ordnungen und soziale Regeln ist Multikulturen daher nicht möglich. Deswegen kann ein säkularisierter Rechtsstaat und Sozialstaat kulturelle Autonomien nur soweit zulassen, wie von diesen Kulturen kein Einfluß auf Recht und Gesetz, auf soziale Ordnungen und staatsbürgerliche Bildung reklamiert wird.

Die moderne Zivilisation ist seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Wissenschaften und Künsten, in Staat und Gesellschaft als ein Versuch zu verstehen, kulturelle Identitäten, religiöse Bekenntnisse und rassisches/ethnisches Vormachtsstreben so weitgehend wie möglich zurückzudrängen; das eben hieß Säkularisation.

In einer Zivilisation sind die eifernden Kulturen nur auf der Ebene der Folklore und der Musealisierung zugelassen. Die Erfindung des Museums ist der geniale Versuch der Zivilisation, mit solchen Kulturen umzugehen.

Alle Kulturen sind prinzipiell gleichwertig, sie leisten für ihre Mitglieder alle dasselbe: nämlich ein Weltverständnis, eine Kosmologie zu bieten, in der alle Mitglieder die Frage nach Gott und den Göttern, nach Tod und Unsterblichkeit, nach dem Verhältnis von Natur und Kultur oder dem Verhältnis von Geist und Materie, respektive Seele und Leib, einheitlich und gemeinschaftlich beantwortet sehen können.

Aus dieser Einheitlichkeit oder Homogenität verstehen sich Kulturen als Überlebenskampfgemeinschaften, die solange erfolgreich sind, wie sie sich gegen andere Kulturen behaupten. Dabei entsteht ein zentrales Problem: Die Beziehung der Kulturen untereinander wird so lange als mehr oder weniger blutiger Kampf ausgelebt, wie sie sich nicht gemeinsam auf besondere Regeln, die für alle gelten, verständigen.

Mit der Entwicklung der Diplomatie sowie universeller Wissenschaften, Handelsbeziehungen und Kommunikationsformen entstand der Gedanke der interkulturellen Beziehungen als Zivilisation. Heute herrschen auf dem gesamten Globus dieselben Kommunikationstechnologien, dieselben Produkt- und wissenschaftlichen Entwicklungsstrategien. Daß diese Universalisierung als Bedrohung regionaler Kulturautonomie erlebt wird, läßt aber erkennen, wie gering immer noch das zivilisatorische Niveau ist.

Da kulturelle Identität immer schon eine kontrafaktische Behauptung war, stören die vielen Kulturkämpfer offensichtliche Unsinnigkeiten ihres Selbstverständnisses nicht im geringsten. Religiöse Fundamentalisten aller Richtungen kämpfen angeblich gegen das Teufelszeug universeller Technologien, indem sie sich eben dieser Technologien bedienen.

Da werden Tonbänder und Videokassetten verteilt, um deren Nutzer gegen technische Teufeleien aufzuhetzen. Kulturelle Minderheiten berufen sich auf universal begründete Menschenrechte, um ihre Autonomie einzufordern; innerhalb ihrer Kulturen scheren sie sich aber einen Teufel um Freiheit und Gleichheit.

Diesen gefährlichen Widersinnigkeiten können zivilisierte säkulare Staaten nur durch strikte Musealisierung ihrer Kulturen begegnen. Nie zuvor konnte man sich so intensiv, so phantasiereich und fesselnd mit Kulturen beschäftigen wie in den modernen Museen, in denen sie eingelagert, fachmännisch erschlossen und jedem zugänglich gemacht werden.

Wem es wirklich darum geht, den geistigen Reichtum der vielen Kulturen in Geschichte und Gegenwart zu bewahren, der hat dazu in den Instituten der Musealisierung phantastische Möglichkeiten. In keiner einzelnen Kultur waren je die Leistungen aller Kulturen so präsent wie in unserer Zivilisation.

Nein, die angebliche Bedrohung der Kulturen durch die universale Zivilisation ist eine Kampfparole und nicht eine Feststellung von Fakten. Deswegen können und müssen wir darauf bestehen, gerade als Künstler, Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer, die Zivilisation, zumindest aber grundlegende zivilisatorische Standards gegen die Kulturautonomisten zu stärken.

Wenn die Menschen in Zukunft noch etwas Gemeinsames haben werden, das ihr Überleben auf diesem Globus sichert, dann sind es nicht die Gemeinsamkeiten religiöser Überzeugungen, parteipolitischer Bekenntnisse oder kultureller Uniformen - die führen ja gerade in die Kulturkämpfe. Die neue geforderte Gemeinsamkeit besteht in der Konfrontation mit Problemen, die keine Kultur lösen kann, wie beispielsweise die weltweiten ökologischen Probleme.

Sich zu zivilisieren heißt zu lernen, mit solchen innerhalb einer Kultur unlösbaren Problemen umzugehen, anstatt sie bloß den kulturellen Überzeugungen und Verhaltensweisen der anderen, der Fremden, die nicht zu unserer Kultur gehören, in die Schuhe zu schieben.

Aber je blutiger die Kämpfe um regionale Kulturautonomie mit ethnischen Säuberungen und fundamentalistischen Absolutheitsgeboten auf der ganzen Welt sichtbar werden, desto stärker wird auch die Einsicht wachsen, daß nur eine universale Zivilisation die heroischen Kulturbarbareien zu zügeln vermag.

Wer den geistigen Reichtum der Kulturen bewahren will, der hat dazu in den Museen große Möglichkeiten.

Bazon Brock, 58, lehrt als Professor für Ästhetik an der Bergischen Universität in Wuppertal.

Abb. in: Der SPIEGEL 16/1995, Bild: S. 216.
Abb. in: Der SPIEGEL 16/1995, Bild: S. 216.

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