Die Berufung zum Bürger
Eine Zusammenfassung für Eiligste
Die unerträglichsten Zumutungen des Lebens sind nicht Arbeitslosigkeit, Unsicherheit wirtschaftlicher Entwicklung, Angst um den Wert der Ersparnisse oder andere Formen von „galoppierendem Zukunftsschwund“ (Franz Vonessen); vielmehr bedroht der Verlust von Möglichkeiten der Selbstwürdigung, Selbstachtung und Selbstverpflichtung unseren Lebensmut. Natürlich tragen die genannten Zumutungen zu den Erschütterungen des Selbstwertgefühls der Individuen in erheblichem Maße bei. Aber im Zentrum der autoaggressiven Kräfte steht offenbar die Erfahrung, dass selbst bei aller Charakterstärke und stoischem Gleichmut der Individuen jegliche Selbstwürdigung nur erreicht werden kann, wenn ihr eine entsprechende Fremdwürdigung zugrunde liegt. Implizit besagt die grundgesetzlich angemahnte Unantastbarkeit der Würde des Menschen, dass Würde nur durch Würdigung ausgebildet werden kann. An eben dieser Würdigung durch andere und der anderen fehlt es jenen, die das Schwinden ihrer Zukunftsgewissheit und den Verlust von Planungssicherheit der eigenen Biografie wie eine erzwungene Selbstaufgabe empfinden.
Schärfster Ausdruck des Verlusts von Würde durch Entzug der Würdigung ist die Deklassierung der arbeitenden Individuen zu „Jobbern“. Nichts kennzeichnete das bürgerliche Selbstverständnis derart wie die berufliche Tätigkeit. In ihr verkörperte sich die Berufung zum Bürger durch die Anerkennung von Arbeitsleistungen jedes Einzelnen für den Bestand der Gesellschaft. Solche verbindliche Perspektive wird allen entzogen, deren Tätigkeit man als „Jobben“ verhöhnt. Der Begriff zielt bis heute auf die beliebige, also bedingungslose Verfügbarkeit des Kenntnis- und Erfahrungslosen, des unausgebildeten Handlangers, den man heuert und feuert, wie es gerade opportun ist. Der übliche Verweis auf die englischsprachige Aura des Begriffs „Job“ mindert nicht den Grad der Disqualifizierung von „Jobbern“. Denn selbst für würdelos Babyenglisch stammelnde Professoren und für international erfahrene Touristen bleibt die Differenz von „profession“ als Beruf und „jobbing“ als bloßem Absolvieren von Tätigkeiten unübersehbar – auch dann, wenn ihr sprachliches Vermögen nicht ausreicht, um die interessanten Facetten von „jobbing“ und vom „jobber“ als Börsenmakler, Gelegenheitsarbeiter bis hin zum Schieber als jemandem, der seine Stellung missbraucht, erfasst zu haben.
Alles Bemühen um heutige Bürgerbildung will den Widerstand gegen derartigen Würdeverlust stärken. Wenn selbst Universitätsprofessoren nur noch um ihr Image und ihren Marktwert besorgt sind und nicht mehr einer Berufung folgen, wenn sogar Ärzte von Jobangeboten und nicht mehr von leidenschaftlicher Hingabe im Dienst an Kranken schwärmen, dann wird allenthalben die Einheit von Beruf und Berufung zugunsten vermeintlicher Modernisierung der sozialen Strukturen freiwillig aufgekündigt.
Dagegen wollen wir die Berufung zum Bürger setzen, der weiß, wie er durch Anerkennung der Mitbürger die Voraussetzung seiner Selbstwürdigung schaffen kann. Ni dieu, ni maître – weder Gott noch Herren, weder Richter noch Unternehmer, weder Politiker noch Kirchenoberhäupter, weder Professoren noch Künstler werden in Zukunft Würdigung als Wahrung der Würde von Menschen garantieren, wenn nicht die Individuen sich aus der Kraft wechselseitiger Anerkennung zu Bürgern entfalten wollen.
Professionalisierung der Betrachter, Zuschauer und Hörer
Den Beginn solcher Bürgerbildung beschreibt man als die Entstehung der Öffentlichkeit Anfang des 18. Jahrhunderts. Eine Vorstufe dieser Entwicklung war Luthers Lehre von der unmittelbaren Hinwendung des einzelnen Gläubigen zu Gott, die durch das Lesen seiner Bibelübersetzung ins Deutsche erst möglich wurde. Die höchste Ausprägung erreicht die Selbstwürdigung des Bürgers dann in seiner Rolle als Adressat der Künstler und Wissenschaftler – abgesehen von seiner abstrakten Autorität als Gesetzgeber (denn alle gesetzgeberische und richterliche Autorität geht ja vom Volke aus, also von der Bürgerversammlung).
Seit man nicht mehr zur Ehre Gottes oder eines Herrn arbeitet, sondern für ein Publikum, ist die Sinnhaftigkeit künstlerischer Tätigkeit ausschließlich durch das Betrachten wie beim Museumsbesuch, durch das Zuschauen wie etwa im Theater oder durch konzentriertes Hören wie im Konzertsaal garantiert. Denn jeder Künstler arbeitet, damit sein Werkschaffen in aller Öffentlichkeit wahrgenommen und gewürdigt wird.
Um etwas würdigen zu können, bedarf man als Betrachter der Befähigung und der Kenntnisse. Niemand, der seine Rolle als Rezipient ernst nimmt, kann glauben, in wenigen Minuten Blickkontakt, in einer einzigen Theateraufführung und selbst beim bemühtesten, aber nur stundenweisen Lesen vielschichtiger Texte den Anforderungen der Werke gewachsen zu sein.
Wo lernen wir als Publikum, dem Komponistenwerk, der Skulptur, dem Gemälde oder dem Epos gerecht zu werden? Längst ist es an der Zeit, das Publikum genauso zu professionalisieren, wie wir das bisher an den Lehrstätten aller Sparten den Künstlern abverlangten!
Wir bilden Künstler aus in ehrenwerten Meisterwerkstätten, Akademien und Hochschulen. Sie lernen, studieren und arbeiten jahrelang, bevor sie an die Öffentlichkeit treten. Michelangelo quälte sich Jahrzehnte mit dem Auftrag zur Grabgestaltung für Papst Julius II., James Joyce schrieb zehn Jahre lang an seinem Roman „Ulysses“, Richard Wagner realisierte sein staunenswertes Werkkonzept systematisch und nach Plan zwischen 1849 und 1882 – 33 Jahre konsequenter Anstrengung!
Gegen manchen Anschein arbeiten auch die Künstler der Moderne mit ausgeklügelten Verfahren und nach raffinierten Konzepten jahrelang an ihren, wie man sagt, höchst anspruchsvollen Werken.
Das ist der Maßstab auch für Rezipienten: Mindestens 33 Jahre durchgehendes Theater-/Konzertabonnement, Mitgliedschaft im Museumsverein oder Aufbau einer eigenen Sammlung lesenswerter Bücher sind nötig, ehe man seinem eigenen Urteil trauen kann. Das ist wesentliche Kennzeichnung der Bürgerbiografie.
Wo Künstler Lehrjahre absolvieren, Diplome und Staatsexamen ablegen, haben die Zuschauer, die Zuhörer, die Betrachter ihrer Werke wohl ähnliche Fähigkeiten auszubilden. Immer noch gibt es an Hochschulen der Künste keine Klassen für Rezeption. Überall soll nur gelernt werden, wie man malt, schreibt und komponiert; um die Befähigung der Adressaten kümmert sich kaum jemand. Da aber, wie die Soziologen sagen, das Bürgertum immer seltener als gesellschaftliches Faktum in Erscheinung tritt, kann man sich auch nicht mehr auf ein verständiges Publikum beziehen. Sind nicht inzwischen alle Werkschaffenden verpflichtet, sich ihr eigenes Publikum heranzubilden?
Wenige Zeitgenossen hatten bisher die Chance, zu Profi-Rezipienten zu werden, weil es nur vereinzelt Besucherschulen und Bürgerschulen gab, wie wir sie in den 60er Jahren entwickelten und für diverse Institutionen, darunter die documenta-Ausstellungen zwischen 1968 und 1992, angeboten haben.
Für die Begründung der Besucherschulen kann man sich auf eine simple, aber in ihrer Konsequenz anspruchsvolle Überlegung stützen: Wer eine Ausstellung besucht, kann die Leistung der Ausstellungsmacher nur beurteilen, wenn er weiß, welche Wahlmöglichkeiten die Kuratoren überhaupt hatten. Jede Ausstellung müsste dem zu Folge in zweierlei Gestalt geboten werden:
Zum einen als Auswahl des zu Zeigenden, zum anderen als Bestand des nicht zu Zeigenden, aus dem aber ausgewählt wurde. Leider kann sich kein Veranstalter auf die logische Notwendigkeit, zu zeigen, was nicht gezeigt werden soll, finanziell und räumlich einlassen. Auch bleibt vielen unverständlich, worin der Unterschied zwischen dem Zeigen des nicht zu Zeigenden und dem Zeigen des tatsächlich Gezeigten bestünde. Die Auflösung dieses Rätsels könnte man kostengünstig an die Besucherschulen delegieren. In ihnen wird, wenigstens mit bildlichen Hilfsmitteln, vergegenwärtigt, was den Kuratoren explizit nicht zeigenswürdig erschien.
Der Leiter der Besucherschule gibt als kundiger Zeitgenosse ein Beispiel dafür, wie man mit den angedeuteten Schwierigkeiten umzugehen vermag. Er ist kein Vorbild, sondern ein Beispielgeber. Wir alle lernen vorrangig am Beispiel. Die Methode des Lernens ist „üben, üben, üben“, wie uns Peter Sloterdijk so nachdrücklich in Erinnerung gerufen hat. Zu üben heißt nachzuahmen, bis man selber für andere zum eigenständigen Beispielgeber wird – etwa für die Bearbeitung der Frage, wie Gesellschaften vom Künstler als Autorität durch dessen Autorschaft profitieren. Was besagt das Prinzip der Individualisierung und Autonomiebehauptung der Künstler für die Nicht-Künstler, die sich aber nach deren Beispiel verwirklichen wollen? Wie entwickelt man einen Biografieentwurf fürs eigene Leben und Werken? Wie befreit man sich aus der zerstörerischen, aber offensichtlich verführerischen Rolle, ein bloßes Opfer der Wirtschaft, der Politik, des Zeitgeistes zu sein? In welchem Verhältnis stehen die Künste zur Politik, zur Ökonomie und zum geltenden Recht?
Von der Besucherschule zur Bürgerschule
Mit den Antworten auf obige Fragen erweitern wir die Besucherschule zur Bürgerschule. Im Rezipienten- und Konsumententraining, in den Patientenkursen, in den Saulus-Übungen der Kritikfähigkeit lernt der Bürger, sich als Kunde, Gläubiger, Wähler, Rezipient und Patient zu behaupten.
Wer heute nicht kranker und gekränkter aus dem Krankenhaus entlassen werden will, als er hineingegangen ist, muss schon Erhebliches über unser Gesundheitssystem gelernt haben. Ohne die aktive Mitarbeit der Patienten werden die andauernden Versuche, das Gesundheitssystem zu reformieren, aussichtslos bleiben. Wenn die Bürger nicht lernen, therapietreue Patienten zu sein, werden weiterhin alljährlich Milliarden Euro in die Kanalisation gespült. Die Patienten kaufen zwar pflichtbewusst die verordneten Medikamente, entlasten sich aber vom Konflikt, in den sie durch die Mitteilung über höchst unwillkommene Nebenwirkungen der Präparate getrieben werden, durch Wegwerfen; denn die Beipackzettel listen für jedes Medikament mindestens zehnmal so viele Risiken wie erwünschte Wirkungen auf.
Unsere Ausbildungsangebote wollen den Kursteilnehmern zeigen, wie man auf professionelle Weise mit derartigen Widersprüchen umgehen kann. Viele solcher Widersprüche scheinen nur ärgerlich und störend zu sein. Dennoch empören wir uns in unserer Verpflichtung auf Rationalität, wenn wir auf Flughäfen mit der vermeintlichen Auskunft abgespeist werden: „Der Grund für die Verspätung Ihres Fluges ist die verspätete Ankunft des Flugzeugs.“ Wenn diese Auskunft nicht ausschließlich die Missachtung von Kunden belegt oder die Dummheit des Bodenpersonals, sondern mangelnde Intelligenz eines technischen Systems und seiner Manager beweist, wird es lebensbedrohlich.
Weitere Beispiele: Mehr und mehr Netzteilnehmern wird bewusst, dass sie ihre technikbegeisterte Vertrauensseligkeit teuer zu stehen kommen kann. Also gilt für alle Nutzer der weltweiten Informationsvernetzung größte Vorsicht, damit wir uns nicht ausliefern und zu Gefangenen unserer eigenen Naivität werden. Für unzählige Menschen ist das World Wide Web ein neues Kontrollsystem, das ebenso bedrohlich sein kann wie eine Geheimpolizei, eine Zensurbehörde oder ein Propagandaministerium. Man muss also lernen, sich rechtzeitig gegen vermeintliche Freiheitsverlockungen zu schützen wie gegen alle Formen von Fundamentalismus und Totalitarismus. Wer sich Heilspredigern Sinn suchend anschließt, muss wissen, wie man sich dem Psychoterror von Sekten oder Fundamentalisten entziehen kann.
Eine der größten Behauptungen von Wohltaten, mit denen uns die Marktwirtschaft lockt, heißt: Der Kunde ist König. Wer vor Paketversand- oder Fahrkartenautomaten nicht nach stundenlangem vergeblichen Probieren irre werden möchte und sich nicht als Kunde zum Knecht der Warenanbieter degradieren lassen will, sollte einsehen, dass der angebliche König Kunde den Unternehmen allein in Deutschland jährlich hunderte Millionen zusätzlichen Gewinn dadurch verschafft, dass er gezwungen ist, alle Serviceleistung selber unentgeltlich zu erbringen. Alles fauler Zauber?
Beispielgeber im Beispiellosen
In diesem Zusammenhang drei kurze Verweise auf unsere Angebote, allfällige Probleme zu bemeistern:
- Wie lässt sich der Freiheitsanspruch von Künstlern und Wissenschaftlern gewähren und aufrechterhalten?
- Wozu schreiben, wenn keiner mehr liest oder wozu arbeiten, wenn beten reicht?
- Wieso werden wir immer dümmer durch immer großartigere Anhäufung von Wissen?
Man muss sich klarmachen, dass alle Hochkulturen aller Zeiten und Weltgegenden sehr gut ohne die Ausdifferenzierung von künstlerischem und wissenschaftlichem Arbeiten aus den allgemeinen kulturverpflichteten Tätigkeiten auskamen. Erst im 14. Jahrhundert entwickelten sich ausschließlich im europäischen Kulturraum Haltungen und Einstellungen, Tätigkeitsformen und Legitimationsstrategien, die wir heute als selbstverständlich für Künstler und Wissenschaftler voraussetzen. Im Kern heißt das, Künstler und Wissenschaftler erkennen keine anderen Autoritäten an als die von Autoren. Das war ein geradezu aberwitziges Programm, denn wieso sollte jemand Autorität beanspruchen können, hinter dem kein Volk, kein Heer, keine Marktmacht, kein Fürst, keine Gemeindevertretung, kein Clanchef standen, in deren Namen Autoritätsanspruch erhoben werden konnte? Autorität durch Autorschaft wurde möglich, als man lernte, Aussagen durch deren Formulierung und Darstellung so interessant werden zu lassen, dass man diese Aussagen auch ohne den Druck von außen oder oben begierig annahm. So lernten die Künstler, die Wissenschaftler und ihr Publikum, sich auf die „Sachen selbst“ einzulassen, Wahrheitsansprüche durch Kritik an der Wahrheitsbehauptung zu begründen oder mit Hypothesen zu arbeiten, deren Sinn gerade darin besteht, widerlegt zu werden. Daraus resultierte die Fragwürdigkeit von Schöpfung und Forschung. Nicht mehr der Zensor, Priester oder Meister kaprizierte sich auf die Frage, was als legitim gelten könne, sondern die Künstler und Wissenschaftler selber untersuchten die Bedingungen der Möglichkeiten für Kunst und Wissenschaft als autonome Disziplinen außerhalb der Kontrolle durch die Repräsentanten von Kulturen und Religionen.
Heute droht die Wiederkehr des Führungsanspruchs der Kultur- und Religionsgemeinschaften und damit die Unterwerfung von Künsten und Wissenschaften unter fremde Interessen, seien es die des Marktes oder der Politik, die über die Finanzierung der Universitäten, Museen, Archive, Theater entscheiden. Fundamentalistische Zerstörungswut gegenüber den genannten Institutionen üben nicht nur religiöse Fanatiker aller Couleur, sondern in viel höherem Maße Marktstrategen, Investmentbanker oder Entscheider über Drittmittel.
Unser zweites Beispiel für die Orientierung in der Bürger- und Besucherschule geht von der des Merkens würdigen Tatsache aus, dass durch die medial ermöglichte Verfügung über Kenntnisse und Wissen eine der entscheidenden Kulturtechniken, nämlich das Lesen in individueller Hinwendung auf einen Text mitsamt der Konzentrationsübung und der Selbstermächtigung zum produktiven Alleinsein, verloren zu gehen droht. In herkömmlichen Begriffen lässt sich das als Rückkehr des Analphabetismus deuten. Wir wären damit fast in der gleichen Situation wie die Gelehrten und Kunstfertigen zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert. Die wenigen Literati schlossen sich zu Gesellschaften, meist Akademien genannt, zusammen, um sich wechselseitig zu garantieren, dass gelesen werde, was geschrieben wird und dass bei gleicher Sachkunde von Schreibern und Lesern der fruchtbare Disput zwischen ihnen als Motor für den Fortschritt genutzt werden kann.
Heute heißt Fortschritt die immer umfassendere Vergegenwärtigung der geschichtlich gewordenen Auseinandersetzungen. Diejenige Gesellschaft ist die fortschrittlichste, der es gelingt, den größten Teil ihrer eigenen Geschichte und ihrer Weltbemächtigung in Museen gegenwärtig zu halten. In diesem Sinne ist die Bürgerschule als Weiterentwicklung des historischen Modells der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ gedacht: als empathische Vertragsgemeinschaft auf der Basis von einforderbarer Reziprozität in den Beziehungen der Produzenten zu den Rezipienten. Der Begriff Diskursgemeinschaft schreckt durch seine modische Überstrapazierung ab; nichtsdestoweniger trifft er die Sache, um die es uns generell geht: Das Leben/Überleben in den Megalopolen der globalisierten Welt führt unmissverständlich zu dem Schluss, dass wir entweder in die Behauptung kultureller Identitäten – und damit in permanente Bürgerkriege – hineingezwungen werden oder als zivilisierte, transkulturell orientierte Zeitgenossen eine neue Ebene der Gemeinsamkeit von auf engstem Raum zusammenlebenden Menschen finden müssen. Das ist die entscheidende Aufgabe der Bürgerschule. Wenn der Zwang zur Loyalität gegenüber homogenen Sprach-, Glaubens- und Herkunftskulturen vor allem Bekenntnisekel hervorruft oder zum absehbaren Verlust der Freiheit führt, bleibt nur, den Mangel an herkömmlicher Gemeinsamkeit gemeinschaftstiftend zu nutzen. Wie das?
Wir nennen den Mangel an Verbindlichkeit ein Problem. Alle, die sich diesem Problem ausgesetzt fühlen, haben damit eine gemeinsame Basis gefunden. Probleme sind dann interessant und wichtig, wenn sie nicht mit ein paar Handgriffen, Vorschriften oder Askeseübungen aus der Welt geschafft werden können. Jeder Versuch der Problemlösung führt bekanntlich zu neuen Problemen; das heißt, Probleme werden prinzipiell nicht gelöst, sondern bemeistert oder auf Deutsch: gemanagt. Alle diejenigen, die psychisch stabil genug sind, sich solchen prinzipiell unlösbaren Problemen zu stellen, bilden die neue Gemeinschaft der Menschen. Das gegenwärtige Paradebeispiel für ein Problem, das alle Kulturgrenzen überschreitet, also global wirksam wird, ist die Ökologie.
Das dritte Beispiel geht von der Tatsache aus, dass wir nur durch spezialisierte Hochleistung einen brauchbaren Beitrag zur Entfaltung gesellschaftlicher Lebensprozesse gewährleisten können. Wer aber 16 Stunden pro Tag seine Spezialkenntnisse voranzubringen hat, kann unmöglich in den zahllosen Entscheidungsfeldern des gesellschaftlichen Lebens auf seine Kompetenz als Kenner der zu entscheidenden Sachverhalte Anspruch erheben. Aufs Ganze gesehen, sind also gerade die spezialisierten Hochleister zu dem Eingeständnis genötigt, dass sie in allen anderen Handlungsfeldern als in ihrem Spezialgebiet so inkompetent sind wie jedermann.
Was kann schon herauskommen, wenn alle intelligenten Bürger bekennen, dass sie jenseits ihres Spezialgebiets nichts wissen, nichts können und nichts haben?
Heraus kommt das Konzept einer wahrhaft demokratisch verfassten Gesellschaft, in der möglichst vermieden wird, über das unumgängliche Maß hinaus irreversible Entscheidungen zu treffen oder höhere Einsicht (wie die göttliche Inspiration) zum Dogma zu erheben oder Partikularinteressen über das Gemeinwohl zu stellen oder Rechtsstaatlichkeitsprinzipien durch Selbstwiderspruch auszuhebeln (wenn jeder Fall als Ausnahme von der Regel gehandhabt wird und damit die Zahl der Ausnahmen jede Regelhaftigkeit aufhebt).
Vornehm wäre es, in den Bürgerschulen zu lernen, dass eingestandenes Nichtwissen, Nichtkönnen und Nichthaben in höherem Maße zu Verbindlichkeit führt als gewalttätig durchgesetzte Norm. In den Besucherschulen hätten wir schon lernen können, dass der Verzicht auf die Durchsetzung von Wahrheit, Gutheit und Schönheit durch Akademiepräsidenten oder andere arbiter elegantiarum, durch die semantische Polizei oder durch Sittenwächter gerade nicht zu Willkür, Beliebigkeit und allgemeiner Wirrnis führt. In aestheticis, also in Sachen der Unterscheidungsfähigkeit gilt: Wer im Alltag das Urteil ausspricht, dieses oder jenes sei unwahr, böse oder hässlich, muss sich denknotwendig auf das Wahre, Gute und Schöne beziehen – auch wenn niemand weiß, wo dergleichen verbindlich festgelegt sei. Die sokratische Tugend zu wissen, wie vorläufig alles Wissen ist und dass jedes Erforschen, wie oben angedeutet, zu immer neuen Problemen führt, wird zur Bürgertugend. Denn der Bürger ist nicht nur sich selbst oder bestenfalls seiner Kulturgemeinschaft verpflichtet; er ist vielmehr gerade dadurch ausgezeichnet, dass er Verantwortung für die Konsequenzen aus dem Umgang mit den bösartigen, weil prinzipiell unlösbaren Problemen des menschlichen Daseins unter natürlichen Bedingungen, die er nicht zu verantworten hat, zu akzeptieren bereit ist.
Das auffälligste Beispiel für derartige Probleme bietet die Endlagerung des atomar strahlenden Mülls. Verantwortung zu übernehmen hieße, die Einheit von produktivem In-die-Welt-bringen und einem ebensolchen Aus-der-Welt-bringen als verbindlich anzusehen. Ohne die Beherrschung der Entsorgungsproblematik ist für einen berufenen Bürger jegliche atomare Energieproduktion nicht zu verantworten.
Endlagerungsproblematiken werden herkömmlich als Fragen nach verbindlicher Orientierung auf Ewigkeit verstanden. Für die traditionellen Kulturen hieß der Dienst an der Ewigkeit in Tempeln, Synagogen, Kathedralen, Moscheen und an anderen heiligen Orten Gottesdienst – mit den entsprechenden Kultformen und Ritualen der Thematisierung unverzichtbarer Einheit von Schöpfung und Zerstörung.
In den Bürgerschulen wird der Gottesdienst in den Menschendienst überführt. Neben die jeweiligen Gotteshäuser treten die „Kathedralen des strahlenden Mülls“. Der Dienst an der Bewahrung vor den Schäden der übermenschlichen Kraft atomarer Strahlung ist wahrlich auf Ewigkeit programmiert, und zwar auf minimal 40000 Jahre Halbwertzeit. Das ist eine Zeitspanne, die sieben Mal größer ist, als bisher auf Erden Menschen ihren Göttern dienten, um der Ewigkeit teilhaftig zu werden. Denn selbst die ältesten Hochkulturen haben es bisher auf höchstens 6000 Jahre kontinuierlichen Ewigkultskult gebracht.
Vom mündigen Bürger zum Profi-Bürger
Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt wollte „mehr Demokratie wagen“ – der gute Vater wollte also den Kindern, die seit 1968 die Straßen unsicher machten, mehr Freiheiten zugestehen, vor allem, weil sie sich diese ohnehin schon angemaßt hatten. Heute geht es nicht mehr um mehr Freiheiten, sondern um mehr Tatkraft, um aus den Freiheiten etwas zu machen. Die Volksbewegung in der DDR 1989 war das bisher bedeutendste Beispiel, wie mündige Bürger ihre Freiheiten einforderten. Heute beklagen sehr viele, dass man mit diesen Freiheiten wenig anzufangen wusste.
Was heißt das, seine Freiheiten zu nutzen? Wie macht man das, mit welchen Mitteln – und zwar im immerwährenden Alltag des Lebens? Die Antwort lautet: Man muss es lernen, wie man lernen musste zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, mit dem Auto als Verkehrsteilnehmer zu bestehen, sein Konto sinnvoll zu verwalten und Steuererklärungen abzugeben. Mündig ist, wer sein eigenes wohl verstandenes Interesse kennt, anstatt sich zum Instrument fremder Interessen machen zu lassen. Aber erst ein professionalisierter Bürger weiß um die Mittel, mit denen er sein gutes Recht durchzusetzen vermag. Dabei lässt er sich durch Enttäuschungen nicht erschüttern, sondern verfolgt seine Ziele mit nicht nachlassender Energie – auch in Perioden relativer Ohnmacht. Es liegt in der Logik des Handelns aufgeklärter Bürger, dass sie gleichermaßen mit dem Erfolg wie mit dem Scheitern rechnen können. Sonst würden sie nur haltlosem Wunschdenken folgen.
Erst die realistische Annahme, dass man mit dem Scheitern ebenso zu rechnen hat wie mit dem Erfolg, macht den Profi. Das haben die Bürger von den Militärs gelernt, die das strategische Denken ausbildeten. Strategie bezeichnet das Wissen um Handlungsmöglichkeiten nach einer erlittenen Niederlage. Aus Allmachtswahnsinn mit dem Sieg zu rechnen, „weil man siegen muss“, kennzeichnet die „Gröfazen“ aller Zeiten. Diese „großen“ Feldherren können bestenfalls durch glückliche Zufälle ihren Machtanspruch durchsetzen. Solcher Erfolg wird jedoch immer zerstörerisch sein. Die Erfahrung „Durch Erfolg zerstört“ (Pyrrhussieg) der Militärs ist ebenso grundlegend für zivile Entscheider. Extremismus, Buchstabengläubigkeit, Prinzipienreiterei, sogar die radikale Durchsetzung unbezweifelbarer Rechtsansprüche wird der Profi-Bürger vermeiden, weil er beispielsweise im Theater erlebt hat, wie aus einem „der rechtschaffensten Menschen seiner Zeit“ die tragische Figur eines Kohlhaas wird.
Wir fassen zusammen:
Jeder spürt, wie in einer globalisierten Welt die soziale Bindung durch Sprachgemeinschaft, Kulturgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft, Parteiungsgemeinschaft dahinschwindet. Ebenso selbstverständlich erwartbar ist, dass die vielen, auf kleinstem Raum zusammenlebenden Kulturen versuchen, ihre Mitglieder durch Loyalitätsbeweise oder sogar Zwangsmaßnahmen anzuhalten, die eigenen Gemeinschaften gegen andere unter allen Umständen zu behaupten. Das aber führt zum Verlust der Freiheit. Es gilt demnach, wie schon erwähnt, eine neue Begründung für soziale Bindungen zu entwickeln. Nicht mehr die gemeinsame Zugehörigkeit zur gleichen Kultur, Religion, Partei, Ethnie etc. hält uns zusammen – im Gegenteil, sie sprengt Gesellschaften auseinander; permanenter, auch blutiger Kulturkampf ist die Folge. Vielmehr zwingt uns die gemeinsame Konfrontation mit prinzipiell unlösbaren Problemen zu neuen Formen der sozialen Bindung. Alle, die sich als Wissenschaftler, Repräsentanten von NGOs oder Bürgerinitiativen gemeinsam um die Bemeisterung dieser Probleme kümmern, sind Beispielgeber für eine die Kulturen überspannende Weltzivilisation. In Teilbereichen ist deren Leistungsfähigkeit bereits erwiesen: In der Luft- und Schifffahrt, in der Nutzung des Internets und anderer digitaler Medien, in der Medizintechnologie u. ä., sogar in rechtlicher und ethischer Hinsicht werden die Grundsätze der Weltzivilisation durch internationale Gerichtshöfe und die Charta der Vereinten Nationen wenigstens dem Anspruch nach wirksam.
Eine Bürgerschule muss sich heute als Agentur dieser Weltzivilisation verstehen. Die Grundsteine sind gelegt. Jetzt gilt es für alle „Weltbürger“, so nannte Goethe die transkulturellen Vertreter der Menschheit, die Architektur der Zivilisation zu entwickeln. Bisher gibt es dafür nur das Beispiel einiger Imperien wie das Reich der Römer, die Reiche der Mongolen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Britische Empire und das Imperium der Vereinigten Staaten von Amerika. Viele erfolgreiche kolonialistische Staaten sind gar nicht erst bis zum Aufbau eines Imperiums vorangeschritten. Wir sollten alles daran setzen, nicht auch in den blutigen Kämpfen um kulturelle Identität, um Territorien und Ressourcen zermahlen zu werden. Die Europäer entdeckten die universalen Prinzipien für Wissenschaften und Künste, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Damit sind die entscheidenden Voraussetzungen für die Universalisierung geschaffen, mit denen der Profi-Bürger schließlich zum Weltbürger werden kann.