Buch Das Vermögen der Kunst

Yael Katz Ben Shalom u.a. (Hg.): Das Vermögen der Kunst, Bild: Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2008..
Yael Katz Ben Shalom u.a. (Hg.): Das Vermögen der Kunst, Bild: Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2008..

Welche Möglichkeiten hat Kunst, auf gesellschaftliche Phänomene zu reagieren und in diesen wirksam zu werden? Diese Frage stand im Zentrum eines Projektes, das Künstler und Theoretiker aus Israel, Palästina und Deutschland zu Antworten einlud. Im Laufe einer Vortragsreise durch Ostdeutschland, die an Orte gesellschaftlichen Einflusses und Versagens führte, sowie in einer anschließenden Ausstellung zeigten die beteiligten Referenten und Künstler aktuelle Widersprüche und kontroverse Theorien auf. Die hier vorliegende Momentaufnahme des Projektes ist eine Kritik des heutigen Kunstbetriebs und seiner Praxis, die selbst Formen künstlerischer Produktion annimmt.

Mit Beiträgen von Salwa Alenat, Roger Behrens, Michael Beleites, Yael Katz Ben Shalom, Gernot Böhme, Olaf Breidbach, Bazon Brock, Christoph Dahlhausen, Daniela Dahn, Tim Deussen, Boris Groys, Jens Herrmann, Ronald Hirte, Wolfram Höhne, Ines Knackstedt, Kooperative Kunstpraxis, Michael Lingner, Günther Moewes, Andreas Paeslack, Achim Preiss, Kerstin Stakemeier, Peter Wächtler.

Inhaltsverzeichnis zum Online-Download in der Deutschen Nationalbibliothek:

http://d-nb.info/982415702/04

Erschienen
01.01.2008

Herausgeber
Yael Katz Ben Shalom

Verlag
Böhlau

Erscheinungsort
Köln, Deutschland

ISBN
978-3-412-12606-3

Umfang
300 S.; Ill.; 24 cm

Seite 40 im Original

Zur Strategie der Symptomverordnung als Therapie

Zunächst mag es als anmaßend, naiv oder borniert erscheinen, in ernsthafter Absicht Künstler zu veranlassen, mit ihren gestalterischen und konzeptuellen Mitteln und Medien ein weltpolitisches Problem wie den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bearbeiten zu lassen. Wenn dabei mehr als gut gemeinte Allerweltsweisheiten oder völlig unangemessene Betroffenheitsdeklamationen herauskommen soll, dann ist diese Hoffnung darin begründet, dass es in der Kunstpraxis, in ihrer Geschichte und Ästhetik entwickelte Auffassungen von Problembearbeitungen gibt, die bisher weder in der politischen noch in der kulturellen oder sozialen Arbeit zur Geltung kamen.

Und in der Tat, für die Kunstpraxis in Geschichte und Gegenwart spielt die Auffassung, Beschäftigungen mit Problemen hätten erstrangig auf deren Lösung hinzuführen, überhaupt keine Rolle. Im Gegenteil – die Meisterschaft der Meister, sagen wir des 16. Jahrhunderts, brachte sich darin zur Geltung, dass etwa Raffael in seinen Arbeiten nicht die Probleme seines Lehrers Perugino gelöst hätte und damit die Problemstellung Peruginos als geschichtlich, ja fortschrittlich überwunden, weil gelöst, behauptete; oder Michelangelo seinerseits die Problemstellungen Raffaels hätte obsolet werden lassen; oder Caravaggio demonstriert hätte, dass er die Michelangelosche Konzeption und Position nunmehr überholt habe und Michelangelo nur noch eine historische Reminiszenz, aber ohne Bedeutung für die aktuelle Arbeit an der Spitze des Fortschritts darstelle.

Eine derartige, wie gesagt in der Kunst unsinnige Auffassung von Problembearbeitungen als Problemlösungen demonstrieren etwa herkömmliche Technikmuseen. Wenn dort beispielsweise die Entwicklungsgeschichte des Pflügens und der Pfluggerätschaften demonstriert wird, wird jeder die Kuriosität der historischen Relikte genießen, aber niemals auf die Idee kommen, andere als die Geräte der heutigen Technik-Avantgarde tatsächlich im Landbau einzusetzen.

In der Kunst und ihrer Geschichte ist das, wie gesagt, ganz anders. Die Meister des 16. Jahrhunderts von Perugino bis Caravaggio sind eben derartig bedeutende Künstler, weil sie Techniken und Medien, Konzepte und Kontente der Künste jeweils in so extremer Form zum Problem erhoben, dass ihre Konstellationen von niemandem überboten werden konnten. Mit anderen Worten, die Meister sind bedeutend, weil ihnen für die Künste Problematisierungen gelangen, die bis heute das Interesse an diesen Künsten wach halten, denn was macht die Welt und das Leben in ihr bedeutungsvoller und interessanter als die menschliche Fähigkeit, sogar noch das scheinbar logisch Evidente oder kulturell Konventionelle zum Thema und damit zum Problem zu erheben.

Zu dieser Erinnerung an das Problemverständnis der Künste in Geschichte und Ästhetik kommt die allgemeine Lebenserfahrung wie die spezielle wissenschaftliche Bestimmung hinzu, dass für Menschen auf Erden, also ohne Anmaßung von Erlösungsallmacht, Probleme immer nur gelöst werden können, indem man durch die Lösung neue Probleme schafft. Im alltäglichen Umgang mit Maßnahmen der medizinischen Therapie fallen heute Alltagserfahrung und wissenschaftliche Begriffsbestimmung zusammen: Jeder weiß, oder kann es aufgrund der Beipackzettel wissen, dass wirksame und erfolgreiche Medikamente immer Nebenwirkungen erzeugen müssen. Effektive Therapien als Lösung eines Gesundheitsproblems führen notwendig zur Entwicklung anderer Selbstproblematisierung des menschlichen Körpers, die wir Krankheit nennen. Auch in einem anderen weltweit diskutierten Bereich effektiver Problemlösung wird heute jedem Weltbürger zugemutet zu berücksichtigen, dass Probleme grundsätzlich nur durch das Schaffen neuer Probleme gelöst werden können. Dann allerdings ist es nicht sinnvoll, so etwas noch eine Problemlösung zu nennen. Die Errichtung von Atomkraftwerken löst die Probleme der Energieknappheit nur dadurch, dass es uns lebensgefährliche neue Probleme mit der Verhinderung (?!) von Strahlenschäden wie in Tschernobyl aufnötigt.

In toto gilt das Gesagte für die Politik; dennoch behaupten Politiker nach wie vor, sie würden mit diesen oder jenen Gesetzen oder Verordnungen das Problem der Ungleichheit zwischen den Menschen lösen wollen oder die Probleme nachlassender Wirtschaftskonjunktur beseitigen. So wird auch immer wieder behauptet, es gelte, Lösungen für die Probleme zu finden, die sich aus der Konfrontation von Israel und Palästinensern, von Juden und Arabern, von religiösen Fundamentalisten und Säkularen ergeben. Zahlreich sind die intelligenten, gewitzten, zum Teil sogar konsensfähigen Vorschläge, wie man die Nahostprobleme lösen könne. Diejenigen, die auf beiden Seiten in den Genuss dieser Lösungen kommen sollten, empfanden jede noch so humane, ausbalancierte, den allgemeinen Interessen verpflichtete Lösung als eine Zumutung, weil sie sehr schnell die neuen Probleme intuitiv erfassten, die sich gerade aus den besagten Vorschlägen zur Lösung ergaben.

Mit Hinweis auf das oben skizzierte Problemverständnis in den Künsten lässt sich die Arbeit von Künstlern zu weltpolitischen Problemstellungen von vornherein dadurch kennzeichnen, dass Künstler niemals anmaßend naiv oder dumm beziehungsweise menschenfreundlich, hilfsbereit und erfinderisch irgendjemand gegenüber Vorschläge für die Lösung von Problemen machen werden. Wie verändert sich das Bewusstsein von der äußerst problematischen Nahostkonstellation bei den dort Lebenden, wenn sie sich endlich nicht mehr der Illusion hingäben oder auf die Hoffnung vertrösten ließen, es gäbe eine Lösung für das Israel-Palästinenser-Problem, wenn man nur ausdauernd genug, mit äußerster Radikalität, gnadenlos die zum Problem gewordenen Ansprüche der „anderen“ auflöse. In den verschiedensten Gattungen der Künste, von der Tragödie bis zur Historienmalerei, von der Oper über Bachs Oratorien, Symphonien und Requien bis zum chorischen Ausdruck der verlorenen Heimat, des geopferten Lebens, ist die theatralische, bildnerische oder musikalische Darstellung der großen, d.h. unlösbaren Probleme der Menschheit als einzig angemessene Form des Umgangs mit diesen Problemen aufgefasst worden.

Erst wenn es Literaten, Malern und Musikern gelingt, auf dem Anspruchsniveau antiker Tragödien, Shakespearescher Dramen, Bachscher Oratorien den israelisch-palästinensischen Konflikt der Menschheit vor Augen zu stellen, und zwar als einen unlösbaren Konflikt, wird es eine Basis für Zusammenleben und Zusammenarbeiten geben, die nicht mehr durch billige populistische, ideologische oder religiöse Endlösungsprojektionen irritierbar ist. Gegen diese gefährliche Anmaßung, man habe endgültige Lösungen zu bieten, steht der künstlerische Ausdruck für die Größe und Würde des Menschen, etwa das grundsätzliche Problem der Endlichkeit, des unvermeidlichen Todes, des kosmischen Verlorenheitsgefühls, der Sinnlosigkeit der Evolution und dergleichen, aushalten zu wollen. Was wir im engeren Sinne kulturelle Anstrengung zur Bewältigung endloser unlösbarer Lebensproblematiken nennen, sind die durch die Künste vermittelten Reaktionen auf die existentiellen Zumutungen.

Die gilt es zu würdigen. Dabei entdeckten die Künstler bereits in der Antike, dass sich diese Würde und Größe gerade in der Niederlage, im Scheitern von Menschen zeigen lässt. Deswegen gilt in den Künsten die unerhörte Würdigung dem Verlust und den Verlierern, den unterlegenen Konkurrenten, den zertrümmerten Formen, den Fragmenten, dem Abfall, dem Rest. Diese Auffassung wurde durch die genuin christliche wie muslimische Auffassung gestützt, dass man lernen müsse, das Niedrige hoch zu achten, die Würde des Unterlegenen herzustellen, um Überlegenheit zu rechtfertigen.

Speziell die westlichen Künste des 20. Jahrhunderts entwickelten gestalterische und konzeptuelle Aufmerksamkeit für das Unfertige oder Unvollendete, für das Fragment und die Ruine, für das billige und wertlose Material, für den Widerruf und die Selbstaufhebung respektive negative Affirmation. Das gilt etwa für die Wirkung der Werke von Joseph Beuys oder Dieter Roth: Sie muten uns die unauflösbare Paradoxie zu, dass Verfallsprozesse im Werk nur demonstriert werden können, wenn man das Werk erhält, also die Werkkonzepte daran hindert, wirksam zu werden. Für alle angesprochenen Sachverhalte sind deswegen moderne Konservatoren grandiose Beispielgeber für den Umgang mit Problemen, die uns zugemutet werden, ohne Aussicht auf Endlösung.

Einer von ihnen ist Prof. Althöfer, der Düsseldorfer Spezialist für die Konservierung von modernen Werken der Selbstaufhebung durch Vergammeln, Zersetzen, Überwucherung durch Pilze, Zerbröselung durch Austrocknung. Ihm sollte man zuschauen, wenn es um den zeitgemäßen Ausdruck für Probleme geht, die man nicht lösen, sondern mit denen man nur umzugehen und auszukommen lernen kann. Ein moderner Begriff dafür ist „managen“. Ach, wüssten doch erst die Entscheider in der Wirtschaft, in der Politik, dass wir von ihnen nur das sinnvolle Managen der Probleme anstatt der unsinnigen, herkulischen Gesten der Problemlösung erwarten.

Also schauen wir den palästinensisch-israelischen Künstlern zu, die den Problemen ihrer Völker überhaupt erst Ausdruck geben wollen, aber im Unterschied zu den bisherigen Bemühungen als Darstellung der Würde und Größe dieses Konflikts und aller Beteiligten durch das zu entwickelnde Bewusstsein „Es gibt keine Lösung“. Deshalb müssen wir lernen, auf dieser Basis mit dem unlösbaren Konflikt umzugehen. Lassen wir uns von diesen Künstlern zeigen, wie die Israelis ihre Überlegenheit, die nicht diskutierbare Gegebenheit des Staates Israel oder die Differenz ihres kulturellen Selbstverständnisses zu dem der christlichen oder moslemischen Gruppen dadurch rechtfertigen, dass sie erhabene, durchaus menschlich überwältigende Zeichen für die Wertschätzung der Palästinenser zu finden versuchen. Oder wie die Künstler darstellen, dass auch ein palästinensischer Triumph durch Auslöschung der Gegner unweigerlich zur Selbstzerstörung führt. Wie man gerade dieses Grundgesetz historischer Existenz zum dramatischen Ausdruck bringt, zeigt ausgerechnet ein Gesamtkünstler wie Wagner, der uns in die Paradoxie führt, dass ein ausgemachter, radikaler Antisemit mit dramatischen Effekten ohnegleichen gerade die Selbstzerstörung jedes durchgesetzten Absolutheitsanspruchs irgendeiner Wahrheit im Kunstwerk offenkundig werden lässt.

Seien wir bereit, in den Agenturen der Zivilisation wie Theatern und Museen, öffentlich-rechtlichen Medien und Schulen den unlösbaren, zur Weltgefährdung gewordenen Konflikten des Nahen Ostens mit künstlerischen Leistungen eine menschheitliche Dimension zu geben, um zu erkennen, wie sich in diesem aktuellen Konflikt Menschheitsgeschichte auch für die Zukunft zur Geltung bringen kann.

Ebenfalls seit der Antike lehren uns Dramatiker und Schriftsteller, Maler und Musiker, wie die Künstler der westlichen Moderne, dass jede Behauptung der Würde durch die Mittel und Möglichkeiten begründet ist, Klage zu erheben oder mit den Worten von Joseph Beuys, seine Wunde zu zeigen. Aber wie schwer ist es, jenseits der bloß kreatürlichen Ausdrucksformen, den erlittenen Schmerz, die Erfahrung des Verlustes und der Ohnmacht und die Gefährdung des Lebens zum Ausdruck zu bringen, die nicht nur eine individuelle Kuriosität darstellen, sondern überindividuelle Geltung erhalten könnten. Die palästinensisch-israelischen Künstler boten während unserer Reise Formen solcher Klagewürde jenseits von echauffierter Beschimpfung, halbwegs kontrollierter Handgreiflichkeiten oder hassblinder Leugnung. Wenn es ihnen gelänge, jenseits dieser üblichen Ausdrucksformen Palästinenser und Israelis ihre Wunden zeigen zu lassen, ihre Klage vor der Menschheit vorzutragen, wären wir wie der ungläubige Thomas bereit, ihnen so zu vertrauen wie wir uns selbst vertrauen zu können glauben. Zwar wollte Thomas von Christus nur einen Authentizitätsbeweis erheben, als er Christus aufforderte, seine von der Soldateska durch Lanzenstich verursachte Seitenwunde zu zeigen; aber Thomas wandelte sich vom Ungläubigen zum Verständigen, als ihm klar wurde, dass jedes menschliche Leben durch Leiden authentisch wird.

Es gehört zu den nachhaltigsten Wirkungen auf die Teilnehmer an dem Selbsttherapieangebot, erfahren zu haben, wie unfähig wir sind, unsere oder die Wunden anderer zu zeigen oder der Klage eine Gestalt zu geben, die unseren kulturellen Erfahrungen durch Drama, Malerei und Musik zu entsprechen vermögen. Immer noch wird das Leiden ohne zu klagen als Tugend der Selbstbeherrschung bewertet. In den täglichen Bildklicks der Massenmedien gerät der natürliche Leidensausdruck in den Verdacht, bloß mediengerechter Extremmimik und -gestik verdankt zu sein. Dem entspricht die westliche Selbstdistanzierung im Zynismus, man möge lernen zu klagen, ohne zu leiden. Nennen wir es ebenfalls ein Paradox, dass gerade die künstlerische Fähigkeit zur Darstellung des Leidens ein Weg und eine Form der Bewältigung des Schmerzes ist, also eine Form der Befreiung von dem Druck der Probleme durch ihre Darstellung. Im wörtlichen wie metaphorischen Sinne ist die deutsche Geschichte oder die Geschichte der Deutschen oder die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse auf den kurzfristig von Deutschland beherrschten europäischen Boden von heute aus nach rückwärts gesehen ein Lehrbeispiel für die Konsequenzen, die sich aus jeder Anmaßung von Endlösungsmacht ergibt. Deswegen konnten wir als deutsche Künstler den Demonstrationen der israelischen und palästinensischen im Projekt „Zeige deine Wunde“ ohne Gefährdung des Anstands folgen. Wir haben das Problem, vierzehn Millionen Flüchtlinge auf einem Drittel des verbliebenen Staatsgebiets unterzubringen und gesellschaftlich zu integrieren, zwischen 1945 und 1960 einigermaßen bewältigt. Gelöst werden konnte es nicht. Das war schwer für die aus den Ostgebieten Vertriebenen zu akzeptieren. Jahrelang bemühten sich aber Vertriebenenverbände und kulturell Tätige auf allen Ebenen, der Verlusterfahrung Ausdruck zu geben, die Wunde der Heimatlosigkeit, des Verlusts von Familien, Besitztümern, Kulturgütern vorzuzeigen. Erst jetzt, wo Künstler von der Qualität und Formkraft eines Günther Grass oder Neo Rauch der Klage überindividuelle und über das aktuelle deutsche Beispiel hinauswirkende Gestalt geben, lässt sich der Schmerz der Vertriebenen und Entrechteten, Entwürdigten und in jeder Weise Versehrten aufheben. Ohne jede Anmaßung darf man die Palästinenser doch wohl an dieses Beispiel des Umgangs mit den Problemen der Vertriebenen und Entrechteten erinnern. Man kann das Flüchtlingsproblem bewältigen, ohne Aufgabe des Selbstbewusstseins. Um das zu erreichen, sollten wir Israelis und Palästinenser durch deutsche Topographien des Schmerzes und der Selbsttherapie durch den Ausdruck der Klage führen – gerade an den Orten, an denen das Leiden noch sprachlos blieb.

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