Imitationen – die wahre Lust am Falschen
Als ich 1983 in einem umfangreichen Text zur Arbeit von Gerhard Merz diese Passage veröffentlichte, gab es schon kein Halten mehr. Der große französische Quark der Simulationsthese wurde breit getreten, bis auch die letzten Ritzen der zeitgenössischen Bunkermentalität verkleistert waren. Im Nußkern behauptet diese These, daß wir nicht mehr fähig sind und auch nicht mehr willens sein sollten, die verschiedenen willkürlichen Zeichenklumpen voneinander und von dem zu unterscheiden, was in ihnen bezeichnet sein könnte. Die Zeichenschwemme, eine wahre Ölpest des Medienzeitalters, mache es unmöglich, den simulierten WahnweIten gegenüber noch die Wahrheitsfrage zu stellen; nicht einmal die Konfrontation mit einem Wirklichkeitsanspruch sei sinnvoll. Daß Wahn und Wirklichkeit ununterscheidbar geworden seien, daß der Zeitpfeil stillstehe, daß die Orientierung im Raum, vor allem auch im sozialen Raum, ihre Koordinaten von unten/oben, vorn/hinten, links/rechts verloren habe – diese Behauptung formuliert zwar eine verständliche Wunschvorstellung der Herrscher im Reich der Medien, aber auch nicht mehr als einen unfrommen Wunsch. Warum aber hat dann diese Pathosformel der Entlastung von Verantwortung sich auch bei all denen durchsetzen können, die keinerlei Einfluß auf Fernsehprogramme, Zeitungs- und Zeitschriftenmacherei haben? Offensichtlich hofften sie, sich von den Nabelschnüren der Medien trennen zu können, wenn sie annahmen, daß deren Programme ohnehin nur haltloser Selbstlauf der Bilder und Worte seien, dem man sich bestenfalls dann aussetzt, wenn der Langeweile auf keine andere Weise begegnet werden kann als dadurch, den Langweilern zuzusehen.
Wie die Programmherren sich mit Hinweis auf die unausweichliche Totalsimulation von der Verantwortung für ihre Programme entlasten wollen, so entlastet sich vor diesen Programmen die Klientel von der Verpflichtung zu unterscheiden, zu argumentieren und zu urteilen. Offensichtlich ist es etwas Wünschenswertes, von diesen Verpflichtungen befreit zu sein. Warum?
Weil man sich überfordert sieht, der dauernden angemahnten Mitbestimmung oder gar selbstverantwortlichen Entscheidung im privaten Alltagsleben wie am Arbeitsplatz gerecht zu werden. Und das ist nicht nur ein Problem individueller Schwächen und Unfähigkeiten. Beispiel:
Wem zugemutet wird, die Flut der Mitteilungen über Gesundheitsgefahren aus der Nahrung in eigener Verantwortung zu gewichten, muß über kurz oder lang seine Selbstverantwortung aufgeben, weil er sonst nur noch darauf verzichten könnte, überhaupt zu essen; denn essen kann man eben nicht simulieren. Und wem es gleichgültig ist, was er ißt, wird seinen Körper schnell zur Aufgabe dieser Gleichgültigkeit und zur Unterscheidung zwischen Nahrung und Nichtnahrung zwingen. Wo Wahn und Wirklichkeit des Essens als Nahrungsaufnahme und soziale Kommunikation für ununterscheidbar gehalten wird, ist das nur möglich, weil man sich einen Wirklichkeitsbegriff zurechtschustert, wie ihn gelangweilte, phantasielose Gesellschaftsparasiten zu allen Zeiten hatten und wie er in der Rede von den angeblich höheren Fähigkeiten des rauschgestützten Wahns, des Traums und der Offenbarungsekstase zur Geltung kommt.
Die Künste wurden nun immer schon einerseits verdächtigt und andererseits genötigt, zu diesen höheren Wirklichkeiten exklusive Beziehungen zu unterhalten. Wer sich als Künstler sowohl der Verdächtigung wie der Nötigung entziehen wollte, indem er seine Verfahren offen legte, sein Tun als völlig geheimnislos darstellte, verlor beim Publikum an Faszination, verlor am Markt jeglichen Wert und wurde mit dem Stigma eines Kunstgewerblers und handwerklichen Bastlers belegt. Von heute aus gesehen, haben Künstler wie Duchamp, Yves Klein, John Cage, Donald Judd oder Andy Warhol allerdings noch einen dritten Weg eröffnet, nämlich so zu tun als ob. Es wäre an der Zeit, ihre Position gegen die total verkifften Simulationsclowns einerseits und die do-it-yourseil-Künstler andererseits zu entfalten. Mit dieser Kunst des als ob, mit dieser Placebo- und Ersatzkunst wird dann nicht wieder bloß eine neue höhere Wahrheit dogmatisiert, wenn man deren grundsätzliche Annahme vor Augen behält, daß nur das Falsche als solches noch wahr ist; und daß nur das wirklich ist, was sich eben gerade nicht von unseren noch so systematischen und ganzheitlichen Denk- und Handlungsanstrengungen wunschgemäß zurichten läßt.
Kunst als Ersatzkaffee
Offensichtlich hat sich die Philosophie des als ob, die Kunst des Placebo und der Ersatzhandlungen nicht durchsetzen können, weil das als ob, das Placebo und der Ersatz als Kennzeichnungen eines Mangelzustandes verstanden werden. Wer will schon Ersatzkaffee trinken außer in Situationen, in denen es keinen richtigen, echten Kaffee gibt? Jenseits dieser Situationen, anderswo, gibt es sehr wohl echten Kaffee, und wir müssen uns nolens volens mit dem Ersatz zufrieden geben, bis es auch für uns wieder echten, richtigen Kaffee geben wird. Und das sollte möglichst bald sein; denn der Ersatzkaffee ist eben kein Kaffee, er sieht nur so aus, schmeckt aber nicht und wirkt auch nicht wie Kaffee. Was aber ist er dann? Er ist ein undefinierbares Gebräu, eine ziemlich widerlich schmeckende dunkle Brühe, die man nur deswegen nicht als Ersatzjauche kennzeichnet, weil nach Jauche keine Nachfrage besteht.
Der Placebokaffee hingegen schmeckt und riecht wie Kaffee, hat nur nicht seine Wirkung. Oder wirkt der Placebokaffee eben doch, obwohl er kein Koffein enthält; warum sollten ihn denn so viele Placebokaffeetrinker schätzen? Die Wirkung ist ganz offensichtlich nicht in erster Linie ans Koffein gebunden, obwohl dieser Substanz die Wirkung des Kaffees zugesprochen wird. Sind die Placebokaffeetrinker durch Trinken echten Kaffees so konditioniert worden, daß die Wirkung auch dann eintritt, wenn sie kein Koffein zu sich nehmen? Oder die Wirkung des Kaffees ist tatsächlich nicht vom Koffein ausgegangen; dafür spricht, daß man ihn auch schon schätzte, als man vom Koffein noch gar nichts wußte.
Nun scheint aber der Placeboeffekt gerade vom Wissen um die behauptete Wirksamkeit auszugehen. So bleibt nur der Schluß, daß die Wirksamkeit zumindest auf mehr beruht als auf der Wirkung von einzelnen Substanzen. Das angebliche Wissen um die Wirksamkeit erzeugt die Bereitschaft, die Wirkung zu erfahren, und da eine solche Erfahrung nicht leer bleiben darf, wenn sie eine bestimmte sein soll, konstruieren wir die Wirkung im Sinne der von uns gesuchten Bestätigung der Erfahrung.
Was aber ist die richtige, die echte Kunst jenseits unseres Wissens, daß die Kunstwerke, die geschaffen werden, nur so tun als ob, nur Ersatz oder Placebo sind? Das weiß offenbar niemand, sonst bräuchte er sich ja nicht auf den Ersatz einzulassen.
Das muß kein weiter beunruhigender Gedanke sein; denn wenn es diese Kunst gäbe und zwar als Wirklichkeit für uns, hätten wir auf sie mit unserem künstlerischen Tun ohnehin keinen Einfluß und könnten sie auch mit noch so viel Meisterschaft nicht unter unsere künstlerischen Konzepte zwingen. Auch für die Wirksamkeit der Kunst stellt ihr >Tun-als-ob< keine Einschränkung dar, wie der unbestreitbare Placeboeffekt bestätigt. Unsere Bereitschaft, dieser Kunst Wirkung zuzusprechen, weil sie so aussieht, als sei sie echte Kunst, ist durch Konventionen so gesichert, daß die Wirkungen als Bestätigung unserer Erwartung garantiert sind. Denn die Wirkung liegt ja nicht in der Substantialität der beschmierten Leinwände oder des geformten Materials, sondern in unserer Bereitschaft, das >Tun-als-ob< gerade deswegen zu akzeptieren, weil es ein anderes Tun, ein echtes, richtiges oder wahres nicht gibt. Das bedeutet aber gerade nicht, aller Ersatz, alle Placebos, alle >Als-ob< wären beliebig, beliebig austauschbar, gleich gültig und damit gleichgültig. So kann also auch nicht simuliert werden, weil wir über das, was simuliert wird, eben keine Aussagen machen können. Diesem Manko versuchen die gegenwärtigen amerikanischen Künstler der Appropriation und des Simulakrums zu entgehen, indem sie einen Stella oder einen Picasso ,»simulieren«, wie Stella mit jeder seiner Arbeiten sich selbst simuliert. Aber der aneignend nachgemachte Stella wird damit nicht zu einer Simulation, sondern zu einer Kopie, die bloß als Problem der Täuschung ernstzunehmen ist.
Die Fälscher aller Zeiten wußten, daß sie als Fälscher eine Leistung erbringen, also eben so tun als ob, worin sie sich vom gefälschten Künstler nicht unterscheiden. Ihre Tragödie besteht darin, daß den Fälschern ihre künstlerische Leistung nicht zugerechnet werden kann; denn reklamierte jemand diese Leistung für sich, so bliebe sie wirkungslos.
Mit eben dieser Wirkungslosigkeit kämpfen Sturtevand und Genossen. Sie tun nicht als ob, Stella und Picasso wären also nicht ein Ersatz für sie oder deren Placebo, sie produzieren schwarze Brühe, undefinierbares Zeug. Immerhin wird an ihrem Bemühen sichtbar, welche Anstrengung es kostet, das Falsche richtig zu tun. Ersatz zu schaffen, verlangt offenbar größere Fähigkeiten, als eine originäre Setzung zu behaupten.
Solche Setzungen nennen die Künstler »Schöpfung«. Die immer noch grassierende Ideologie des Künstlers als originärem Schöpfer beruft sich auf den Weltenschöpfer-Gott, der aus dem Nichts sein Werk hervorbrachte. Aber auch Gottes Allmacht hatte ihre Voraussetzungen in den Wesensbestimmungen, die ihn selbst kennzeichnen. Er hätte nicht lügen, also nicht willentlich bösartig eine falsche Welt neben der möglichen wahren schaffen können. Genau das aber gelingt den Künstlern nach Belieben; die Unterscheidbarkeit ihrer Werke als schön/häßlich, bedeutend/unbedeutend, gekonnt/dilettantisch, wirkungsvoll/wirkungslos ist die Voraussetzung ihres Tuns. Sie können jederzeit auch anders als sie tun, wenn auch nur in der Sphäre der Vorstellungen und des ästhetischen Scheins. Gerade deswegen sind sie keine Götter. Ihre angebliche Creatio ex nihilo erweist sich als Creatio per analogiam. Jede Imitation ist eine Analogiebildung, also ein >Tun-als-obFür-wahr-Haltens< tatsächlich wahr, obwohl es in seinen Voraussetzungen nichts als eine willkürliche Annahme ist. Aus solchen »Wahrheiten« ergeben sich die Verbindlichkeiten in den Beziehungen der Menschen. Das Geflecht solcher Beziehungen nennen wir Kultur, deren Leistungsfähigkeit sich in dem Maße erhöht, in dem ihre Mitglieder zur Produktion analoger Imitationen fähig sind. Worin besteht die Fähigkeit? Darin, die selbstgemachten Voraussetzungen, die selbst aufgestellten Regeln im Bewußtsein, daß sie auch ganz andere sein könnten, und für andere Menschen auch tatsächlich ganz andere sind, einzuhalten. Das Gesetz der Imitation ist die Spielregel, die gegenüber den Naturgesetzen und dem geoffenbarten Willen Gottes den Vorteil hat, verändert oder ausgetauscht werden zu können. Die Formen solcher Veränderung und solchen Austauschens der Spielregeln kennzeichnen die soziale Kommunikation als Basis jeder Kultur. Mit der Zunahme der Kommunikationsdichte erhöht sich die Dynamik der Kultur. Von der gegenwärtigen Dynamik unserer Kultur fühlen sich die fundamentalistischen wie die machtpolitischen Theoretiker überfordert. Sie wollen die Verbindlichkeit der Spielregeln und der bloßen Operation in analogen Imitationen auch für die soziale Kommunikation entweder durch die uneingeschränkte Geltung der Naturgesetze oder des möglichen Schöpferwillens ersetzen, was aber nur heißen kann, die Kulturen zu zerstören und die Menschen dem Wolfsgesetz beziehungsweise dem Walten des Schicksals zu unterwerfen: Das Ghetto der Götter soll geöffnet werden. Wer da nicht strikt sich unter Kontrolle hält, könnte leicht der Annahme verfallen, die Welt der Menschen sei längst ein Irrenhaus.
siehe auch:
-
Imitationen – die wahre Lust am Falschen – Abschnitt in:
Die Re-Dekade
Buch · Erschienen: 1989 · Autor: Brock, Bazon