Vortrag / Rede Musealisierung als Zivilisationsstrategie

Fünftes Memorial zum 24.11.1934 Istanbul

Honoriertes Zuhören, Bild: Musealisierung als Zivilisationsstrategie / Fünftes Memorial am 24.11.2009, Temporäre Kunsthalle Berlin. + 8 Bilder
Honoriertes Zuhören, Bild: Musealisierung als Zivilisationsstrategie / Fünftes Memorial am 24.11.2009, Temporäre Kunsthalle Berlin.

Temporäre Kunsthalle Berlin, Schloßplatz 24.11.2009 von 12-24 Uhr

Was ist ein Produzent ohne den urteilsfähigen Konsumenten, was vermag ein Arzt zu leisten ohne einen therapietreuen Patienten, was der Künstler ohne einen verständnisfähigen Betrachter und Zuhörer, was richtet der Politiker aus ohne einen kritikfähigen Wähler, was nutzt die Predigt, wenn sie nur auf tumbe-taube Ohren stößt?

Bazon Brock versammelt bei seinem Symposium „Musealisierung als Zivilisationsstrategie“ 23 Expertinnen und Experten, um Möglichkeiten und Wege zur Ausbildung von Diplom- Patienten, Diplom-Rezipienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Bürgern und Diplom- Gläubigen zu diskutieren. Ziel ist es, dem Diplominhaber jeweils zu ermöglichen, von Künstlern, Medizinern, Produzenten, Geistlichen und den Politikern als Partner ernst genommen zu werden. Fachleute aus den jeweiligen Bereichen, Künstler und Wissenschaftler, erörtern am 24. November 2009 in einem zwölfstündigen Symposium in der Temporären Kunsthalle in Berlin die „Musealisierung als Zivilisationsstrategie“.

Das Profi-Publikum macht erst die angemessene Würdigung und Wahrnehmung der Kunst möglich. Der Diplom-Patient erhält seine Ausbildung, um mit den Widrigkeiten des Gesundheitssystems zurecht zu kommen und so seine Überlebenschancen zu steigern. Die Ausbildung zum Diplom-Gläubigen schützt vor der Vereinnahmung Gutwilliger durch Fundamentalisten aller Couleur. Der über die natürliche Täuschbarkeit des Menschen aufgeklärte Bürger dürfte besser die vielschichtigen Behauptungen und Versprechungen von Politikern zu beurteilen vermögen. Die Diplomkonsumenten könnten im Erkenntnisvergnügen das Spiel der Werbebranche mit dem Augenschein als Beweismittel sogar genießen und sich nicht mehr als arme Opfer fremder Manipulation vor der Eigenverantwortung drücken.

Referenten sind die Professoren, Doktoren und andere Autoritäten durch Autorschaft: Patrick Bahners, Petra Bahr, Christian Bauer, Horst Bredekamp, Bazon Brock, Jürgen Busche, Harald Falckenberg, Markus Gatzen, Werner Hofmann, Friedrich Kittler, Andrea Kühbacher, Hermann Lübbe, Sema Meray, Axel Hinrich Murken, Manfred Schlapp, Karl Schlögel, Peter Sloterdijk, Hans Ulrich Reck, Wolfgang Ullrich, Martin Warnke, Peter Weibel, Lambert Wiesing.

„Museumsessen 1949 ff.: Kohlroulade, Salzkartoffeln, grüner Salat, Vanillepuddung mit Schokoladensoße“. Im Restaurant der Kunsthalle bieten Andrea Kühbacher und Frank Fiedrich während des Symposiums eine Reihe von kulturgeschichtlich bedeutsamen Gerichten zum musealisierten Verzehr an.

Honoriertes Zuhören: Auch Zuhören und Zuschauen ist Arbeit. Daher zahlen die Veranstalter Zuhörern für ihre ganztägige geistige Betätigung während des Symposiums „Musealisierung als Zivilisationsstrategie“ je 25 €. Dieses Publikumshonorar kennzeichnet das Bemühen, die Kunstrezipienten, die Patienten, die Wähler, die Gläubigen und die Warenkonsumenten zu professionalisieren.
Nichthonorierte Laufkundschaft, wie üblich, jederzeit freier Eintritt.

Veranstalter: Zentrum für Kunst- und Medientechnologie, Karlsruhe
Programm: Bazon Brock, Universalpoesie und Prognostik, Wuppertal
Raumbildner: Jürg Steiner, Berlin/Wuppertal
Medienpartner: Deutschlandradio Kultur/Hessischer Rundfunk zeichnen im Rahmen der dreiteiligen Hörfunkproduktion „Jeremia-Casting“ die Veranstaltung auf.

Programm Musealisierung als Zivilisationsstrategie

1.
Fünf nach Zwölf: Programmatische Deklamation der guten Absichten im Generalthema »Musealisierung als Zivilisationsstrategie« durch Peter Sloterdijk, Marc Jongen und Peter Weibel
Einführung ins Programm durch Bazon Brock: Präliminarien und andere Selbstverpflichtungen der Teilnehmer

2.
13 Uhr Die Avantgarde zivilisieren!
Entwaffnet die futuristischen Großmäuler und Kleinbürger von Wagner über Marinetti, Boulez bis zu Stockhausen – Progression der barbarischen Dummheit »Sprengt die Opernhäuser in die Luft!« zur Auszeichnung als Bayreuth-Dirigent. Es beleidigt unsere Intelligenz, die Museen, die Opernhäuser und die Archive nur solange mit Gewalt bedrängen zu sollen, bis wir selber in ihnen vertreten sind.

Im Trialog mit Thesenanschlag
Martin Warnke: Die Geburt des Museums aus dem Geiste des Bildersturms
Hans Ulrich Reck: Der Rekurs von Recht auf Gewalt, von Symbolgebung auf Reales, von Zivilisierung auf kulturelle Selbstbehauptung – der verbotene Ernstfall als Ästhetik der Selbstrelativierung
Wolfgang Ullrich: Reproduzieren als Aufklären – Über die Strategien des Fakens

3.
15–17 Uhr Zivilisierung der Kulturen im Museum?
Reflektionen über Weltkultur und Weltkunst, Kosmopolitismus, Kapitalistische Internationale, universale Zivilisation.
Eine Lagebesprechung mit Stephen Bronner, Jürgen Busche und Harald Falckenberg

4.
17–19.30 Uhr Der Schlossplatz als Freibad – ein säkularer Jungbrunnen nach dem Beispiel Moskaus?
Hermann Lübbe: Wilhelm von Humboldt und die Berliner Museumsgründung 1830
Karl Schlögel: Die Baugrube. Arbeit an der Lehre. Phantasien für einen Jahrhundertbau. Das Genie Boris Iofans. Ein Lehrstück der Geschichte aus Moskau für Berlin.
Patrick Bahners: Kritik des Museums als Eventagentur: Wer nicht denken will fliegt raus! (Joseph Beuys)
Horst Bredekamp: Über Logiken des Sammelns, Zeigens und Bekennens. Äquidistanz, Äquivalenz, Äquivok. Ein Humboldtsches Muster der Nähe durch Distanz.

5.
19.30–21.30 Uhr Durch Wissen klagend, durch Klagen leidend, durch Leiden wissend
Werner Hofmann: Künstlerpathos, Klagekünstler: Vom Hungerkünstler zum Wiener Aktionismus. Leiden in der imitatio christi oder Kälte des Kalküls?
Lambert Wiesing: Klagen nach Anweisung? Stil statt Wahrheit, stilvoll Leiden? Die Angleichung des Leidens an die Bilder.
Friedrich Kittler: Das Pathos der reinen Setzung. Mathematik als Letztbegründung, damit das kulturkritische Jammern endlich ein Ziel hat: Maß und Zahl.
Bazon Brock: Leiden als Selbstthematisierung. Über die Logik des apokalyptischen Denkens: Nur der radikale Pessimist hat wirklich Gründe, optimistisch sein zu können.

6.
Von 21.30 bis zur Mitternachtserleuchtung durch ein herzliches Valet-Sagen
Sema Meray: 24.11.1934 – die Hagia Sophia wird Museum anstatt weiter Streitfall im Kulturkampf zwischen Christen und Moslems zu bleiben – ein lehrreiches Beispiel für die Zukunft?
Petra Bahr: Sola fide, sola gratia: Christen ohne Tat / Künstler ohne Werk versus Gläubige mit Sprengstoff und Künstler als gnadenlose Konkurrenten Gottes – eine lutherische Relektion
Bazon Brock: Ergebnisse der experimentellen Geschichtsschreibung auf der Wartburg am 10.11.09 (mit Moritz Götze): Tintenfasswürfe im historischen Ambiente zur Rettung des Volksglaubens, Kritik der positivistischen Wahrheit, die Flecken an der Wand des Lutherzimmers stammten augenscheinlich nicht vom Luthers Tintenfasswurf nach dem Teufel.
Christian Bauer: Sacrificium intellectus – es braucht viel Vernunft für das Opfer des Verstandes. Über derartige Vernunft in Werken von Karlheinz Stockhausen, Botho Strauß und Anselm Kiefer.
Manfred Schlapp/Andrea Kühbacher: Nekrolog auf das abgeklärte Europa – Europa kam von Tyros; FIAT LUX! Und jetzt Heimleuchten: Wer musealisiert die Muselmanen? Dahlem-Dämmern für Christen. Einlagerung und Kommentierung des Augenscheins durch Schlapp und Kühbacher. Valet.

Termin
24.11.2009, 12:00 Uhr

Veranstaltungsort
Berlin, Deutschland

Veranstalter
ZKM

Leiden als Selbstthematisierung. Über die Logik des apokalyptischen Denkens: Nur der radikale Pessimist hat wirklich Gründe optimistisch sein zu können