Buch Musée Sentimental 1979

Ein Ausstellungskonzept

Der Künstler Daniel Spoerri und die Historikerin Marie-Louise von Plessen entwickelten in den späten 1970er-Jahren das Prinzip des Musée Sentimental. Mit Objekten zwischen Domreliquie und Pokalsiegerball des 1. FC Köln entstand daraufhin 1979 eine Ausstellung mit viel Charme und Witz: das Musée Sentimental de Cologne. Kunst und Alltagsgegenstände wurden auf einer Ebene inszeniert, öffneten so neue Assoziationsräume beim Besucher und veränderten das Verständnis von Objekten im Museum nachhaltig. Im Zentrum stand dabei das mit Gefühlen und durch Gefühle angereicherte, das »sentimentale« Objekt.

In der vorliegenden Publikation wird mit einer bebilderten Dokumentation des Musée Sentimental 1979, Texten von Anke te Heesen und Susanne Padberg sowie ausführlichen Interviews mit Stéphane Andreae, Bazon Brock, Dana Cebulla, Walter Grasskamp, Wulf Herzogenrath, Gottfried Korff, Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen - den Protagonisten der damaligen Ausstellung - das folgenreiche Konzept detailliert aufgearbeitet und einer Neubetrachtung unterzogen.

Interviews mit Stephan Andreae, Bazon Brock, Dana Cebulla, Walter Grasskamp, Wulf Herzogenrath, Gottfried Korff, Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen, Texte von Anke te Heesen, Susanne Padberg, Gestaltung von Andreas Platzgummer

Erschienen
2010

Herausgeber
Heesen, Anke te | Padberg, Susanne

Verlag
Hatje Cantz

Erscheinungsort
Ostfildern, Deutschland

ISBN
ISBN 978-3-7757-3017-4

Umfang
184 S., 30 Abb.

Einband
Broschur

Seite 89 im Original

Nicht "wie der Keks in der Schachtel"

Interview mit Bazon Brock bearbeitet von Christoph Mayr und Pamela Peter

Bazon Brock verfasste für den Katalog "Le Musée sentimental de Cologne" einen Aufsatz zu den Formen des Sammelns, Bewahrens und Zeigens von Objekten und bezog sich dabei auf die Kunst- und Wunderkammern. 2010 konzipierte er gemeinsam mit Daniel Spoerri das "Musée Sentimental Krems Und Stein". Brock lehrte von 1981-2001 als Professor für Ästhetik/Kulturvermittlung an der Universität Wuppertal und realisiert seit den 1960er Jahren zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen.

Herr Brock, das Prinzip des Musée Sentimental begleitet Sie schon lange, Sie waren gewissermaßen von Anfang an mit dabei. Was verbinden Sie mit dem Begriff "Musée Sentimental"?

Natürlich die Kölner Unternehmungen von Spoerri - ich glaube das war 1979 - und deren verschiedensten Ausprägungen. Einmal die "Karl-Marx-Einladungen" (1), die ja doch ein erstaunliches Echo hatten und dann natürlich die Geschichten aus dem Nähkästchen. Wir nannten das "Kunstgeschichte aus dem Nähkästchen" und er hat das dann auch übernommen. So wie früher, als sich die Kinder bei Opa um den Lehnstuhl scharten, und der erzählte dann aus dem Krieg. Wir haben später "Großvater erzählt aus dem kommenden Krieg" daraus gemacht, nicht aus dem vergangenen; und so saß dann der Spoerri da und alles saß rundherum und er erzählte wirklich im Sinne des sich erinnernden ehrwürdigen Alten die Geschichten, die er mit den unterschiedlichsten Künstlern zwischen 1955 und 1975 erlebt hatte. Das war der bedeutendste Beitrag eines lebenden Künstlers zur Entwicklung eines neuen mündlichen Stils. Oral History war ja damals in den 1970er Jahren gerade geboren, und er war der erste, der das auf die Kunstgeschichte in Einheit von künstlerischem wie eben beobachtendem Erleben bezog. Dieses Wechselspiel war darin bedeutsam, wie Großvater ja auch immer zwischendrin sagte: "Und dann zogen wir mit dem Pferdetross auf den nächsten Hügel und da sahen wir dann in der Ferne schon..." - wir nannten das "Attitüden-Passepartout", dass sich jemand in die Attitüde eines erzählenden Dorfweisen unter dem Lindenbaum oder eines Meldegängers, eines Hermesboten versetzt. Und er versetzte sich eben wirklich in diese alte, ländliche Zentralfigur einer sozialen Gruppe, der Alte, der Ältere, ja der Erfahrene, der sonntags zur Ruhe kommt, dann seinen Rotwein vor sich hat und alle Kinder sitzen drum herum und hören sich das an. Also, ich glaube, er hat als erster das Prinzip der Erzählung in unmittelbarer Weise als kuratorisches Prinzip angewandt. Soweit ich weiß, gab es das vorher nicht.

Wie muss man sich dieses Prinzip des kuratorischen Erzählens vorstellen?

Die Anekdote war dabei das Grundprinzip, aber nicht nur im Sinne von "anekdotisch", im Sinne des bloßen Erzählens, sondern als "anekdoté", als "anekdotieren". Dies bezieht sich auf sein grundlegendes Buch über die "Topographie des Zufalls" (2). Was bei den Objekten der 'Fall' ist, also das zufällig entstandene Arrangement, das ist die Komposition in und mit der Erzählung, die von einem Objekt aus startet. So wie man eben bei Souvenirs oder bei verschiedenen Umgangsformen mit Amuletten und Talismanen vielleicht den nächsten Bekannten erzählt, um welche Art von Bedeutung es sich handelt. Diese Orientierung auf die Kraft der Verlebendigung des Objekts durch die Erzählung war das Entscheidende. Das heißt, die Leute wurden nicht für dumm verkauft, indem man sagte, die Bedeutung steckt eben in den Dingen, wie der Keks in der Schachtel - das war die Formulierung, die wir in der Besucherschule wählten -, sondern man muss sie schon aus Anlass der Wahrnehmung des Objekts im Sinne der Stimulierung der eignen Erinnerung, der eigenen Erzählfähigkeit, der Verknüpfungsfähigkeit entwickeln. Und zwar sinnhaft, so dass aus der Geschichte der Einzelobjekte, die in sich alle abgeschlossen waren, dann doch wiederum eine große Kette entsteht, die Spoerri auch thematisch als Einzelthema der verschiedensten Musée Sentimentaux ausgearbeitet hat.

Sie haben immer wieder mit Spoerri zusammen gearbeitet und dies in der Zeit, in der er und Marie-Louise von Plessen das Musée Sentimental entwickelten. Wie waren Sie damals an diesen Prozessen beteiligt?

Es gab verschiedenste Anlässe. 1976 habe ich eine große Übung zur Geschichte der Kunst- und Wunderkammern gemacht. Das schien mir aus Anlass der Spoerrischen Arbeiten aktuell zu sein. Dann hat Spoerri an der Fachhochschule in Köln gelehrt und zu der hatte ich besondere Beziehungen, seit wir 1972 die Kölner Konferenz für Kunsttheorie veranstaltet hatten, mit Niklas Luhmann (sein Erstauftritt im Bereich der Kunst), mit Heinrich Klotz, mit Martin Warnke, und dann mit den Großen, also mit Ludwig Marcuse, mit Max Bense und so fort. Und diese Kölner Konferenz für Kunsttheorie war gut gelungen, so dass ich dauerhaft zu diesem Institut eine enge Bindung hatte. Auf diese Weise wurde übrigens auch Spoerri da hingeholt.

Und das war wirklich eine grundlegende Erfahrung, die mir für die gesamte Künstlerausbildung wichtig geworden ist: Spoerris Befähigung, Künstler auszubilden - als Künstler - bestand darin, dass er ihnen beibrachte, wie sie die Arbeiten anderer aufnehmen und bewerten konnten: erst einmal sehen, dann aufnehmen und schließlich bewerten. Das heißt, die wurden zum Eigen-Tun erzogen, weil sie beigebracht bekamen, wie man das schon Vorhandene, Geschaffene, die Artefakte der verschiendsten Künstler einer bestimmten Epoche, einer bestimmten Kulturlandschaft, einer bestimmten Zeit bewertet - meinetwegen Paris, um 1957, als Iris Claire die Galerie aufmachte und mit Yves Klein die ersten großen Ausstellungen gemacht hat. (3) Das waren so die Haupteinstiege.

Worin besteht Ihrer Meinung nach das Besondere in der Befähigung Spoerris Künstler auszubilden? Was erscheint Ihnen in dieser Hinsicht vor allem erwähnenswert?

Vir seiner Künstler- und Lehrerkarriere war er Ballettänzer gewesen und hatte auch da einen völlig eigenen Stil. Spoerri hatte als ganz junger Ballettmann in Bern schon Picassos "Wie man Wünsche am Schwanz packt" inszeniert. Das war nicht ein Balletttanzen im Sinne des bloßen Durchexerzierens klassischer Figuren und Posen, sondern das war bereits narrativ. Ich glaube, er war damit einer der ersten der Nachkriegszeit. Vorher hat das beim Ausdruckstanz von Mary Wigman, von Harald Kreutzberg und anderen ja schon gegeben, aber nach dem Krieg, als Kreutzberg und andere zwar nach als ältere Herrschaften noch auftraten, da war Spoerri, soweit ich mich entsinne, der erste, der so zwischen 1951 und 1954 tatsächlich Ausdruckstanz im Sinne eines Erzählungsausdrucks, eines sozusagen epischen oder lyrischen oder dramatischen Prinzips entwickelt hat. Von dieser Fähigkeit hatte er auch seine intensive Orientierung auf Tempi und Perspektivwechsel, was die Erzählung dann eben so interessant gemacht hat.