Wie identifiziert man nun aber das Neue als Neues?

Die Geheimnisse der Entstehung von Kreativität und Innovation

Die Düsseldorfer Journalisten Christopher Schwarz und Andreas Wildhagen* trafen den Ästhetik-Philosophen Bazon Brock in seinem Haus im Bergischen Land.

Schwarz, Wildhagen: Herr Professor Brock, wie entsteht Kreativität in unseren Köpfen?

Bazon Brock: Vereinfacht gesagt, entsteht sie in einer immer erneuten Konfrontation mit etwas Unbekanntem, Unbestimmten, das man seit hundert Jahren in allen Disziplinen „das Neue" nennt. Wenn das Neue neu ist, hat es freilich keine Qualifikation. Wie aber soll man auf etwas eingehen, was neu ist, wenn es dadurch ausgezeichnet ist, keine Bestimmung zu haben? Die natürliche Methode, die wir heute noch bei jedem Hund beobachten können, besteht darin, das Neue erst zu beschnuppern, weil es irritiert, und es dann zu ignorieren oder zu zerstören. Dass die meisten Menschen vor neuer Malerei davonlaufen oder aggressiv reagieren und nur wenige aufmerksam werden und „aha" sagen, ist also ein ganz normaler, im Evolutionsschema unseres Gehirns fest verankerter Vorgang. Wir sind von Natur darauf angelegt, auf die Begegnung mit Neuem mit einer Fluchtreaktion zu antworten. Der Kunsttheoretiker Max Bense** hat die Ästhetik von der Informationstheorie herkommend aufgebaut, Max Bill, Architekt, Designer und Mitglied der Künstlerbewegung Abstraction-Creation***, von der Seite des praktischen, künstlerischen Gestaltens - ich selber in den fünfziger Jahren über den Aspekt des Aktionismus und des Agitprop.****

Wie identifiziert man nun aber das Neue als Neues?

Bazon Brock: Immer in Hinblick auf das Alte, von dem es sich absetzt. Das Neue ist stets definiert durch die Differenz zum Vergangenen. Darin liegt eine andere Pointe beschlossen: Indem ich mich vom Neuen, Unbekannten auf etwas Altes, Bekanntes beziehe, stelle ich nämlich fest: Das Alte ist ja gar nicht alt! Unter dem Druck des Neuen zeigt es interessante, neue Aspekte. Nehmen wir ein Beispiel aus der bildenen Kunst: die Maler der „Brücke", die deutschen Expressionisten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kunstwelt herausforderten. Ihre Kunst erschien dem Publikum so neu, dass es sich verstört abwandte oder die Bilder gleich auf den Schutthaufen der Kunstgeschichte werfen wollte. Andere dagegen ließen sich vor der damals entstehenden Gestaltpsychologie anleiten, suchten nach Vorbildern, die Ähnlichkeiten aufwiesen mit den Bildern der Expressionisten, und stießen so auf die Werke El Grecos. Plötzlich sahen sie unter dem Druck der Expressionisten einen alten, fast schon versunkenen Maler, den seit 1614 niemand mehr ausgestellt hatte, ganz anders, eben neu. Unter dem visuellen Terror der Expressionisten entdeckte man El Greco als Zeitgenossen. Auch aus der Architektur kennen wir solche Wiederentdeckungen. So erinnerten die nackten, kahlen Wände des Wiener Architekturpioniers Adolf Loos an Palladio und Bruneleschi, die ebenso nackte, unfreskierte Wände als Struktursprache der Architektur benutzen. Erst durch Adolf Loos wurde sichtbar, was niemand zuvor bemerkt hatte: Dass Palladio und Bruneleschi dem Publikum pausenlos nackte Wände zugemutet hatten. Der auf das Neue abonnierte Avantgardist Loos war also mit einem Mal zum Schöpfer einer neuen Sicht auf die Tradition geworden. Die Architektur-Moderne erwies sich als kreativ, indem sie uns zwang, die Tradition mit anderen Augen zu sehen.

Gehört die Orientierung am Alten, das Festhalten von eingeschliffenen Seh-, Hör- oder Denkgewohnheiten nicht eher zu den Bremsern im Gehirn?

Bazon Brock: Nicht unbedingt. Wieso bauen wir mit demselben Gehirn, mit dem unsere Vorfahren Mammuts erlegt haben, heute Atomanlagen? Weil es immer wieder Umformulierungen des längst konventionell und langweilig Gewordenen gab. Weil das Alte keine stimulierenden Informationen mehr bereit hielt. Das Gehirn kann sich in solchen Situationen zwingen, sich selber zu überraschen. Es kann etwas produzieren, was über das eigentlich Geplante hinaus geht. Dabei ist das Neue gar nicht auf Zustimmung angewiesen. Im Gegenteil: Wo Sender und Empfänger übereinstimmen, gelingt zwar der Austausch, aber es entsteht nicht Neues.

Sind auch traditionelle Gesellschaften in der Lage, Neues zu schaffen?

Bazon Brock: Durchaus. Da entsteht automatisch Neues durch Uminterpretationen des Alten. Etwa durch das mündliche Weitergeben von Informationen. Das kennen wir aus der Gerüchtekaskade: Spätestens beim vierzigsten Mann, der scheinbar dasselbe erzählt, stellen wir eine Abweichung fest, wahrscheinlich schon viel früher.

Und kann man diese gleichsam naturwüchsige Kreativität organisieren?

Bazon Brock: Die Aufklärung hat es versucht: Sie machte sich das Neue – und die Angst vor ihm – sytematisch zunutze, indem sie soziale Institutionen errichtete, in denen das Neue aufgesogen, gespeichert und reflektiert wurde: Akademien, Archive und Museen. Fortschritt in der Nutzung unserer Kultur heißt seither, dass das durch die jeweilige Avangarde neuformulierte Alte aller Zeiten jederzeit präsent bleibt. Es geht dabei nicht um Ad-hoc-Brains, sondern um das gesamte Wissen, das uns die historische Forschung zur Verfügung stellt. Die Moderne im epochalen Sinn beginnt erst da, wo man die Gleichzeitigkeit aller ehemaligen Vergangenheiten als Gegenwart wissenschaftlich organisiert.

Wirklich Neues gibt es also gar nicht?

Bazon Brock: Doch, aber die, die es in die Welt setzen, sind immer Zwerge auf den Schultern von Riesen. Das Neue entsteht auf der Grundlage der Vergangenheit. Eine Creatio ex Nihilo gibt es nicht. Unsere Devise müsste deshalb lauten: halte immer genügend Ressourcen für die Konfrontation mit der Zukunft bereit, indem Du immer mehr vergegenwärtigte Vergangenheiten produzierst. So haben wir die Romantik inzwischen als eigenständige Kunstepoche sehen gelernt, für unsere Vorfahren hingegen war sie eine kindische Durchgangsphase zur Vorbereitung des Neoklassizismus. In diesem Sinn müssen Traditionen immer neu geschaffen werden. Jede Gegenwart schafft sich ihr neues Goethe- und ihr neues Tizianbild.

Gilt das auch für die Werke von Mozart und Bach?

Bazon Brock: Mozarts Kompositionen fußen in der Musiktradition seiner Zeit, er brauchte die Wiener Musikkultur, um zu reüssieren. Bach konnte zwei Kantaten am Tag schreiben, auf Grund seiner Genialität und weil er sich innerhalb eines stabilen Formenkanons bewegte. Selbst wenn er es versucht hätte, sich zu wiederholen, wären Abweichungen zustande gekommen, schon aufgrund der Funktionslogik des Gehirns, das beim Versuch der Wiederholung des Immergleichen ein Potenzial von Abweichungen erzeugt, die wiederum auf einem Grundtypus bezogen sind. Nur Varianten sind möglich.

Kann Politik kreativ sein. Wilhelm II etwa gilt unter vielen Historikern auch als ein Mann der technisch-wissenschaftlichen Innovation - „mit Volldampf voraus"!

Bazon Brock: Da ist etwas dran. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war jedenfalls höchst effizient in der Organisation wissenschaftlicher Dynamik. Deutschland hatte einiges aufzuholen. Die Engländer hatten 1852 auf der Weltausstellung ihre wissenschaftlich-technische Überlegenheit demonstriert. Übrigens waren es dann die Österreicher, nicht die Deutschen, die erkannten, dass es nicht nur um politische Vorherrschaft durch industrielle Waffenfertigung ging, sondern um die Produktion von Massenprodukten für ein anspruchsvolles Publikum. Der Konsument und das Markenprodukt wurden im 19. Jahrhundert entdeckt. In Österreich wurden Hochschulen für angewandte Kunst gegründet, um Qualitätskriterien für industriell gefertigte Gebrauchsprodukte zu entwickeln - zum Beispiel im Design. Es ging den österreichischen Innovatoren darum, einem geschmacks- und bildungsfähigen Publikum zeitgemäßes, gutes Design anzubieten.

Sind Kreativität und Organisation Gegensätze? Kann eine straffe Organisation Kreative vertragen? Oder braucht der Kreative Einsamkeit?

Bazon Brock: Seit der Renaissance ist bekannt, dass extrem entwickelte, kreative Köpfe besonders teamfähig sind. Das können Sie auch bei Walter Gropius sehen. Die Verbindung von Kunst, Architektur und Ingenieurskompetenz im Dessauer Bauhaus setzte Teamfähgikeit und offene Kommunikation voraus - so wie in den mittelalterlichen Bauhütten.

Töten militärische Organisationen die Innovationsfähigkeit des Individuums ab?

Bazon Brock: Militärische Planung alten Stils heißt: Die ersten drei Tage nach Kriegsbeginn können wir planen, danach ist Schluss. Heute sind die geplanten Anfangsphasen länger, das nennt man dann Strategie. Aber ein moderner Militär muss auch das Kalkül des Scheitern, der verlorenen Schlacht, mit einbeziehen und sich fragen: Wie reagiere ich darauf? Diese Fragestellung ist kreativ, sie kann auch impulsiv sein, das Überraschungsmoment ist eine wichtige Waffe, wenn nicht gar die wichtigste. Auf die Unberechenbarkeit der militärischen Antwort kommt es an. Das ist dem Generalstabsoffizier in Fleisch und Blut übergegangen. Kein Wunder, dass die jüngeren Oberste nach dem Krieg sofort eine Anstellung in der Wirtschaft bekamen. Hitler dagegen hatte keine Strategie, er war ein typischer Laie, ein militärischer Dummkopf. Er hat keinen Gedanken darauf verschwendet, dass er scheitern könnte.

Braucht man für Kreativität Konkurrenz oder schadet sie eher?

Bazon Brock: Konkurrenz kann in einem Team dazu führen, dass man sein Wissen nicht mehr mit anderen teilt. Deshalb ist in einer kreativen Umgebung Vertrauen von essenzieller Bedeutung. Der Kapitän kann den Winden nicht befehlen, aber er muss auf das Schiff vertrauen. Ich kann mich auf das Nicht-Beherrschbare nur dann kämpferisch einlassen, wenn ich auf einem festen Fundament stehe, um das ich nicht mehr kämpfen muss.

Herr Professor Brock, wir danken Ihnen für das Gespräch.

*Dr. Christopher Schwarz und Dr. Andreas Wildhagen sind Redakteure der WirtschaftsWoche in Düsseldorf. Das Gespräch entstand während der Recherchen für den WirtschaftsWoche-Innovationspreis.

Buchhinweise: **Max Bense: Ungehorsam der Ideen, Köln 1965, ders.: von der Verborgenheit des Geistes, Berlin 1948. *** Eduard Hüttinger: Max Bill, Abc-Verlag, Zürich 1977, **** Bazon Brock: Kopfstand, 1959

Bazon Brock, 71, ist Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Entwicklung einer Neuronalen Ästhetik. Der Kunstkenner, der sich an Happenings zusammen mit Friedensreich Hundertwasser und mit Joseph Beuys beteiligte, war ordentlicher Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg und später an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Anschließend übernahm er die Professur in Wuppertal, wo er 2001 emeritiert wurde.

Christopher Schwarz ist Redakteur der WirtschaftsWoche und schreibt dort seit acht Jahren in den Ressorts Leben und Reportagen. Der Wiesbadener war vorher Redakteur bei der FAZ.

Andreas Wildhagen ist Redakteur der Wirtschafts-Woche und schreibt dort seit zehn Jahren in den Ressorts Unternehmen, Leben und Reportagen. Der Hamburger war vorher Deutschland-Korrespondent der Tageszeitung DIE WELT und Autor bei Forbes von Burda in München.