Magazin Tumult 37/2011

Schriften zur Verkehrswissenschaft - Thema: Kein Halten mehr? Modelle der Letztbegründung

Tumult 37: Kein Halten mehr?
Tumult 37: Kein Halten mehr?

Spätestens mit der Finanzkrise 2007, der die Wirtschaftskrise auf dem Fuße folgte, hat der Markt als ultima ratio aller gesellschaftlichen Wahrheitsansprüche durch die Allmachtphantasien des frei flottierenden Finanzkapitals seine Glaubwürdigkeit bei mehr als drei Viertel der Bevölkerung Europas und der USA endgültig verloren so belegen es die Umfragen aller gängigen Institute.

TUMULT 37 verhandelt in Beiträgen prominenter, zeitgenössischer Autoren das Krisengeschehen unserer Tage.
Die Beiträger versammelten sich dazu mit Bazon Brock zu einem »Konklave der Stiftung Schloss Neuhardenberg« und widmeten sich den Ungeheuern unserer Vorväter, indem sie auf der Suche nach den Urgewalten den BELOMOTH beschworen und nach dem LEVIATHAN angeln gingen.

Erschienen
01.01.2011

Herausgeber
Frank Böckelmann und Walter Seitter

Verlag
Büchse der Pandora

ISBN
978-3-88178-537-2

Umfang
144

Einband
Frz. Brochur

Seite 15 im Original

Kein Halten mehr? Anfang des Endes

Ein Resümee

Verehrte Zeitgenossen, Partner im Niedergang Europas, Denker der Verwüstung, geschätzte psychologische Notfallmannschaft!

Wir haben drei Tage lang einander ein kleines Konklave mit einem Exercitium geboten. Da wir das Exercitium hier nicht nachbauen können, will ich als Erstes kurz in Erinnerung rufen, was das Nachdenken über Letztbegründungen erbracht hat.

Die Vorgaben für unser Konklave waren nicht nur personeller und institutioneller, sondern auch sachlicher Art. Denn wir sind hier in Neuhardenberg, einer Gründung aristokratischer, dynastischer Anciennitätsprinzipien. Das ist eines der drei ältesten und klassischen Begründungsmodelle überhaupt.

Wenn Sie Grund suchen für Ihre gestörten Weltverhältnisse, Horizonte, Wahrnehmungen oder Zukunftserwartungen, dann können Sie zurückgehen auf den Grund, der bis heute im Grundbuch eingetragen ist – und das ist in diesem Zusammenhang Eigentum. Sie können heute noch im Grundbuch die Begründung für diesen letzten Grund in Eigentums- und Besitzverhältnissen, die darin garantiert sind, vorfinden. (Siehe den Beitrag Gunnar Heinsohn in dieser Edition) Sie haben die Möglichkeit, das Anciennitätsprinzip im Sinne der aristokratischen Legitimation mit der Kontinuität in der historischen Zeitproduktion zu parallelisieren, also zu sehen, seit wann denn diese Begründung verbindlich ist für alle Mitglieder eines Sozialverbandes.

Wir haben in der Nähe von Neuhardenberg, einem der grundlegenden Modelle der Letztbegründung, bei den Seelower Höhen wahrscheinlich doch die effektivste, vielleicht auch bekannteste Form der Letztbegründung, nämlich im Schaffen von Irreversibilität vergegenwärtigt. Es gibt nur einen Akt vollständiger, unaufhebbarer Irreversibilität, fast alles andere ist mehr oder weniger modifizierbar: Töten ist nicht reversibel. Wer tot ist, ist tot und bleibt es. Deswegen wurde mit dem durchgesetzten Ernstfall der Drohung mit dem Tode auch im höchsten Maße reguliert, was in der Gesellschaft – vor allem in der Beziehung zu anderen Gesellschaften – als Letztbegründung eingefordert wird.

Wo es kein Halten gibt, ist zwangsläufig die einzige Form der Verbindlichkeit in der Haltlosigkeit die Haltung. Deswegen wurden die Konklave-Mitglieder von Frau Duffek und Frau Schäfer gebeten, sich in die Existenz, d.h. freies Stehen im Raum, einzupassen und dort zu erfahren, daß jenseits aller Interpretationszwänge, aller Erwartungen an die Sinnhaftigkeit des Tuns, nur eines erfahrbar wird, daß, wenn es kein Halten gibt – und die Leere ist ja der Raum der Haltlosigkeit –, eben Haltung auszubilden ist. Die wichtigste Orientierung auf historische Letztbegründung bleibt, daß wir begreifen, was zu allen Zeiten vor allen Dingen mit dem Selbstbewußtsein der soldatischen Existenz oder der Aristokratie verbunden war: Nehmen Sie Haltung an! Denn der Soldat riskiert ja jederzeit die Begründungslosigkeit in der Konfrontation mit dem Nichts, mit dem Tode, die er nur aushalten und bewältigen kann, wenn er Haltung anzunehmen weiß. Wir haben gemerkt, wie schwer es ist, wenn man nur eine Stunde stehen und eigentlich nichts anderes erfahren soll als den Übergang von Sinnhaftigkeitsforderungen – was denkt er jetzt, was meint er wohl, was wollen die von mir – zurück auf den simplen Versuch herauszufinden, ob man zur Haltung fähig ist. Und das ist natürlich mit dem aristokratischen, militärischen Hintergrund engstens verbunden. Im Barock gab es Schulen zur Ausprägung von Haltung: Conduite-Schulen, in denen man lernte, Haltung zu bewahren in der Haltlosigkeit der Welt. Der Dreißigjährige Krieg hatte alles von unterst zu oberst gekehrt, Horizonte geöffnet, es gab keine Orientierung mehr, jede Wegmarkierung war zerstört, jede Topographie der Orte durch katastrophisches Zerkrümeln unlesbar geworden. Da gab es nur eine Möglichkeit für Individuen wie für ganze Formationen, zum Beispiel den Hof oder das Militär, eben Haltung als die Form der Bewältigung von Haltlosigkeit zu entwickeln.

Eine solche säkular-klösterliche Anlage, wie wir sie hier auf Schloß Neuhardenberg haben, ist dann, mit Sloterdijk zu sprechen, als Übungsanlage auf Zeit tatsächlich so etwas wie ein Versuch, heute eine Conduite-Schule für diejenigen einzurichten, die kraft ihres Denkens gerade nicht allfällige Lösungsvorschläge erarbeiten können, sondern durch das Arbeiten die Probleme in immer tieferem Sinne als prinzipiell unlösbar darstellen und deswegen tatsächlich zum Problem machen. Denn Probleme, die lösbar waren, sind keine. Man brauchte sie ja nur zu lösen. Was sollte es da für einen Sinn haben, sich auf die Problematisierung einzulassen?

Wissenschaftler sind per Definition diejenigen, die selbst aus dem Evidenten noch ein Problem machen, desgleichen die Künstler. Maler können aus einer simplen, monochrom angestrichenen weißen Tafel in einem weißen Passepartout und Rahmen auf einer weißen Galeriewand ein extremes Problem der Unterscheidung im Unterschiedslosen machen, das Interesse gerade dadurch gewinnt, daß es mit keiner Anstrengung, selbst mit Setzungsmacht göttlicher Autorität nicht, auflösbar ist. Die Welt ist insofern nicht ein Selbstausdruck der göttlichen Vernunft, sondern der Versuch, ihrer habhaft zu werden in der Begründung der Kraft zur Problematisierung.

Also: Wo kein Halten ist, gibt es nur eine Möglichkeit, sich auf diese Tatsache einzustellen, nämlich durch das Haltungnehmen und Haltungbewahren. Machen Sie es zu Hause nach, stellen Sie sich eine, bei guter Kondition vier Stunden einfach in den Raum, um zu erfahren, ob Sie in der Lage sind, sich selbst in Haltung zu bringen, zu shapen, zu konditionieren oder, wie das klassische Wort heißt, zu informieren. Denn Haltung ist nichts anderes als eine Form der Selbstinformation. Information ist die Art und Weise, wie ich mich zu einer Formation verhalte. Die Zuordnung eines lieu-tenant, eines Stellvertreters, eines Gestors, zur Formation, also zur sozialen Gruppe, zu der man gerade Kontakt hat, ist dann der Ausweis von Information. Wer Haltung hat, ist über sich informiert. Er hat sich informiert. Der Ausdruck der Haltung ist die Tatsache, daß ich informiert wurde. So wie das Material durch Aufpressen einer Form informiert wird (denken Sie an die großen Metaphern von Flusser), so gilt es im Hinblick auf die Conduite-Schulen auch für das Erwerben der Fähigkeit, in der Haltlosigkeit, in der Leere des Raumes, in der Orientierungslosigkeit der Hochsee oder des Urwalds die Haltung zu entwickeln, mit der die Haltlosigkeit als Problem akzeptiert werden kann – anstatt in Verzweiflung oder mit einem Schrei der Rache, wie wir das in Seelow dokumentiert bekommen haben, oder mit leidenschaftlicher und sehnsuchtsvoller Hinwendung an Ideologien und andere Sinnstiftungsangebote sich selbst aufzugeben.

Nach dieser Rückerinnerung an die klassische Antwort auf die Frage nach den Letztbegründungen, orientierten wir uns in unserem Exercitium an den demoskopischen Aussagen seit Herbst 2008, daß drei Viertel der Bevölkerungen in Europa nicht mehr an die Fähigkeit des Marktes glauben, unsere Weltverhältnisse, unsere Wertschätzung von Arbeit und Arbeitsprodukten zu regulieren. Die brennendste Frage ist, was bei diesen Umfragen mit dem Begriff der grundsätzlichen Krise des Kapitalismus gemeint sein konnte. (Siehe Beitrag Peter Koslowski in dieser Edition)

Wir rekurrieren auf einen Krisenbegriff, der nicht bloß hypothetisch oder abstrakt-normativ Vorgaben der be grifflichen Ebene einzieht, sondern beziehen uns auf eine grundlegende Arbeit von Franz Vonessen, die er unter dem Titel „Die Herrschaft des Leviathan“ 1978 bei Klett Cotta veröffentlicht hat und in der er im Kapitel „Zur Zoologie des Leviathan“ die Begründung dieses Krisenverständnisses auf die Begriffsgeschichte und vor allen Dingen auf die großen Mißverständnisse der Handhabung der griechischen Begriffskonstruktionen zurückführt. Es wird dringend empfohlen, sich diesen Band zu besorgen. Es ist das Beste, was Sie überhaupt zum Begriff der Krise je lesen können.

Seien Sie erinnert, daß der Name „Leviathan“ seit biblischen Zeiten den Inbegriff für alle die Kräfte darstellt, die uns durch Unterwerfungsforderungen der Macht, der Ideologien, der Glaubenskonfessionen in die Selbstwidersprüchlichkeit treiben, woraus sich kritische Situationen entwickeln, wie die des Patienten es ist, wenn er Krankheit als Herausforderung und nicht nur als Schicksalsergebenheit verstehen kann. Mit unserer Übung „Leviathan-Angeln“ verweisen wir darauf, wie man der Kräfte, die uns zu verschlingen drohen, Herr wird – dazu später mehr. Seit den modernen säkularen Staatstheorien und dem Verständnis der sozialen, politischen, vor allem sozialökonomischen Entwicklungen wurde der Leviathan durch Anrufung gebannt. Er wird auch in der Gegenwart noch beschworen, von Carl Schmitt und Arno Schmidt bis zu den Herausgebern der Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften „Leviathan“.

Warum dieses überzeitliche Interesse? Die größte Macht auf Erden ist niemals das Faktische gewesen, sondern das normative Verbindlichwerden des durch Faktizität erzeugten Kontrafaktischen. Die Tatsache, daß Niederlagen als militärische Fakten absehbar sind, verweist auf unsere prinzipielle Unbesiegbarkeit, wenn unsere Form des Sieges nicht auf der Ebene der Feststellung von Fakten liegt, sondern im Normativwerden des Kontrafaktischen.

Alle kulturellen Systeme beruhen auf der Normativität des Kontrafaktischen und nicht des Faktischen. Wenn Wissenschaftler oder Journalisten auf Faktizität gegen Meinung bestehen, fordern sie geradezu totalitäre, ideologische Konzepte. Das erklärt, warum wir ideologisch und spirituell umso anfälliger sind, je moderner wir werden. Alle Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert haben diese Erfahrung gemacht. In der Moderne gilt es geradezu als programmatisch, Hochtechnologie, Rationalität, Krupp’schen Edelstahl mit der kontrafaktischen Ekstase-Erfahrung (Edelstahl und Ekstase, Blut und Boden) und die neueste elektronische Waffentechnologie mit Spiritualität zu komplementieren. Das ist Modernität.

Insofern heißt das Programm hier: Wir müssen schleunigst versuchen, nicht mehr modern zu sein. Denn der sich auf die Bühne stellende Imam, der unter Nutzung von Mikrophon, Kamera und Kalaschnikow gegen den Teufel der westlichen wissenschaftlichen Positivität und Rationalität wettert, der sich also der Mittel bedient, gegen die er gerade im Namen Gottes antritt, beweist die Macht der Normativität des Kontrafaktischen als modern. Die modernsten Erscheinungen waren im 20. Jahrhundert Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus – heute ist der Islamismus die höchste Ausdrucksform der Behauptung absoluter Modernität.

Es gilt deswegen nicht, wie die französischen Pathetiker behaupten, daß wir noch nie modern gewesen seien: Wir sind leider stets auf der Höhe der Modernitätsforderung gewesen und auf sie eingegangen; das müssen wir schleunigst hinter uns bringen. Daher der Begriff „Post-Moderne“ – die war eigentlich gemeint mit der Erkenntnis dieser unaufhebbaren Allianz oder Komplementarität von Faktizität und Kontrafaktizität, von Rationalität und Irrationalität, von Kalkül und Absurdität. Das ist in Europa bekannt, seit Tertullian im Jahre 192 n. Chr. zum ersten Mal dieses Modell theoretisch für die theologische Debatte geformt hat. (Siehe weiter unten)

Nehmen Sie das, was Ihnen die Fachleute sagen, als Hinweis, wie Sie das Problem überhaupt fassen und verstehen können, in der Bedeutsamkeit, die es für uns als Problem hat, nicht als Lösung. Diese Wissenschaftler haben sich verdient gemacht, weil sie uns daran hindern, ideologische, religiöse Erwartungen an die Lösung von Problemen zu knüpfen, etwa das Parlament aufzufordern: Macht noch ein Gesetz, damit ist das Problem erledigt, setzt noch einen Ausschuß ein, das Problem existiert nicht mehr. Ein solches Vorgehen ist nicht mehr hinnehmbar. Und deswegen bieten Ihnen die Kollegen Modelle der Problematisierung dessen, was wir als Krise erleben und wo man ja glaubt zu wissen, was mit Krise gemeint ist. Wir betten uns heute allzu gerne ins Behagen der eigenen kulturellen Gewißheiten, was im Begriff der Krise zum Ausdruck kommt. Nicht die kulturellen Selbstgewißheiten werden befragt, vielmehr wird die Gefährdung ihrer Geltungs- oder Durchsetzungskraft beklagt.

Ginge es um die Problematisierung der Selbstgewißheiten, dann müßte man nicht lauthals Krisen bejammern; dann gäbe es keine Krise, sondern die hoffnungstiftende Befreiung von Vorurteilen. Darauf zielt alle Aufklärung, die zu Recht als ent-täuschend empfunden wird; denn die Ablösung der Täuschungen kann nur enttäuschend sein.

Genau das ist der Ansatz, um überhaupt je das Problem zu verstehen. Unser Konklave hieß „Kein Halten mehr?“ Warum ist das Fragezeichen so wichtig? Das ist aus dem Kontext zu ersehen. Wir wissen jetzt, wer der Feind ist, wie der Gegner aussieht, womit wir zu rechnen haben, wir machen uns nichts vor. Sind wir deswegen gefeit?

Die einzige haltbare Begründung von Hoffnung ist als apokalyptisches Denken durch die Evolution dem Menschen anerzogen worden. Das heißt, wenn vor 35.000 Jahren ein Clan in seiner Höhle saß, hatten die 15- bis 25-jährigen männlichen Führer der Truppe nur eine einzige Chance, mit Lebensmitteln zurückzukommen zu den Frauen und Kindern, die auf sie warteten, wenn sie alles, was ihnen außerhalb der Höhle passieren konnte, minutiös antizipierten, von Anfang bis Ende durchspielten – was passiert, wenn wir diesen Graben überspringen, was passiert, wenn diese Wand abrutscht, was passiert, wenn die Leoparden uns erwarten; das Skalpieren war, wie wir heute aus Funden wissen, die Lieblingsbeschäftigung dieser Tiere in Bezug auf die Menschen, die den Kopf aus der Höhle steckten. Die mußten das Schlimmste antizipieren, vorwegnehmen, durchspielen, um eine vernünftige Hoffnung auf Durchkommen zu entwickeln. Wer das nicht tat, hatte keine Chance. Naiv optimistisch konnte man damals nicht wie der Kölner „Et het noch immer jot jegangen“ sagen, denn der, der hätte zurückkommen können, um die Botschaft zu übermitteln, war eben schon verspeist. Grundlegend war und ist die Fähigkeit, das Ende zu antizipieren, um in der Gewißheit dessen, was alles möglich ist, tatsächlich darauf vorbereitet zu sein, dem drohenden katastrophalen Schicksal zu entgehen – das ist apokalyptisches Denken. (Siehe TUMULT 36, S. 21 ff.)

Wie erkennt man den Erfolg solchen Denkens? Das machen wir alle natürlicherweise, indem wir einem anderen ins Gesicht sehen. Seine Mimik bietet ein Echo. Im Englischen gibt es den wunderbaren Begriff rock face. Das ist nicht nur die Echowand, sondern es ist das Echo gebende Gesicht, der mimische Ausdruck des Partners, aus dem wir erfahren können, wie weit wir uns auf das verlassen durften, was wir im Hinblick eben auf diese apokalyptische Kraft der Antizipation des Endes, gesagt haben, um anfangen zu können. Apokalyptisches Denken ist, weit jenseits dessen, was leider auch in den Kirchen erzählt wird, gerade nicht die Unterwerfung unter die Katastrophendrohungen, sondern, wie Augustin sagte, ist dieses Denken notwendig, damit wir die Kraft des Beginnens entwickeln können: initium ut esset homo creatus. In der Evolution ist alles logische Zwangsfolge. Die menschliche Interventionsfähigkeit besteht darin, immer erneut den Anfang zu setzen. Oder, wie Luther sagte, wenn morgen die Welt untergeht (und das muß ich wissen wollen), dann habe ich die Kraft, heute einen Apfelbaum zu pflanzen. Diese Art der apokalyptischen Echogebung in der Verläßlichkeit der Verständigung aufeinander zeigt uns, daß das Ziel unserer Absicht, uns an jemanden zu binden, tatsächlich verbindlich erreicht worden ist.

Eines der wunderbarsten Echos haben wir beim Konzert in der Schinkel-Kirche in Neuhardenberg erlebt. Wenn man musizierenden Menschen zuschaut, hat man in deren Haltung und Gesichtsausdruck ein Echo für das Erleben der Begeisterung, also des Begeistertseins, des Erfülltseins von einem Gedanken, einer Mission, einer Selbstverpflichtung. Es ist Tradition, in dem Bildtypus „Sängerkanzel“ diese rock faces darzustellen. Schauen Sie sich Donatellos singende junge Menschen auf der Sängerkanzel im Florentiner Dom an. Und dann fragen Sie sich einmal, warum es keine Denkerkanzeln gibt. Mit ganz wenigen Ausnahmen ist man gar nicht auf die Idee gekommen anzunehmen, daß denkende Menschen begeistert sind. Im Gegenteil, im Wissenschaftsbetrieb müssen sie kontrolliert bleiben, rational zurückgenommen, ohne jede Expression. Es wäre wichtig, eine Denkerkanzel zu entwerfen, damit wir unseren Gesichtern endlich ablesen können, ob wir mit unseren apokalyptischen Hoffnungen angekommen sind.

Ich denke, es ist den Teilnehmern gelungen, sich wechselseitig als solche rock faces der apokalyptischen Hoffnung wahrzunehmen, derzufolge nur radikalster Pessimismus einen vernünftigen Optimismus begründen kann. Die bekannte historische Kennung für die unhintergehbare Begründung, also Letztbegründung, heißt „Heiliger Gral“. Und alle Legenden der Suche nach dem Gral, the questor’s legend, geben die gleiche Antwort: Der Gral ist die Darstellung der menschlichen Suche nach ihm. Das entspricht zeitgemäßer Wissenschaftstheorie, zumindest der analytischen Philosophie, derentsprechend erst durch die Forschung (Suche) herausgefunden werden kann, wonach man sucht. Also ist schon das Suchen ein Finden.

Grundsteine für die Archetektur von Letztbegründungen – auch ein Schlußstein?

Aus den Papieren von Bazon Brock für die Vorbereitung des Konklaves

Einige Disziplinen der Wissenschaften und Künste widmen sich per programmatischer Namensgebung der Problematik von Grundlegung; so zum Beispiel die „Grundlagenforschung“, die „Grundlagen der Gestaltung“, die „Arche-Tektur“, die „Archäologie“, die „Archivkunde“ und dergleichen. Die Übersetzung des griechischen archai mit Grundlagen, Grundwissen bedarf der Ergänzung. Erst die Begründung vollzieht den Akt der Gründung. Das ist heute wissenschaftstheoretisch „unhintergehbar“. Denn jeder Gründer, jeder Aussagenurheber, der Anspruch auf Autorität erhebt, ist begründungspflichtig. Der Urheberschutz gilt nicht irgendeiner willkürlichen Handlung in der Welt und ihren mehr oder weniger unabsehbaren Konsequenzen, sondern einem Begründungszusammenhang, für den der Name „Werk“ eingeführt ist.

Offenbar ist der Begründungszusammenhang, den die Architekten mit ihren Bauwerken bieten, am leichtesten und damit überzeugendsten auszuweisen; denn ein Bauwerk steht und funktioniert, dann ist das Werk gelungen – der Bau bricht in sich zusammen, dann ist auch der Begründungszusammenhang eingestürzt.

Generell werden Begründungszusammenhänge als Architekturen verstanden. So spricht man von Gedankengebäuden, Netzwerkarchitekturen, Verwaltungsaufbau und dergleichen. Gedächtniskünstler stützen sich auf die Architektur ihrer Erinnerungsarchive, um im virtuellen Durchschreiten von Vorstellungsräumen die abgelegten Erinnerungen wiederfinden zu können.

archein in der Unterscheidung zu praktein (wie in Praxis) meint die kraftvolle Initiative, etwas in Gang setzen zu wollen und im weiteren Sinne das Gewollte auch zu beherrschen als Kontrolle und Erhaltung des Gründungsimpulses. Am besten traf Nietzsche mit seinem Diktum des „Willens zur Macht“ die Bedeutung von archein – wahrscheinlich hat er die Formulierung sogar direkt aus einem bisher nicht wiederentdeckten Griechisch-Lexikon übernommen. Wille zur Macht zielt gerade nicht auf Unterwerfung Dritter, sondern auf die Treue und das Vertrauen ins Projekt des eigenen Lebens. Begründet wird also im „Willen“ Nietzsches die Möglichkeit, zur Welt und sich selbst Ja zu sagen, obwohl es gerade von Denkkräftigen tausend begründete Einwände gegen jegliche Initiative gibt; denn am Ende ist in der Tat alles Tun eitel und zum Scheitern verurteilt. (Am Ende waren, sind und bleiben wir Sternenstaub.)

Offenbar verstehen diesen Grundgedanken von Nietzsches Philosophie nicht einmal seine gelehrtesten Exegeten. So hat doch jungst der allseits geschätzte Heinrich Detering versucht, „den Weg zu finden, der von dem Satz ‚Gott ist tot‘ zu dem Satz ‚Gott ist auf der Erde‘ führt“ – die einfache Erinnerung an den Zusammenhang von Karfreitag und Ostersonntag, von Karfreitagsphilosophie und Auferstehungstheologie hätte zu einem größeren Erfolg seiner gedanklichen Anstrengung geführt als Deterings höchst ambitionierte und deswegen (siehe dort Kapitel 2) höchst fragwürdige „Erzählung“, die er unter dem Titel „Der Antichrist und der Gekreuzigte / Friedrich Nietzsches letzte Texte“ gerade veröffentlichte.

Hannah Arendt hat ihren Studenten den Zugang zum Verständnis von archein als Führung durch Begründungskraft stets mit dem Verweis auf das lateinische Begriffspaar gerere und agere nahezubringen versucht. Ersteres zielt aufs Handeln im Gefolge der Orientierung auf Visionen, Projekte oder Missionen. In den „res gestae“ werden Verweise auf die geschichtsträchtigen Taten, Verhaltensweisen und ethischen Einstellungen bedeutender Akteure wie etwa des Kaisers Augustus aufbewahrt (siehe ara pacis, Friedensaltar besagten Kaisers in Rom).

agere als Handeln wird bestimmt von Reaktionen auf Herausforderungen durch Nahrungsmangel, Wetterunbill, kriegerische Bedrohung oder natürliche Funktionsabläufe in menschlichen Körpern – Beispiel Geburtshilfe, das Sokrates gerne bemühte. Es ist Praxis des Lebensvollzugs, der Geburt des Kindes als lebensnotwendigem Prozeß handelnd zu assistieren: agere / praktein. Wer aber, wie Sokrates, maieutik / Hebammenkunst als Verfahren der Gründung durch Begründung versteht, Einsichten, Erkenntnisse und Willenskraft produktiv werden zu lassen, entspricht dem Verständnis von gerere / archein.

Bei aller Ideologiekritik und Skepsis gegenüber Theorie-Belcanto sogar von Dichtern, die Urworte verkünden oder theatralisch Urschreie inszenieren lassen, ist unsere alltägliche Kommunikation in erheblich höherem Maße vom Verlangen nach Letztbegründungen geprägt, als es die Gemeinschaft der Philosophen und Theologen zu akzeptieren bereit ist. Die einen reklamieren für sich, Spezialisten der Ontologie zu sein, was auf die närrische Frage hinausläuft: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? (Wenn es also nichts gibt, gibt es eben das Nichts!) Die anderen betreiben Dogmatik oder systematische Theologie, als könnten sie, analog zur Mathematik, die Letztbegründungen von den Erstbegründungen her, den sogenannten Axiomen, erschließen. (Siehe Beitrag Eva Ruhnau in dieser Edition.) Um die höchst fragwürdigen Konsequenzen aus dem Geschäft der Ontologen und Dogmatiker unter Kontrolle zu halten, empfahl nicht zuletzt Nietzsche etwas mehr Aufklärung über die Verhexung des Verstandes durch Sprachfundamentalismus in Wort und Bild. Der Wörtlichkeitsfanatismus von wissenschaftlich-positivistischen oder kulturell-religiösen Offenbarungsgläubigen hat zu den grauenvollsten Konsequenzen des „Tuns mit Worten“ (J. L. Austin) geführt. Schreibtischtäterschaft ist weiß Gott keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, wobei etwa die Begründung für das „Wirken mit Worten“ in alten Zeiten Ägyptens ein erhellendes Licht auf die Motivlage der Ideologen, der Worttäter wirft. Im Papyrus 1107 des Neuen Museums Berlin, der aus der Kultkammer des Mer-ib aus Giza stammt, heißt es: „Wie schön ist es, durch Worte Wirksames zu tun: Man ermüdet dadurch nicht.“

Derartigen Gesichtspunkten der Kommunikationsökonomie folgen wir gerade im Alltagsleben, wenn wir scheinbar selbstverständlich von Ursachen, Urlauten, Urmenschen, Urangst, Urahnen, Urkunden, Urhebern oder Grundsätzen, Gründlichkeit, Grundgedanken, Grundbuch, Grundsteinen sprechen. Alle Wissenschaftler sind im übrigen auf diese Alltagssprache als einziger ihnen allen gemeinsamen Sprache angewiesen. Erst auf dieser Metaebene werden ihre Konzepte politisch, sozial und vor allem ökonomisch wirksam. Und die Wirksamkeit in diesen Sphären belegt die allfällige Begriffsmetaphorik, die im Urknall oder Schwarzen Loch der Astrophysiker auf gleiche Weise Gedanken und Vorstellungen wie deren Ausdruck stimuliert, den die Poeten oder die verdauungsbeschwerten, gargantuesken Wohlständler oder das ausdrucksnotständige Prekariat mit Furzen, anus horribilis mundi, behaartem „Ursprung der Welt“ ansprechen. Astronomie, Kleinteilchenphysik, Ontologie, Fundamentaltheologie – das ist doch nur als reinste Lyrik und wirkungspornographische Begriffsmalerei genießbar, wußte schon der Dichter Benn, der die Lehrbücher der Wissenschaftler für ergiebiger hielt als die Poetiken der Literaten.

Die Begründung für diese im Alltag unumgänglich unscharfe Orientierung an Ursprüngen, Grundlagen, schöpferischen Setzungen von Parlamentariern oder Künstlern, von Unternehmern oder Abenteurern, von Mathematikern oder Religionsstiftern kann eben nicht in unerzogenen, miserablen Denkgewohnheiten liegen, sondern vielmehr in Denknotwendigkeiten. (Siehe Beitrag Ernst Pöppel in dieser Edition.)

Erziehung und Bildung können also nicht auf die Vermeidung von Lügen orientiert sein, sondern auf das Erkennen von Lügen als Voraussetzung für die Akzeptanz der Unterscheidung von Lügen und Nicht-Lügen, kurz: von Wahrheiten. Denn wo sich die Wahrheit erst herausstellen muß, weil sie noch unbekannt oder generell unerkennbar ist, bleibt der Bezug auf die denknotwendigen Begriffe Wahrheit, Gutheit, Schönheit unvermeidbar, sobald im Alltagsleben der Herausforderung zur Unterscheidung zwischen akzeptabel und nicht akzeptabel, abstoßend häßlich oder anziehend wohlgestaltet, zwischen richtig und falsch entsprochen werden muß. Was mich abstößt, mir falsch erscheint oder inakzeptabel, weiß ich sehr wohl, ohne Kenntnis normativer Definitionen des Wahren, Guten, Schönen.

Das Stangerl ist gelegt
Der Standard ist gesetzt

Seit uralten Zeiten, „als das Wünschen noch half“ (wo also etwa der Beginn einer Erzählung nur mit Bezug auf ihr Ende denkbar war und die Verlaufskurve dramatischer Konflikte nicht der unterhaltenden Spannung, sondern der spannenden Erkenntnis diente), wurden mit der Feier der Grundsteinlegung alle Beteiligten auf das Gelingen des Baus persönlich verpflichtet. Denn diese gemeinsame Orientierung verschaffte dem Vorhaben erst Geltung. Alle derart in Geltung gesetzten Projekte genossen den Status eines verbindlichen Kanons, an dem die individuellen Initiativen gemessen und verworfen oder anerkannt werden konnten. (Siehe Beitrag Jochen Hörisch in dieser Edition.)

Vorkommnisse bei der Grundsteinlegung mit Deponieren von Urkunden wurden archiviert, damit man post fest noch eruieren konnte, was gegebenenfalls das Gelingen des Unternehmens verhindert hatte. Bei der Grundsteinlegung für das Haus der Deutschen Kunst in München am 15. Oktober 1933 brach der Stiel des Hammers, mit dem Hitler seine Aussage „Das Stangerl ist gelegt“ traditionsgemäß nachdrücklich vernehmen lassen wollte (wie auch Richter, Sitzungspräsidenten, Auktionatoren mit dem Hammerschlag eine definitive Entscheidung markieren). Die für Hitler bedeutendste Grundsteinlegung der deutschen Kulturgeschichte nahm am 22. Mai 1872 Richard Wagner für den Bau des Festspielhauses in Bayreuth vor. Der Text im Stangerl (eine Stahlröhre zum Einschieben von Urkunden), das Wagner legte, lautete unter anderem:

Hier schließ‘ ich ein Geheimnis ein,
da ruh‘ es viele hundert Jahr‘:
so lange es verwahrt der Stein,
macht es der Welt sich offenbar.

Das blieb Standard der Begründungsmythologie, also der großen Erzählung über die erst nachträglich erkennbaren Implikationen eines Gründungsprojekts, denn, wie oben gesagt, wer würde noch Staaten oder Parteien gründen, Unternehmen aufbauen oder Werke schaffen, wenn sie auf das festgelegt wären, was der Gründer bei seinem unvermeidlich beschränkten Horizont voraussehen kann, nämlich, daß auf lange Sicht am Ende alles zu Staub zerfällt. Wagners Urworte sind wahrhaft deutschmeisterlich, weil unergründlich: Geheimnisse wirken nur so lange, wie man sie nicht enträtselt. Und das Unbekannte macht sich als Geheimnis offenbar und damit wirksam.

In Wagner entsprechender Gründungseuphorie hat der zeitgenössische, gesamtkünstlerisch werkende Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter A.R. Penck Stangerl-Standarts geschaffen. Man kann seine Arbeiten durchaus mit Versuchen in Beziehung setzen, anthropologische Konstanten auszuweisen. Dabei rekurriert er in etwa auf folgende Standartisierungen: Standard wird zur Standarte, zum Markenzeichen von Kunstproduktion, denn häufig wird Standard als Anglizismus mit „stand-art“, als Marktstand der Kunst übersetzt. Oder als Standpunkt oder als Fundament der Kunst. Letztere Bedeutung bezeichnet eine tatsächlich weiter tragende Auffassung von Standard. Mit dem Verweis auf künstlerisches Arbeiten wird aber der Bedeutungshorizont von Standard unnötig eingeengt im Vergleich zur Entfaltung des Begriffs durch Penck.

Bevor die computergesteuerten Fertigungstechniken der Industrie die auf individuelle Wünsche zugeschnittene Produktgestaltung ermöglichten (freilich nur als individuelle Auswahl unter einer beschränkten Zahl von Varianten – also als „individuelle Massenproduktion“), war Standardisierung aus mehreren Gründen das Verfahren, um die Produktion und ihren Absatz zu optimieren. Standardisierung verkürzte die Produktionszeiten, vermied Materialabfall, verbesserte Lagerhaltung, Transport und Distribution der Produkte, erhöhte die Produktqualität durch Wahrung von Minimalstandards und garantierte gehobene Standards in Gestalt von Markenprodukten. Mit der Leistungssteigerung durch Standardisierung konnten die Produzenten eine generelle Haftung für die Funktionstüchtigkeit ihrer Produkte gewähren. Die Garantiezusagen banden die Käufer langfristig an die jeweiligen Markenprodukte, wodurch Planungssicherheit für Kalkulationen wie Rendite, Produktionszyklen und dergleichen entstand. Die bedeutendste Voraussetzung für die allgemeine Steigerung von Leistung und Wirkung der Industrieproduktion als Ganzes wurde durch Standardisierung in Gestalt von DIN-Normen durchgesetzt, wodurch die Möglichkeit der Verbraucher stieg, die unterschiedlichsten Produkte miteinander zu kombinieren. Für derartige Anschlußfähigkeit einzelner Gestaltungseinheiten waren bis dato nur die Rapporte des ornamentalen Schmucks etwa als Tapeten, Kacheln, Teppiche und Stoffmuster geläufig. Die Universalisierung des Produktgebrauchs durch Standardisierung war die Voraussetzung für die Steigerung der Produktion und damit Verbilligung der Produkte.

Um diese Vorgänge global zu übermitteln, entwickelten Gestalter um Otto Neurath und Gerd Arntz in den 1920er Jahren in Wien und Köln die bildsprachliche Repräsentation für Produktions- und Absatzsteigerung, für Preisentwicklung in Herstellung und Verkauf und der damit implizierten Lohnkosten sowie für die Darstellung von Marktanteilen, Konjunkturverläufen unter anderem in sogenannten Isotypen, Torten- und Balkendiagrammen sowie in graphischen Verläufen zwischen Wertkoordinaten. Derartige Diagramme und Koordinatenanzeigen konnten auch bei jenen minderwertigen Reproduktionsverfahren prägnant und kostengünstig wiedergegeben werden, denen die Zeitungen, Werbemittel und Bücher bis in die Jahre der Digitalisierung unterworfen waren.

Heute konkurriert eine Vielzahl von Bildbegriffen wie Stereotypien, Visiotypien, Piktogrammen, Impresen und Logos um die zeitgemäße Weiterentwicklung der in Europa seit vierhundert Jahren populären emblematischen Bild- und Begriffsverknüpfung. Sie erfaßte gleichermaßen die Alltagskommunikation (sinnbildliche, moralisch-religiöse Anweisungen zur Lebensführung) wie auch die globale Kommunizierbarkeit von Begriffsbildungen der Wissenschaften (von der chemischen Formel bis zu den Schaltdiagrammen der Techniker).

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in vielen Landern Versuche durchgeführt, um durch Systematisierung und Standardisierung eine Gebärdensprache für taubstumme Menschen zu entwickeln. Bis heute fasziniert die Zeichengebung durch Gebärden bei jeder abendlichen Nachrichtensendung, die als Bild im Bilde eine synchrone gebärdensprachliche Übermittlung bietet. Insbesondere staunt man über das Zusammenspiel von Mimik und Gebärde bei der Formulierung von Aussagendifferenzierungen wie den Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und ihren jeweiligen Sonderformen von Plusquamperfekt und Futur II oder von Konditionalsätzen oder Konsekutivsätzen: Das fasziniert vor allem, weil sich der Betrachter der gebärdensprachlichen Parallelaktion ständig fragt, wie er wohl versuchen würde, derartige Ausdrucksformen zu erfinden.

Etwas weniger herausfordernd empfand man die Konfrontation mit dem Bemühen, eine universale Wortlautsprache wie das Esperanto zu erfinden und praktikabel werden zu lassen. Immerhin leuchtete das Argument ein, die indogermanisch geprägten Sprachgemeinschaften ließen sich zum Gebrauch der Universalsprache Esperanto eher überreden als zur Wiederaufnahme des Lateinischen als lingua franca, weil sich im Esperanto jede Sprachgemeinschaft mit ihrem Beitrag wiederfinden konnte. Der Vorschlag, Esperanto als Universalsprache einzuführen, den ihr Erfinder Ludwig Zamenhof vor 120 Jahren machte, blieb wohl auf kleine Liebhaberkreise beschränkt, weil zum einen nur die indogermanischen Sprachfamilien berücksichtigt worden waren und zum anderen noch nicht erkennbar war, daß wirtschaftliche Globalisierung nicht zur Stillstellung kulturell-religiöser und nationalistischer Antriebe führt, sondern im Gegenteil erst auf der Basis globalen Geltungsanspruches sich ins Extrem ausweitet.

In irgendeiner Form hat jeder Zeitgenosse sich darin geübt, Mitteilungen zu verschlüsseln, sei es in der Erfindung von Kryptogrammen, in denen sich kindliche Spielergruppen gegeneinander abschotten, sei es im Erlernen von Stenographie oder der Axiome von Schnitzeljagden. Die Bemühungen von Reformpädagogen erreichen zumindest in den Schulfächern Musik, Sport und Kunst so gut wie jeden Schüler, indem sie ihm alternative Notate für musikalische Reproduktion oder für Gebrauchs- und Aktionsanweisungen vorführen oder gar zu erfinden auffordern – stets analog zu den Mustern, die in den Notaten von John Cage oder Karlheinz Stockhausen oder auf Instruktionen für die Nutzung von Trimm-Dich-Pfaden oder die Orientierung auf Flughafen oder im Straßenverkehr vorgegeben werden.

Mit dem Erwerb des Führerscheins, aber auch durch die Erfahrung als nicht-motorisierter Teilnehmer im Straßenverkehr wird jedem Zeitgenossen vermittelt, daß es sich bei der Entwicklung von Zeichensystemen – das wurde seit Ende der 1940er Jahre, also seit der Etablierung der Informatik zum übergeordneten Sammelbegriff – nicht nur um phantasievoll-spielerische Variationen handelt, sondern um die Durchsetzung von Allgemeinverbindlichkeit. Dafür steht die Handlungsanweisung für die Verkehrsteilnehmer durch die Verkehrszeichen. Zwei intellektuelle Herausforderungen gilt es dabei zu bewältigen. Zum einen muß anerkannt werden, was die Soziologen mit dem Begriff „Kontingenz“ beschreiben, nämlich daß ja alle Zeichensysteme, auch die des Verkehrs also, irgendwann aus beliebig vielen Möglichkeiten zusammengestellt wurden. Und daß sich trotz dieser Entstehungsgeschichte der Geltungsanspruch nicht beliebig verändern läßt.
Alle normativen Systeme sind irgendwann willkürlich justiert worden, aber trotz dieser Genese offenbar nicht mit gleicher Willkür änderbar.

Zum anderen muß verstanden werden, daß jedes Zeichen die Einheit von Unterschiedenem darstellt. Am bekanntesten ist die Unterscheidung von Abbild und Abgebildetem. Entgegen dem gesunden Menschenverstand lassen sich aber nur im Bild die Abbildung als das materielle Zeichengefüge und das Abgebildete als das Gemeinte unterscheiden: Nur im Zeichen läßt sich das Bezeichnende und das Bezeichnete unterscheiden. Das Verhältnis dieser drei Ebenen wird seit Ende der 1940er Jahre mit den Begriffen syntaktischer, semantischer und pragmatischer Zeichengebrauch kenntlich gemacht. Die Zuordnung der Ebenen unterscheidet man als indexikalisch, symbolisch und ikonisch. Der symbolische Zeichengebrauch basiert auf einer anderen Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem als der ikonische und der indexikalische. Im ikonischen Zeichengebrauch wird die Analogie zum Bezeichneten als Modell ausgebildet (Haupttypus Abbildung); im indexikalischen Zeichengebrauch wird die Analogie zum Bezeichneten als Verweisungszusammenhang entwickelt (Haupttypus lexikalische Indexierung); im Symbol ist die Analogie zwischen Zeichen und Bezeichnetem als generalisierende Abstraktion hergestellt (Haupttypus Kontextuierung). Eines ist allen leistungsfähigen Ansätzen gemeinsam, daß jede bestimmte Zeichenfiguration, jedes Gemälde, jeder Text stets auf allen unterschiedenen Ebenen bestimmt werden muß.

Mit bewundernswerter Ausdauer hat der Gesamtkünstler Penck diese unterschiedlichen Voraussetzungen für Anschlußfähigkeit als Qualitätsbeweis für Letztbegründungen erarbeitet. Manche halten das für überzogen und ermüdend. Aber die durch Standartisierung erheblich gesteigerten Kombinationsmöglichkeiten sind dem Interessierten ebensowenig ausschöpfbar wie das Mienenspiel, die Gestik und das Attitudenrepertoire eines Gegenüber, und sei er uns noch so vertraut. (Siehe „Penck zwischen Bildwissenschaft und Propaganda des Augenscheins“, Katalog Penck-Ausstellung, Versicherungskammer Bayern, Kunstfoyer, 2009)

Die Geburt des Absurden aus dem Geiste nackter Interessenkalküle

Wir dürfen keinesfalls den Eindruck erwecken, als wollten und konnten wir,aufgeklärt, wie wir uns geben, letzte Wahrheiten der prima philosophia-Denker, der Evolutionstheoretiker oder der Hüter des rechten Glaubens für unzeitgemäß erklären; etwa mit dem Hinweis, die Gesetzmäßigkeiten der Naturevolution seien nicht sehr erkenntnishaltig, wenn Evolution doch gerade den ewig offenen, unvorhersagbaren Wandel aller Gegebenheiten ermöglicht, zum Beispiel durch katastrophische Beliebigkeit der Überführung von bloßen Möglichkeiten in Wirklichkeit. Auch Hinweise auf den vermeintlichen Widersinn von Nietzsches Klagen über die Moralmasken bigotter Christen einerseits und seinem triumphalistischen Insistieren auf den Schein der Oberflächen andererseits lassen sich ihrerseits nicht mit der Kennzeichnung als nietzscheanische Schwachheiten abtun. Hirnforscher wie W. Penfield widerlegen sich in ihrer Forschungsverpflichtung nicht selbst, weil sie feststellen, „daß es immer schlechthin unmöglich sein wird, den Geist anhand neuronaler Tätigkeit des Gehirns zu erklären“. Es spricht nicht für Erleuchtetheit im Sinne von enlightenment, Penfield mit der Frage mattsetzen zu wollen, warum er nach dieser Erkenntnis überhaupt noch forschen wolle und dafür öffentliche Gelder in Anspruch nehme. Auf die Klärung derartiger Einwände haben M. R. Bennett und P. M. S. Hacker ihre Veröffentlichung „Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften“ systematisch angelegt.

Ganz im Gegenteil zu diesen vermeintlichen Erledigungen gedanklicher Herausforderungen stand und steht das Projekt der Aufklärung. Wenn irgendeine Leistung europäischer Arbeit an den Begriffen unabweisbar universale Geltung verdient, dann ist es die Einsicht, daß das Irrationale, das Kontrafaktische und das Absurde in keiner Weise als atavistische Verblendungszusammenhänge unserem Insistieren auf Rationalität, Faktizität und Kalkül entgegengesetzt werden können. Aufklärung beschreibt nicht den Triumph von Rationalität über das irrationale Gewaber, sondern erweist die Komplementarität von Rationalität und Irrationalität und entsprechend die Komplementarität von Faktizität und Kontrafaktizität, von Kalkül und Absurdität/Liebe. Das ist leicht zu verstehen, wenn Rationalität durch das Wissen um die Grenzen eines Begründungsanspruchs, die Grenzen des Wissens geprägt ist. Mit dem Ausweis solcher Grenzen als rationaler Operation wird auf das Jenseits der Grenze unabdingbar verwiesen. Darauf machte Hegel den Immanuel „Mit uns ist die Vernunft“ Kant aufmerksam. Die Grenze zwischen rational erkennbarer Diesseitigkeit und prinzipiell der Rationalität verschlossener Jenseitigkeit zu ziehen, sage leider gar nichts über die Orientierung auf das Jenseits der Grenzen. Etwas als irrational überständig zu erkennen, bedeute ja nicht, es unwirksam werden zu lassen, da müsse man das kantische schon durch andere Verfahren qualifizieren, was dann den Namen „transzendentale Dialektik“ erhielt.

Das gleiche gilt für das notorisch gewordene Insistieren auf „Fakten, Fakten, Fakten“, mit dem seriöser Journalismus von bloßer Meinungsmache unterschieden werden will. Wer auf Fakten insistiert, muß ja wissen, was das Nicht-Faktische oder Kontrafaktische sei, sonst wäre das Insistieren auf Fakten sinnlos. Gerade das Insistieren auf Fakten evoziert den Bezug auf das Kontrafaktische, das damit unablösbar von der Arbeit an den Fakten wird.

Wer schließlich als besorgter Papa seinem Töchterlein die Aufklärung zu schulden glaubt, daß Entscheidungen für einen Ehepartner an Kalküle gebunden sein müßten, wie man das zukünftige Leben entwerfen wolle mit Blick auf Grundkonstellationen wie Sicherung des notwendigen Einkommens, Verständigung über die gemeinsame Lebenssphäre, über Wohnungseinrichtung, Urlaubsplanung und schließlich Verantwortung für den Nachwuchs in allen Dimensionen des Handelns und Erleidens, wird sich der gespielt mitleidigen Antwort aussetzen: „Ach, Papa, daß wir uns um eure Interessenkalküle nicht kümmern, beweist doch gerade, daß wir uns lieben.“ Da haben Papas Argumente keine Chance.

Seit Tertullians Bestimmung der Vernunft des Glaubens in credo quia absurdum (ich glaube, was gerade durch rationale Argumentation nicht widerlegbar ist) geht es nicht mehr um die Abscheidung von Glauben und Vernunft, sondern um die Erkenntnis: Ich glaube, weil Glaube per Definition unwiderlegbar ist; ich weiß, daß ich glauben muß, weil Wissen gerade um seine Begrenztheit weiß und damit das Jenseits der Grenzen eröffnet; also kann ich vernünftig mit dem Jenseits der Vernunft, der Kalküle und der Fakten umgehen. Aufklärung meinte und meint also nicht die hochmütige Entmachtung von Glauben, Unvernunft und haltloser Meinung, sondern ermöglicht durch Insistieren auf Rationalität, Faktizität und Kalkül eine sinnvolle Orientierung auf das Irrationale, Kontrafaktische und Absurde. Diese Bestimmungsleistung der Aufklärung gilt es, für die heutige Debatte um das Verhältnis von Glauben und Wissen, von Staat und Kirche, von säkularer und religiöser Verfaßtheit zu berücksichtigen, womit sich endlich auch ein politisch und sozial angemessenes Verständnis von Säkularisierung vorgeben ließe.

Kraft durch Leiden
MARTYRIUM ALS ULTIMATIVE RECHTFERTIGUNG
GOLGATHA – NÜRNBERG – VERSAILLES – MOSKAU

Die wahrscheinlich wirkmächtigste Orientierung auf Letztbegründung demonstrieren Märtyrer. Alle Mitglieder einer Überlebenskampfgemeinschaft genannt Kultur folgen der Psychologie des Märtyrertums. Zum einen gilt, daß die eigene kulturell-religiöse Überzeugung umso bedeutender sein muß, je mehr Anstrengung darauf verwendet wird, sie zu bekämpfen oder zu verleugnen oder zu korrumpieren (viel Feind, viel Ehr’, weiß jedermann). Zum anderen nimmt der Märtyrer an, daß seine Kraft zum Leiden eine Bestätigung für seine besondere Rolle bei der Durchsetzung des eigenen kulturell-religiösen Begründungsanspruchs ist. Wer sein Leben für seine Sache einsetzt, muß doch wohl unbezweifelbare Rechtfertigungsgründe haben. Je stärker man zu leiden gezwungen ist (freiwillige Aufgabe aller Lebenserleichterungen beziehungsweise Verurteilung zu Folter und Gefangenschaft) und dieses Leiden erträgt, desto größer die Bestätigung der individuellen wie der kulturell-religiösen Auserwähltheit. (Siehe Beitrag Manfred Schlapp in dieser Edition)

In besonderer Weise ist durch das Beispiel von Jesus das Leiden als Beweis der Erfüllung des höheren Willens demonstriert worden. Wer ihm nachfolgte, wurde zum Märtyrer, zum Zeugen (griech. martys) als Bekenner. In der europäischen Geschichte sind drei Menschen unter den Millionen Männern und Frauen in der ausdrücklichen Nachfolge Christi hervorzuheben (mit dem Originalbegriff imitatio wird heute wohl eher ein look-alike-by-suffering-like-Christ-Verständnis verbunden): Dürer, Ludwig XIV. und Jagoda, also ein Künstler, ein König und ein Kerkermeister.

Dürer verfertigte von sich ein Porträt in der Anmutung von Jesus-Darstellungen; eine Anmaßung, so schien es den einen, die Eröffnung eines völlig neuen Künstlerverständnisses, glaubten die anderen. Denn Dürer zielte auf die übergeordnete Frage, ob ein Künstler selber gelitten haben muß, um authentisch oder mindestens eindrucksvoll das Leiden Christi oder generell das Leiden der Menschen darstellen zu können. Lag die Wirkungskraft der Bilder in den Fähigkeiten und Erfahrungen derer, die sie schufen, oder genügte es, „akadämlich“ Formen und Farben zu manipulieren, nach Ausdrucksschemata, die keines Rückbezugs auf den Künstler bedürfen? Dürer wie zeitgleich Luther schieden mit Verweis auf Christus Werk und Wirkung. Jesus hatte keine Werke geschaffen und doch eine ungeheuere Wirkung erzielt. Sollte das nicht Künstlern zu denken geben, zumal Luther verkündete, daß man nicht durch noch so prächtiges Werkschaffen der Gnade Gottes teilhaftig werden könne (heute heißt das, in die Hall of Fame einzuziehen), sondern ausschließlich durch den Glauben, also durch eine Haltung, durch Grundsätze und kulturell-religiöse Standfestigkeit? Luther und Dürer vertreten bereits die Position des Konzeptkünstlers, obwohl es in ihrer Zeit noch um eine Balance zwischen maniera und concetto einerseits und den Materialien der Realisierung von Werken andererseits ging. Dürers Nachfolger betrieben dann die imitatio düreri und nicht mehr die Christi.

Ludwig XIV., König von Frankreich, entfaltete sein Weltmodell zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Etablierung des „Zeitalters der Vernunft“. War es Echnaton rund tausendfünfhundert Jahre vor Christus bestenfalls indirekt gelungen, die Sonne als Begründerin und Erhalterin allen Lebens auf Erden zu etablieren und damit als höchste Gottheit zu verehren, so gelang das Ludwig XIV. tausendsiebenhundert Jahre nach Christus, indem er sich selbst, sein Königreich und seine Macht zu Repräsentanten der Sonne erhob. Um den Sonnenkönig drehte sich das tägliche Leben in all seinen Ausprägungen, wie die Himmelskörper sich um die Sonne drehen. Diese Konstellationen haben absolute Gültigkeit, weswegen sich diesem Absolutismus alle europäischen Fürsten, auch wenn sie nur kleinste Territorien regierten, einzufügen suchten.

In Versailles, dem Mittelpunkt des Ludwig’schen Weltmodells, glänzten sogar die Gitter des Schloßhofes noch gülden. Den Kern dieses absolutistischen Sonnensystems bildete die Tatsache, daß Ludwig XIV. seinen Anspruch wie Christus durch Leiden rechtfertigte; Christus dürfte alles in allem sechs Stunden schwer gelitten haben, vor allem durch Geißelung, Schmähung, Folter. Ludwig XIV. hingegen ertrug dreißig Jahre lang ein Leiden, das Christus würdig gewesen wäre. Die Ärzte schnitten ihm erst eine Fistel aus dem After, wobei sie den Dickdarm verletzten. Die Folge war eine riesige eiternde Wunde, die jeden Stuhlgang zu einer horriblen Erfahrung machte. Beim prophylaktischen Ziehen aller Zähne brachen die Ärzte Teile des Kiefers heraus. Aus der unstillbaren Wunde stank er so entsetzlich, daß vier Meter Distanz vom König eingehalten werden mußten, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Die Christus-Analogie zielt für Ludwig XIV. weiter als für jeden anderen Menschen in der imitatio Christi, denn Ludwig genoß göttlichen Rang als König im System des Absolutismus. Man kann mit vielen Ärzten und Medizinhistorikern gut begründet annehmen, daß die Passion des Sonnenkönigs die bis dato in der Menschheitsgeschichte zweifellos größte Leidensbiographie eines Prätendenten auf Außerordentlichkeit ist.

In einer Hinsicht kann aber unser dritter Akteur in der imitatio Christi nach Dürer und Ludwig es mit beiden aufnehmen und zwar im Hinblick auf die Beweiskraft seines Beispiels. Er hieß Genrich Grigorjewitsch Jagoda, ein kleines, bis 1937 Stalin blind ergebenes Männchen, ein „Alberich“ der sozialistischen Unterwelt, der als Chef des NKWD, später KGB, im Reiche des GULag so mächtig war wie Dürer im Reich der Kunst und Ludwig im Sonnenstaat. Auf Jagodas Fingerschnipsen hin wurden über achtzigtausend Menschen verhaftet, in die Moskauer Lubljanka verfrachtet, um in den Folterkammern im Durchschnitt neun Monate lang zu leiden und für ihre Aussagen in den Moskauer Prozessen zugerichtet zu werden. Auf dem Weg ins anonyme Grab durften sich die geschundenen Inhaftierten noch einmal umdrehen, um vor Oberrichter Ulrich und Oberstaatsanwalt Wyschinski ein letztes Wort abzugeben. Jagoda – von Haus aus Apotheker, Giftmischer, politkrimineller Karrierist – konnte sich auf Grund eines zufälligen Verdachtsmoments oder aus einer bloßen Laune heraus zur schicksalsmächtigen Gewalt über so gut wie jedermann in seinem Herrschaftsbereich aufschwingen. Erst recht folgte er jedem kleinsten Anzeichen, daß Stalin über Menschen ein Urteil gesprochen haben wollte.

Nachdem Jagoda mehr oder minder eigenhändig abertausende Individuen umgebracht hatte, rief ihn Stalin im Frühjahr 1937 zu sich: „Jagoda, es ist großartig, was du, im Namen des Aufbaus des universalen Sozialismus, geleistet hast. Du hast die Feinde Lenins bekämpft. Du hast die Trotzkisten, Kamenjew, Bucharin und die Sinowjewisten vernichtet. Das alles ist ungemein lobenswert. Ich bin allerdings verpflichtet, als derjenige, der für diese Entwicklung die Verantwortung trägt, zu überprüfen, ob das auch alles seine Richtigkeit hat, was, und vor allem, wie du das vollziehst. Deswegen mußt du dich selbst nunmehr den Methoden unterwerfen, die du gegen andere angewendet hast. Denn du weißt ja sicherlich, daß die einzig logische Begründung von Ethik ist: Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu. Lieber Jagoda, vom heutigen Tag an wirst du also elf Monate Folter auf dich nehmen. Hier ist dein Nachfolger Nikolai Jeschow, – ihr seht euch sehr ähnlich. Den nenne ich nicht Zwerg wie dich, sondern Brombeere, weil er so viele Narben und eine so komische Haut hat. Aber er ist ebenfalls nur ein Hänfling von knapp 1,60 m und hat sich schon seine Sporen in der Verfolgung der Mörder von Kirow in Leningrad verdient. Also, du bist verhaftet und wirst nun im Selbstbezüglichkeitsverfahren überprüft. Es dürfte dir ja bekannt sein, daß wir die Speerspitze des Avantgardismus bilden, d.h. wir sind in dem Maße Vertreter der Moderne, wie wir die angewendeten Verfahren auf uns selbst beziehen. In deinem Falle besteht die Prüfmethode darin, den Folterer der Folter zu unterwerfen.“ (Zur Selbstbezüglichkeitsmethode in der Moderne, Richard Wagners Konzept „Erlösung dem Erlöser“, Lenins „Erziehung der Erzieher“ und Heideggers „Führung des Führers“, siehe Kapitel „Selbstfesselungskünstler gegen Selbstverwirklichungsboheme“, in: Brock, Bazon, 2008.)

Daraufhin wurde „das Genie der Folterkunst“ (R. Payne) bearbeitet, bis er nur noch aus Haut und Knochen bestand und kaum mehr atmen konnte. Nach elf Monaten wurde er im März 1938 vor den obersten Richter Ulrich und den Generalstaatsanwalt Wyschinski geführt. Sie gestanden dem zitternden und in Schmerzenskrämpfen sich nicht mehr selbständig auf den Beinen haltenden Jagoda, der kaum mehr sprechen konnte, ein Schlußwort als letzte Chance zur Erklärung seines Einverständnisses mit dem Verfahren zu. Jagoda sagte: „Für das, was ich für den Aufbau des universalen Sozialismus getan habe, hätte ich vom Genossen Stalin nichts als Ruhm und Ehre verdient. Man hätte mir wegen meiner Verdienste um den Sieg des Sozialismus und der Bekämpfung seiner Feinde Dankbarkeit erweisen und mir ein großartiges Leben bis zu meinem Ende gestatten müssen. Allerdings muß ich gestehen, daß ich für die Methoden, die ich dabei angewendet habe, von Gott die schlimmsten und grausamsten Foltern verdient habe, die man sich nur denken kann. Jetzt sehen Sie mich an, verehrte Genossen, und urteilen Sie selbst: Gott oder Stalin?“

Insofern Jagoda selbst der lebendige Beweis für die Foltern war, die er von Gott verdient hatte, hat er den Jagoda’schen Gottesbeweis erbracht. Dürer – Ludwig XIV. – Jagoda, das ist eine einzigartige Beweiskette von gesamteuropäischer Dimension. („So fügt sich eines zum anderen: Der wirkliche Wert, die Aufgabe und der Lebenssinn des Menschen, wie alle sein Kulturleistungen, bestehen darin, daß er sich im Dienste herrscherlicher und geheiligter Institutionen opfert, sich ‚konsumieren’ läßt. Jede Ablösung von den Institutionen setzt die libertären, egalitären und humanitären Tendenzen in Gang, die unaufhaltsam der Entartung und dem Verfall, dem Untergang der Kultur zutreiben. [...] Und Rettung bietet nur noch eine die Zerstörung zerstörende Gewalt. Punkt um Punkt zeigt sich damit Gehlens Theorie als Bestätigung jener Entscheidungs- und Entschlossenheits-Ideologie der zwanziger Jahre, die wir in Beispielen dargestellt haben – auch oder gerade in der Form, die sie in Hitlers ‚Mein Kampf’ annimmt. Es liegt wenig an Etikettierungen, aber wenn man in diesem Zusammenhang vom Faschismus spricht, dann hat Arnold Gehlen in seinem Werk eine, nein: die faschistische Theorie entworfen und vollendet, auf dem allerhöchsten Reflexionsniveau, das sie überhaupt zu erreichen vermag. Ihr Verdienst ist es, daß sie aus der conditio humana, aus den Bedingungen des Menschseins, Möglichkeiten des Unmenschlichen, die Antriebe zur Vernichtung der europäischen Vernunft erklärbar macht. Der Wahn aber, dem sie zugleich verfällt, hat mit einer historischen Verblendung zu tun: Die Chance zu freiheitlichen Institutionen, wie sie in westlichen Demokratien entstanden, bleibt völlig außer Betracht. Damit enthüllt sich diese Theorie als eine Sonderform der Ideologie, die das deutsche Drama gleichsam nachinszeniert.“ Krockow, Christian Graf: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert. 1890–1990. Frankfurt am Main 1990, S. 340.)

So folgenreich auch diese Beispielgeber zur imitatio Christi gewesen sind, so werden sie doch übertroffen von den unzähligen Mitgliedern der Gottsucherbanden. Heutigentags sind das vor allem junge Männer, die unter dem Druck des Testosterons und in dem Verlangen danach, daß Blut fließen möge, sich zu Märtyrerkampfverbänden zusammenschließen. Sie sind, wie der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn meint, nicht mehr in die Sozialsysteme ihrer Geburtsländer integrierbare Überschüssige, das heißt Beispiele für rücksichtslose Machtpolitik mit lebenden Waffen aus der staatlich geförderten, weil gewollten Erzeugung von Überbevölkerung. Niemand wird sich freiwillig als überflüssig akzeptieren wollen. Der Zusammenschluß zu Gottsucherbanden ermöglicht es diesen Machtmassen, den Spieß umzudrehen und sich zum Träger einer gottgewollten Neuordnung aller Verhältnisse zu erklären. Deus vult, Gott will es, lautete immer schon die Parole für derartige Umwälzungen; das Niedrigste wird zum Höchsten, die Herren der alten Welt stürzen in den Staub.

Wer da nicht mitmacht, wird zum ungläubigen Beleidiger des göttlichen Willens und damit zu Ungeziefer, das man zu vernichten hat. Den Beweis für das, was Gott will, liefert eine genaue, verbindliche Lesart der Texte, für die niemand wagen wird, einen anderen Autoren als Gott zu benennen. Die Bandenstruktur ist bewährt als effektivste Gruppenbildung überhaupt, weil sie durch strikte Exklusivität für Außenstehende entweder so furchterregend oder so vorbildlich erscheint. Die Mafia oder die hooligans oder die auf ethnische, sprachliche, religiöse Homogenität getrimmten Kulturen aller Regionen der Welt sind dafür bestes Beispiel. Zur Bewahrung derartiger kultureller Strukturen darf jeder so gut wie jedes Mittel anwenden, sei er nun europäisches ETA-Mitglied oder afrikanischer Hutu oder südindischer Tamil-Tiger oder Bewohner Osttimors oder des Balkans.

Von allen Seiten wird Separatismus als Ausprägung kultureller Identität zum Grundrecht schlechthin erhoben. Wer es einfordert, darf mit reichlicher Belohnung rechnen, denn das lohnt sich gerade für diejenigen Geldgeber des blühenden Kulturwahnsinns, die den Globalismus befördern wollen, um jeglicher Reglementierung für ihr Tun und Lassen zu entgehen. Wenn man die Weltbevölkerung in lauter kleinste Kulturgemeinschaften zerlegt, hat man jedenfalls nicht damit zu rechnen, daß die Verlierer der Globalisierung sich zu unübersehbarem Widerstand zusammenrotten könnten.

siehe auch: