Buch Die Mitgift der Prinzessin von Trapezunt - die Legende nach Linde Burkhardt

[die Neue Sammlung, München]

Die Mitgift der Prinzessin von Trapezunt - die Legende nach Linde Burkhardt, Bild: München: Neue Sammlung, 2012..
Die Mitgift der Prinzessin von Trapezunt - die Legende nach Linde Burkhardt, Bild: München: Neue Sammlung, 2012..

Ausstellungskatalog. - Text dt. und engl.

Erschienen
01.05.2012

Herausgeber
Florian Hufnagl

Verlag
Neue Sammlung

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
978-3-9813755-2-7

Umfang
63 S. : überw. Ill. ; 22 x 23 cm

Einband
kartoniert

Seite 11 im Original

Pisanello befreit die Gestaltung aus den Klauen des Kunstmonsters

Zu einem frühen Ausflug nach Verona mit Linde, François, Melusine als Hofstaat der Prinzessin von Trapezunt

Linde Burkhardt hat Zeit ihres Arbeitslebens einen Grundkonflikt der Moderne aushalten und bewältigen müssen, der aus der Rivalität von künstlerisch-architektonischem Arbeiten einerseits und designerischen Tätigkeiten andererseits entsteht. Die Ausprägung dieses Konfliktes in Deutschland ist durch die Entgegensetzung von Schaffen und Gestalten oder, mit anderen ebenso geläufigen Begriffen, im Gegensatz von schöpferischen Künstlern und anwendungspraktischen Gestaltern bezeichnet worden. Institutionell überhöht, war das der Gegensatz von Hochschulen oder Akademien der freien Künste einerseits und der Schulen für angewandte Kunst andererseits. Noch grundlegender wurde der Konflikt historisch im Gegensatz von Kunst und Handwerk verhandelt.

Im Bauhaus wurde versucht, durch Verpflichtung aller Studierenden auf den Besuch von Grundkursen der Gestaltung den Konflikt stillzustellen in der Hoffnung, die Herausforderungen der Lebenspraxis würden den Absolventen am Ende eine Entscheidung ersparen, indem sie natürlicherweise auf Arbeitsangebote in den Designfeldern der entfalteten Industrieproduktion eingehen würden, anstatt das stolze Kümmerdasein freier Künstler auf sich zu nehmen.

Für einen weiteren Vermittlungsversuch schlug ich ab Anfang der 80er Jahre vor, die Geschichte der sogenannten abstrakten Kunst in kulturgeschichtlicher Sicht der uralten Geschichte des Ornaments zuzuschlagen. Mir schien die Vermutung gut begründbar, dass sich in der sogenannten Ungegenständlichkeit und Abstraktheit im Bereich der Malerei der viel ältere Geltungsanspruch der ornamentalen Tradition durchsetzen würde. Ich mußte dann aber, vor allem in Gesprächen mit Gerhard Merz, ernüchternd zur Kenntnis nehmen, dass sich zeitgenössische kunstgläubige Jünglinge ganz und gar nicht erhoben fühlten durch die Zuordnung zu einer mindestens sechstausendjährigen Tradition des Ornaments; alle sahen sich lieber als Randfiguren der knapp sechshundertjährigen Kunstgeschichte. Markus Brüderlin hat in seiner von mir betreuten Dissertation „Ornament und Abstraktion“ den gesamten Themenkomplex in bewundernswerter Differenziertheit dargestellt.

Bis zum heutigen Tag wirkt die Polemik von Adolf Loos gegen das Ornament als Verbrechen derart weiter, dass sich selbst der blasseste Künstlerimitator berechtigt glaubt, sein Selbstwertgefühl durch herabsetzende Bemerkungen über die Afterkünstler des Design steigern zu können. Schon die geringste Bereitschaft, sich von historischen Gegebenheiten belehren zu lassen, führt zu der Einsicht, dass Loos klüger war, als er erscheinen durfte, um noch als radikaler Avantgardist gelten zu können. Er hatte nämlich nur gegen die aufgesetzte Oberflächenbehübschung des Wilhelminismus polemisiert, um die unter der Oberfläche mächtige Gestaltungslogik zu demonstrieren. Die heißt bis heute „less is more“. Das „less“, also die Reduktion, führt auf den Ursprung der Gestaltung als Zusammenhang in der Gestalt. Und die frühesten Zusammenhänge sind nun mal als Einheit gedacht. Die ursprüngliche Form der Einheit ist das Teile zusammenführende Dekor im gestalterischen Ausdruck. Wer ein Ornament, zum Beispiel einen Mäander oder einen Zahnschnitt, über heterogenste Weltbestände legt, hat eine Behauptung über deren Zusammenhang aufgestellt. Das proportionale Geschiebe von Elementen der Gestaltung bis zum Ausdruck einer evidenten Stimmigkeit ihrer Einheit ergibt die Grundform jeglichen decorums. Und solches decorum bezeichnet auch alle Sinnzusammenhänge im sozialen und politischen Handeln, was Siegfried Kracauer in seinem Standardwerk „Ornament der Massen“ einsichtig macht.

Linde Burkhardt hat sich der unfruchtbaren Polemik zwischen Künstlern und Designern entzogen, indem sie als Lehrerin und Praktikerin postulierte, dass die künstlerische wie gestalterische Arbeit nicht anders verstanden werden sollte denn als kontinuierliche Entwicklung von Fähigkeiten, die Grundlagen der Gestaltung zu entfalten; Meisterschaft wäre dann nicht jenseits von Bemühungen um die Grundlagen zu erreichen, sondern durch die gesteigerte Souveränität in ihrer produktiven Nutzung.

Gerade am Anfang der Formulierung von postmodernem Pathos in der Maxime „Alles geht“ – und wenn es nicht geht, geht es eben nicht – erörterten wir, wie eigentlich alle Zeitgenossen, derartige Fragestellungen; sei es, weil wir gestalterisches Arbeiten deutlich von Warenpropaganda der Werbung unterscheiden mussten, um uns zu rechtfertigen; sei es, dass wir uns für weit über einzelne Kunstwerkswirkungen hinausgehende Einflussnahmen auf die Öffentlichkeit durch Gestaltung der Gebrauchsgegenstände entscheiden wollten.

Eine solche Diskussion möchte ich hier in Erinnerung bringen. Ich fuhr 1973 mit Linde und François und meiner Freundin Melusine nach Verona, um in den Dodici Apostoli für die geplanten Exkursionen der Petrarca-Preis-Gesellschaft probezuessen. Um die Gemeinsamkeit unserer Urteilskriterien durch kunsthistorische Exercitien zu trainieren, konfrontierten wir uns unter anderem in Sant’Anastasia Pisanellos grandiosem Fresko aus den 1430er Jahren, das ein allseits sehr beliebtes Motiv aufgreift, nämlich die Befreiung der Prinzessin, der Jungfrau, der Reinheit aus den Klauen der finsteren Mächte. Der überlieferten Titelei zufolge schildert Pisanello die Befreiung der Prinzessin von Trapezunt aus dem Kerker ihres elenden Exils, in das sie durch dynastische Heiratspolitik geraten war. Der dem holden Mädchen aufgezwungene Gatte war nach Pisanello ein veritables Ungeheuer, vor dessen Virilität und Pestodem selbst mit Rittertugenden gestählte Bekenner von Treu und Glauben drohten, zuschanden zu werden. Pisanello hatte, angeregt durch die Auswanderung byzantinischer Gelehrter aller Disziplinen nach Florenz, seine Tätigkeit nicht als die eines Künstlers ausgewiesen, sondern sich zoographos genannt, also Lebensstifter – in Analogie zur Kraft der Frauen, durch Gebären Leben zu stiften. Das Leben, das der Zoograph zu schaffen in der Lage war, erfuhren wir an uns selbst durch unsere Reaktionen auf das Bildwerk Pisanellos: Wir waren begeistert, ergriffen und zu Disput stimuliert.

Ich verkürze unsere damaligen Reaktionen auf einen Punkt: Wir fragten uns, was dieses Motiv für unsere damals zeitgenössische Lage bedeuten könnte. Lebengebend waren für uns alle diejenigen, die das Alltagsleben der Zeitgenossen durch Gestaltung von Gebrauchsgegenständen, Architekturen, städtischen Infrastrukturen, kurz durch Soziodesign zu erhöhen, zu intensivieren, zu stimulieren vermochten. Soziodesign heißt, durch Gestaltung das soziale Verhalten und die individuelle Haltung von Menschen in einem wünschbaren Sinne zu beeinflussen. Und wünschbar ist alles, was die Intensität der Wahrnehmung und der Lebensäußerung steigert. Nichts ist so förderlich wie die liebende, die erzieherische, die heroische Hingabe der Frauen an Männer und der Männer an Frauen. Dazu gilt es, die Fesseln der Konventionen, der Konfessionen, der Konkurrenzen zu sprengen. Befreiung ist die Voraussetzung freier Entscheidung. Der heilige Georg war also ein Ideologiekritiker, ein Kämpfer gegen das Gefängnis der Selbstbefangenheit und der Unterwerfung unter vermeintlich unabänderliche Sachzwänge. Befreit werden sollte die lebensförderliche Kraft gestalterisch ausgedrückter Sinnstiftung in unserem Alltagsleben. Der Drache, der diese Möglichkeit freier Entfaltung eigener Kräfte verhindert, ist die jedem Aktiven aufgenötigte Attitüde, sich als existentiell tiefschürfender heiliger Künstler maskieren zu müssen. Das verlangen die Feuilletonisten und die potentiellen Förderer.

In der Rollenverteilung unter uns verlebendigten Betrachtern ergab sich in Kenntnis unserer Biographien und demonstrierten Wirkungskräfte die Frage, welcher der dargestellten Figuren und Situationen wir uns selbst zuordnen wollten. Ich jedenfalls sah mich umstandslos als Befreier der eingeschlossenen gestalterischen Potenz Linde. François musste sich als Direktor des Internationalen Design Zentrums und Gatte natürlich mit dem mächtigen Lindwurm der sozialen Institutionen identifizieren. Melusine Huss hatte als Buchhändlerin den Wunsch, als Vorleserin Pisanellos und seiner Gefährten die Anregung zum Thema gegeben zu haben. Und dann gingen wir alle, „wie immer wieder sonntags“, in fröhlicher Selbstaffirmation zum Mahl bei den Zwölf Aposteln. Seither erlebt Linde eine staunenswerte Freiheit in der Behauptung ihres Werkanspruchs, der mehr und mehr Kenner überzeugt. Es gelang ihr, sich aus dem terroristischen Diktat der Überhöhung von Gestaltung zur künstlerischen Schöpfung zu befreien und eigenständig, also selbstbewusst, in Teppichen, Keramiken, Stoffen, Gläsern, Dekoren soziodesignerische Wirkung zu entfalten. Sie hat ganz erheblich dazu beigetragen, dass wir heute anerkennen müssen, wie viel schwerer es ist, sich als Designer denn als Künstler zu behaupten. Denn der leistungsschwächste Künstler kann seinen Anspruch dadurch begründen, dass er den ihm gegenüber spürbaren Widerstand gerade als Bestätigung seiner Außerordentlichkeit behauptet. Diese Flucht in die Rolle des verkannten Künstlergenies verbietet sich für die Gestalterin, die Designerin. Das ist und bleibt ihr Ruhm.

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