Radiobeitrag hr2-kultur

Autor: Johannes S. Sistermanns
Sprecher: Jürgen Becker, Gottfried Böhm, Bazon Brock, Dieter Wellershoff
Spieldauer: 49 Min.
Hörspiel
Komposition und Realisation: Johannes S. Sistermanns
Produktion: SWR 2010

Hören, was andere hören. Wie andere über ihr Hören erzählen. Wie beschreiben die Schriftsteller Jürgen Becker, Dieter Wellershoff, der Ästhetikprofessor und Performer Bazon Brock und der Architekt Gottfried Böhm individuell bedeutungsvoll gewordene Klangmomente? Erzählte Geräusche und Klänge bleiben erzählt. Hörbar gemacht werden sie nie. Die Annahme: Ein Geräusch, Klang kann sein, wie er will. Er realisiert sich erst im Hörer über Wahrnehmung, Reiz, Empfindung und Wertschätzung zu dem, was er für ihn bedeutet. »klangerzählen« überspringt den konkreten Klang, lässt ihn in der Schwebe, um im Zu»hörer« eine eigene Vorstellung über Erinnerung oder Ahnung zu provozieren. So z. B. beim ersten Klang, an den sie sich zu erinnern glauben, dem Geräusch ihrer Kindheit, oder der geträumte Klang, der visionäre, den sie gerne einmal hören würden. Es entstehen Klänge, Geräusche im Erzähler wie im Hörer. Sie alle resonieren im Vorstellungsraum.

Johannes S. Sistermanns, geboren 1955 in Köln, ist promovierter Musikwissenschaftler. Er arbeitet in den Bereichen elektroakustische Musik, Neues Musiktheater, Klang-Plastik, Akustische Kunst. Zahlreiche Preise, u.a. Karl-Sczuka-Förderpreis und deutscher Klangkunstpreis.

Bei Audible anhören: https://mobile.audible.de/pd/klangerzaehlen-Hoerbuch/B00HBQSH8S?ref=a_search_c3_lProduct_1_3&pf_rd_p=34e3b439-2a21-4dff-af95-98a7a74a1f67&pf_rd_r=C1819JMK4ZF4HK7Y3BW7&

Erschienen
01.06.2011, 21:30 Uhr

Station
hr2-kultur

Sendung
Hörspiel

Length
49 min

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

‚klangerzählen‘

Radiophones Hörstück

Da aus rechtlichen Gründen nicht das gesamte Skript abgedruckt werden kann, folgen hier die Passagen aus dem Interview, das Johannes S. Sistermanns mit Bazon Brock geführt hat:

JS: Bazon Brock, was ist Ihr erster Klang, den Sie erinnern können?

BB: Die Fuge. Und zwar die Fuge, die es früher bis in die sechziger Jahre zwischen Eisenbahnschienen gegeben hat. Damals konnte man sie noch nicht in einem Stück verlegen und die Einzelteile verschweißen, sondern man musste die Einzelteile auf Fuge setzen, sodass im Sommer durch die Dehnung der Hitze Spielraum blieb. Diese Fuge zwischen den Schienen erzeugte beim Befahren der Schienen durch Eisenbahnwagen ein typisches Klangerlebnis: tadadamm tadadamm tatadadamm tatadadamm. Das für mich das metaphysische Geräusch schlechthin geworden ist. Es ist nicht das Meeresrauschen, es ist nicht der Donner, es ist nicht die Stimme eines Menschen, nicht väterlicher Autorität oder mütterlicher Fürsorgepfiff, sondern es ist dieses tatadadamm, tatadadamm der rollenden Züge. Denn damit verband sich die Idee einer Deplazierung, einer Verfrachtung, einer Verfügung wie etwa mit Gefangenen verfahren wurde, die in solche Wagen reingesteckt und dann abtransportiert wurden.

Es gab die verschiedensten Erlebnisse der Kindheit selber, in denen man in den Sommerferienreisen etwa so ein Erlebnis tadadamm hatte und sich als Kind fragte: Was wäre, wenn der Zug nicht hält, wo er halten sollte, weil ich dich dort erwartet werde? Wenn ich in die Fremde komme, wenn er immer weiter fährt, wo landet man dann? Und man hörte dann die große metaphysische Bahn, die Transsibirische Eisenbahn, in den Erzählungen von Erwachsenen heraus, Kriegsgefangenen des 1. Grades. Noch viel wichtiger waren dann die Zivilgefangenen, etwa deportierte Juden oder andere Displaced Persons. Dieses metaphysische Gefühl stellt sich bei mir immer wieder ein, wenn ich noch auf der Suche nach Nebenstrecken bin.

Leider hat die Bundesbahn sie alle abgebaut. Ich hatte Anfang der 1980er Jahre eine richtige Topographie der Nebenstrecken gemacht, auf denen man noch das Erlebnis haben konnte. Ich habe dann vorgeschlagen, dass man als Holocaust-Denkmal wieder auf allen Hauptstrecken der Bundesbahn für fünf Kilometer die Fugen künstlich einfügt, sodass jeder, der gewohnt ist jetzt an das fugenlose Dahinrollen der Züge durch diesen tatadadamm-Stoß der rollenden, der über die Fugen rollenden Räder erinnert wird und [das] auf allen Hauptstrecken für fünf Kilometer, sodass man während dieser fünf Kilometer die erste Situation an die unendliche Zahl der rollenden Güterwagen mit Militärgut, mit Gefangenen, mit Juden, mit KZ-Häftlingen etc. haben konnte, wär für mich die größte Art der Etablierung eines Memorials in der aktiven Erfahrung durch den Klang. Der Klang ist in der Tat viel weiter gehend als das Bild, das historische Assoziationsmedium.

Es sind nicht die Erfahrungen, die wir in ihrer Visualität mit uns tragen, die diesen metaphysischen Schauder erzeugen, sondern es ist die Musik. Und wir haben es in der Tat ja von den Komponisten gelernt, wenn etwa Beethoven die Idee der Programmmusik entwickelt hat – Sommer, Nachmittag, Gewitter zieht auf etc. – dann war das der demonstrative Zugang zu einer natürlichen Voraussetzung des Menschen, zu sich selbst. Das ist der berühmte Wahrnehmungseffekt des eigenen Herzschlags als Grundvorgabe für die Rhythmik überhaupt, die wir kennen, das sind die Wahrnehmungen der Geräusche des Unsichtbaren, denn man musste sich in der Frühzeit der Menschheit, ja, sogar noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein, vor allen Dingen in der Nacht, wo das Visuelle ausgeschaltet war, der Blick sowieso nicht weiter kam, orientieren, denn die Gefahr kam aus dem Dunklen. Und das Dunkle war nur durch das Hören durchdringbar. Also ist das Hören der metaphysische Sinn schlechthin, der das, was nicht den anderen Sinnen zugänglich, was nicht evident ist, kritisch beobachten und bewerten kann: gefahrvoll – weniger gefahrvoll, vertraut – unvertraut. Ich hab mal Experimente gemacht, indem ich mich auf eine Hütte im Engadin zurückgezogen habe, um dort freiwillig so etwas wie Depravationserfahrungen zu machen. In der Einsamkeit dieser Hütte, die man auch nicht ohne eigene Hilfe verlassen konnte – man konnte auf dem Grat nicht alleine runter, sondern der Bauer, dem die Hütte gehörte, musste einem selber mit zwei Mann jeweils das Essen heraufbringen und einen auch selber runterleiten. Es war erstaunlich, wie sich da plötzlich die Welt zu einem metaphysischen Echoraum weitete. Man saß oben, sah die Sterne, die natürlich wiederum nur ein Bild des Urrauschens, des weißen Rauschens, des kosmischen Rauschens manifestierten, man kann ja nicht stumpfsinnig sehen, sondern man muss es immer assoziieren mit anderen Wahrnehmungen. Ich erlebte dann, wie sich der Sinn für die Wahrnehmung des fernab als vermutete Wahrnehmung sich ereignenden, das Weltenecho ergab. Ich hab nachts tatsächlich auf dieser Hütte Echos aus dem Weltall empfangen und immer kontrolliert, ob das Halluzinationen oder Wahngebilde waren, sie trennscharf von der ganz nah gewordenen Wahrnehmung von Mäusen, Rehen und anderem isoliert. Das ist natürlich das Großartige: wir leben nicht in der Welt als einer sichtbaren Einheit, sondern als einer hörbaren, in einem echogebenden Raum. Und alles, was uns wirklich auf anderes vermittelt, ist das Echo, das wir zurückerhalten. Wir schreien vor Verzweiflung oder aus Angst oder in Freude etc. und erwarten das Echo. Und das Echo erst ist das, was uns in der Welt orientiert. Und das ist Metaphysik.

JS: Beschreiben Sie mir solch ein Geräusch – oder einen Klang, wenn es nicht nur ein Geräusch war.

BB: Ich nehme das Beispiel, das wahrscheinlich mehr Menschen kennen, als wir vermuten, nämlich das Hören der Stille. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass man dann, wenn man da rauf kommt und isoliert ist von jeder Art von anderen akustischen Wahrnehmungen und gelernt hat, Mausrascheln und sagen wir mal Spinnenbewegungen auszuschalten, weil das derartig präzise wahrnehmbar wird, tatsächlich fähig wird, die Stille zu hören. Und das ist das wirklich bedeutendste Geräusch, das man in der Welt wahrnehmen kann. Die Psychologen nannten das: "Kosmisches Verlorenheitsgefühl". Das hat auch viel mit der Entschlüsselung psychiatrischer Auffälligkeiten an Menschen zu tun, Kosmisches Verlorenheitsgefühl. Das bekommt man nur, wenn man tatsächlich die Stille als Echoraum verstehen kann. Das heißt, wenn man das große Schweigen, die große Stille als die Vergegenwärtigung der Ewigen Präsenz oder der Präsenz der Ewigkeit darstellen kann, das Hören der Ewigkeit.

JS: Wie muss ich mir das vorstellen? Ist das noch angereichert mit irgendwelchen Zivilisationsklängen? Damit man Weite hört, braucht man doch auch weit entfernte Klangquellen, oder ich weiß nicht was …

BB: Nein, das ist das theologische Urerlebnis, das ja alle beschreiben. Von Augustinus’ Zeiten an sind wir gewohnt, das in jeder Biografie aufzusuchen. Es ist die Realpräsenz des Abwesenden, das Vergegenwärtigen des Nicht-Vorhandenen, das heißt durch die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung, zur antizipierenden empathische Imagination, entsteht etwas, das hörbar wird und dem gegenüber wir Gehorsam erleben. Das ist das uralte, auch sprachlich gefasste Phänomen, dass Gott ja spricht und wir hören und sind gehorsam. Das heißt, wir sind nicht «gesichtsam», sondern wir hören eben auf ihn insofern, als er nur hörbar wahrnehmbar wird. Moses, oder sagen wir noch einfacher jetzt Islam, Mohammed bekommt ja ein Diktat vorgegeben, das heißt, er hört etwas. Er hat nicht angefangen, ein Bild von Gott oder dessen, was er da gesehen hat, zu malen. Ganz im Gegenteil: Es ist ja sogar das Bilderverbot eingeführt worden, damit die Orientierung auf die Vergegenwärtigung der Ewigkeit durch die Realisierung von Stille möglich wird. Das ist eigentlich der Kernpunkt: Das Stille-Hören.

JS: Das heißt, wenn man Stille realisieren will, muss man ja immer auch einen Punkt haben zwischen sich und dem, worauf man hört oder worin man sich befindet. Also die Realisation des großen Nichts, des ewigen Leeren …

BB: Ja, das ist nicht das Nichts und nicht die Leere, nicht die buddhistische Entzauberungsvorstellung. Es ist die Einheit der intrapsychischen Vorgänge, also dessen, was in mir selbst vorgeht in der Wahrnehmung, in der Vorstellung etc. mit der Außenwelt. Das heißt, wo die körperliche Grenze der Manifestation von Ich und Welt aufgehoben wird, wo sozusagen der Innenraum und der Außenraum eine Einheit werden. Das können Sie noch erleben, denn es gibt eine Nachbildung dieser Situation in dem Musizieren vor Publikum. Das Musizieren vor Publikum hat nur einen einzigen Sinn: den der Ermöglichung, der Schaffung eines Klangraums, der erzeugt wird, wo der Außenraum durch die Musik zum Innenraum des Hörers wird und umgekehrt: wo der Hörer seine aus dem eigenen Inneren kommenden Vorstellungen von organisierter Manifestation des vergegenwärtigten Vergangenen des Inneren also oder den Gedanken an Universalia wie Liebe, Glaube, Hoffnung oder meinetwegen Gott etc. zur Einheit werden lässt. Der Konzertraum ist eigentlich die Nachstellung der grundsätzlichen Konfrontation des Menschen mit dem was die Welt als Echoraum konstituiert. Und das macht die unglaubliche Kraft und Macht des Konzertierens vor Publikum aus, obwohl das ja in seiner Konstruktion eigentlich irrsinnig ist: Eigentlich möchte man gleich mitspringen, mitsingen, mitfideln, mitherumjauchzen, dann hat das natürlich diese Kraft der empathischen Wirkung. Aber still dazusitzen und etwas nur anzuhören, ist ja eigentlich eine groteske Vorstellung. Im mönchischen Kontext, im rituellen Kontext, im medizinischen Kontext gibt es das in allen Kulturen, aber als in der Form des Konzerts gibt es das nur in der westlichen Welt, das heißt, wo – nach Newton – wirklich kapiert wird, dass die Welt ein Echoraum ist.

JS: Wenn Sie jetzt diese Stelle oder den Klang, den Sie gehört haben, als einen Klang beschreiben sollten oder als ein Geräusch, um jemandem zu sagen: Das habe ich gehört – nicht als intellektualisierten Vorgang, sondern als reinen Wahrnehmungsvorgang – wie erklären Sie das?

BB: Wenn Sie auf dem Berge sind und alle externen Geräuschquellen außer dem Schaben von Mäusen oder dem ab und zu Schwingen von Nachtvögeln oder dem Kratzen von Geißen auf den Steinen (was aber höchst selten ist und vielleicht noch fernab etwas Wasserrauschen, Gurgeln …), wenn Sie also das alles ausschalten, weil das ja für Sie dann die Natur selber ist, dann fangen Sie an, in sich selbst hineinzuhören. Was Sie hören, ist eigentlich die Bewegung Ihres eigenen Gemüts, die Bewegung Ihres Gedankens. Das kann sehr bewegend sein mit Überwältigungsaspekt, sodass Sie fast in die Knie sinken und anfangen zu beten oder Halleluja zu rufen – was ja alles berichtet wird. Oder aber eine Art von Erhabenheit in der Erfahrung von ungeheurer Distanz – das ist ja die alte Funktion der Erhabenheit: Distanz gegenüber einem Ereignis. Und aus dieser Distanz des sicheren Wissens der Unüberwindbarkeit der Gefahrenzone zwischen dem Eisblock, dem tobenden Meer und mir selbst, ergibt sich dann dieses Gefühl der Selbststeigerung, was man eigentlich nicht hört, ist, wie das eigene Knochengerüst anfängt zu wachsen, wie man sich aufrichtet zu einer riesenhaften Gestalt. Es gibt ein wunderschönes Stück Der gelbe Klang. Bei dessen Uraufführung gab es da die Gestalt einer großen Figur, die auf der Bühne lag und sich dann vom Publikum aus gesehen nach vorne aufrichtete. Diese Art von Selbstwerdung oder Selbstüberhöhung oder Selbstübergipfelung, die mit Heroismus zusammenhängt, einem Heroismus der erhabenen Einsamkeit allerdings, also einem göttliches Gefühl … Das ist das Alleinsein in der Welt, also das Nachvollziehen sozusagen des Gedankens Gottes. Wer diese Wahrnehmung muss anfangen zu basteln, zu kreieren, zu kneten, zu schaffen, weil sie sonst unaushaltbar ist oder umgekehrt: wenn man diese Dimension der Erhabenheit erfährt, muss man sie – vielleicht sogar in Allmachtsfantasien – sofort realisieren, indem man anfängt, etwas zu gestalten.

JS: Gibt es Klänge oder Geräusche in Ihren Träumen?

BB: Ja, und ich wollte schon einmal systematisch versuchen, herauszufinden, wie ich eigentlich akustische Wahrnehmung im Traum erlebe. Es ist mir nicht gelungen. Im Traum dominiert das Visuelle. Das ist neurophysiologisch gesehen verständlich, weil das Traumgeschehen generell als ein Abkopplungsgeschehen zu verstehen ist. Das heißt, die in der Alltagskonvention immer gegebene Einheit von Gestalt der Maus und dem Geräusch der Maus, von Hundebellen und Hundegestalt wird entkoppelt, um neue durch die Plastizität vom Gehirn ermöglichte Bindungen und damit Bedeutungen und Assoziationen zu ermöglichen. Der Traum reinigt sozusagen die ewige Bindung der Bilder an die Gedanken, der Visualität an die Begriffe oder das Sichtbare an das Hörbare etc. Dazu ist das Traumgeschehen unabdingbar notwendig, wir würden unsere Plastizität völlig verlieren, wenn wir konventionell von Kindesbeinen an immer dieselben Zusammenfügungen von Anschauung und Begriff gebrauchen würden. Wir wären unfähig, uns neuen Situationen anzupassen. Im Traumgeschehen ist diese Abkopplung dann so weitgehend, wahrscheinlich – ich weiß es nicht genau bei mir zu beobachten – so vollkommen, dass man überhaupt keine Einheit von Tonwahrnehmung und visueller Wahrnehmung wie im Alltagsgeschehen hat. Es ist also nicht so, wie es immer gedeutet wird beim «Traum» Edvard Munchs, dem Schrei des Mädchens auf der Brücke in dem Augenblick hört, wo man sie sieht – aber in der Vorstellung und deren Darstellung von Munch. Oder wo die mittelalterliche Darstellung von offenen Mündern bedeutet: Read my lips! Das heißt, der visuell Wahrnehmende soll hören. Er sieht das Bild, sieht den offenen Mund des Pilatus oder des Schächers oder was immer, und muss dann die akustische Ebene hinzuziehen. Im Traum habe ich glaube ich keinerlei bewusste Zuordenbarkeit von Tönen zu bedeutungsgebenden Bildern, Einheiten, Begriffen oder ähnlichem erlebt. Erstaunlicherweise.

JS: Steht auch nicht für sich isoliert mal so ein Klang geträumt da?

BB: Selbst wenn ich meinen Vater wiedergesehen habe im Traum oder katastrophische Vorgänge, wie zum Beispiel, dass man auf einem Perron steht im Hafen von Neufahrwasser, von Gotenhafen vielmehr, die Fliegerangriffe, die rechts und links die auf der Hafenmole auf Gleisen stehenden Verwundetentransporte treffen, und man jetzt sieht, wie sich die Verwundeten angebrannt oder brennend aufrichten, gespenstische Bewegungen vollziehen, hab ich dazu keine akustische Wahrnehmung. Ich sah das fast zehn Jahre lang, dann hab ich mir das selber abtrainiert, riesige Blasen, feuerrote kosmische Blasen auf mich zukommen, die immer genau vor meinem Kopf platzte. Aber das ist auch nur ein visuelles Erlebnis ohne die entsprechenden Töne. Bei der Wahrnehmung des großen Ereignisses 2001, Zusammensturz der Zwillingstürme in New York, ist, glaub ich, auch von keiner Seite die akustische Seite des Zusammenstoßes und des Zusammenbruchs – auch im Fernsehen nicht – wiedergegeben worden. Alles ist rein visuell abgelaufen. Das deutet darauf hin, wie überwältigend das Erlebnis gewesen ist, darauf, dass man es tatsächlich nur durch Entkopplung abschwächen konnte. Hätte man jetzt auch noch die gesamte Tondimension mit Schreien von Menschen etc. dazugegeben, wäre es unaushaltbar geworden, man musste es also abkoppeln. Und das, ist glaub, ich der Sinn der Bewältigung solcher traumatisierenden Ereignisse: Man zerlegt die Wahrnehmungen auf die einzelnen Ebenen, die Visualität, die Haptik, die Olfaktorik und das Auditive.

JS: Welches Geräusch mag Bazon Brock?

BB: Ich meine, jedes. Jedes, das Aufmerksamkeit von mir verlangt, das heißt, jedes, das mich in der Welt orientiert: das echogebende Geräusch und als ihr Höhepunkt die menschliche Stimme. (Es ist natürlich auch eine Vielfalt etwa der Stimmen der Tiere, das was z. B. unser Hund leistet an unglaublichem Ausdrucksvermögen. Es ist natürlich immer im Bezug auf die Erfahrung von oder die Erwartung von: er hat Schmerzen, er quält sich oder jetzt ist er freudig erregt oder er will Futter.) Jede Art der Orientierung auf die Welt, sobald die Gefahr aus dem Unsichtbaren kommt und man mit dem Gesichtssinn gar nichts mehr ausrichten kann. Das ist das Entscheidende. Sie wissen, dass es schlimmer ist, sein Gehör zu verlieren als seinen Sehsinn. Wenn Sie das Augenlicht verlieren, dann können Sie durch den Gehörsinn immer noch die Orientierung in der Welt aufrecht erhalten. Umgekehrt ist das sehr viel schwieriger, vor allem eben neurophysiologisch gesehen und eigentlich viel komplizierter, das Fehlende zu kompensieren. Also, die Aufforderung heißt: Echo auslösen und Echo geben!
Ich finde den englischen Begriff für „Echowand“ wunderbar: rockface. Rockface, das Gesicht eines Felsens, das das Echo erzeugt, wo man sieht, dass der Fels selber als Gesicht wiederum das Echo erzeugt als eine ein erneutes Echo herausfordernde stimmliche Äußerung … ein neuer Impuls, der wiederum ein Echo vom Hörenden verlangt. Alles Hören ist ja die Aufforderung zur Reaktion. Das ist das, was wir mit dialogischer Konstruktion verstehen. Ich sage etwas, Sie hören es und geben mir ein Echo. Ich höre es und gebe Ihnen wiederum einen Impuls, der wieder als Echo zurückkommt.

JS: Wie wäre dieser visionäre Klang, den wir bisher noch nicht hatten, den vielleicht nur Sie kennen?

BB: Das wäre so etwas wie die Vorstellung der sphärischen Musik. Also das „Rauschen der Flügel der Zeit“ oder das Geräusch, das ein sich bewegender ätherischer Körper, etwa ein Engelskörper, verursacht, nicht, wie bei uns das schwere Furzen und Rülpsen etc. als Vergewisserung der realphysischen Funktionstüchtigkeit. Für uns ist es ja ungeheuer wichtig, dass man Rülpsen und Furzen kann, dass man weiß, man kann andere Geräusche machen, z. B. mit der Faust auf den Tisch schlagen. Das sind Vergewisserungsgesten. Ich bin da, ich bin … wie das mit dem Geist funktioniert, das ist an dieser Frage festmachbar. Ein sphärischer Klang, Phil Glass, glaub ich, hat für mich da die größte Ansammlung von tatsächlich gelungenen Vergegenwärtigungen geschaffen. Für mich ist Phil Glass nichts anderes, als jemand, der inspirierter Weise die großartigsten Verfestigungen, Einfrierungen des Auf-Dauer-Stellens, Ewigkeit erzwingenden Prozesses erreicht hat, soweit er musikalisch ist. Wo man stundenlang zuhören möchte und wünschte, dass es nicht mehr endete. Also das ist die Komponistenaufgabe immer: Gib uns etwas zu hören, wovon wir möchten, dass es nicht mehr endet.