Tafelrunde Bazon Brock zelebriert seinen 75. Geburtstag in Venedig

75. Geburtstag, Bild: Foto: Stefan M. Seydel.
75. Geburtstag, Bild: Foto: Stefan M. Seydel.

Termin
31.05.2011

Veranstaltungsort
Venedig, Italien

Manuel Gogos

Gorbatschow ist kein Menschheitserlöser; aber immerhin groß genug, aus der Einsicht in die Notwendigkeiten Konsequenzen zu ziehen. (RD 11)

Das wird uns jedenfalls nicht gelingen: die erzwungene Apokalypse als die größte Unterhaltungsshow der Menschheit, als Programm der Erlösung zu akzeptieren. (RD 12)

Die Unterhaltung fesselt nicht mehr; ihre jüngsten Übertrumpfungsversuche kommen der Unmenschlichkeit des fundamentalistischen Terrors schon recht nahe. (RD 12)

Wir müssen akzeptieren, dass häufig gerade instrumentelle Rationalität den Denkkrampf der Extreme hervorruft; wir müssen akzeptieren, dass wir alle die Extreme auszumessen gezwungen sind, und dass demzufolge die moderate Mitte nicht ein für alle Mal festgelegt werden kann, sondern nur als Durchgangsgröße zwischen den entgegengesetzten Endpunkten zu durchlaufen ist. (RD 13f)

Die Kultur diesseits des Ernstfalls zu etablieren scheint nur aussichtsreich, wenn das Bindungsverlangen der Menschen nicht mehr über Ausgrenzung läuft, sondern über Gemeinsamkeit einer ganz anderen Qualität. Was wir in Zukunft gemeinsam haben werden sind nicht mehr Glaubenssätze, Programmatiken, Weltbilder, sondern Probleme. (RD 15)

Die Experten werden sich von Problemlösern zu Problemfindern zu entwickeln haben, die unnachgiebig darauf bestehen, dass auch die großartigsten Problemlösungen des bisherigen Verständnisses nur um den Preis funktionieren, den Menschen neue Probleme auf den Hals zu holen, zumeist größere Probleme als die man gelöst zu haben versprach. (RD 16)

Es mag bezweifelbar sein, ob ein einzelner Autor überhaupt noch in der Lage ist, mehr als ein bloßes Beispiel zu geben. (RD 16)

Wann immer ein Autor seine Aussagen mit dem Verweis auf sich selbst begründet, geht er wie ein Künstler vor. (RD 16)

Wir sind viel zu sehr darauf fixiert, Aussagen nur dann zu akzeptieren, wenn sie von mehr als einem einzelnen getragen werden. Wer sich stets auf den Stand von Technik und Wissenschaft zu berufen vermag, ist auf persönliche Verantwortung nicht mehr festzulegen. Die positiven Wissenschaften mit ihrer instrumentellen Rationalität der Sachzwanglogik sind längst der mächtigste Mythos geworden, in dem sich je Menschen repräsentiert sahen. (RD 16f)

Kein Faschist ist nur, wer in konkreten Situationen erfahren hat, dass er durchaus einer sein könnte. Erst wer die selbstvergessene Hingabe an die Wonnen der gewöhnlichen Unterhaltung hinreichend lange genossen hat, wird Ekel und Angst vor dieser Selbstaufgabe zu verspüren vermögen. (RD 18)

Die Märtyrer beweisen leider nichts mehr. Opfer sind nur noch Opfer kreatürlicher Dummheit und nicht mehr Beweise höherer Einsicht. (RD 18)

Der Geist der Zeit, ja der Zeitgeist manifestiert sich in erster Linie in den Zukunftserwartungen einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Furcht vor der Zukunft und die Hoffnung auf die Zukunft treten nämlich immer verschwistert auf: als Zeitgeist. Dass die Menschheit möglicherweise keine Zukunft mehr hat, wurde in den 80er Jahren von so vielen Menschen für denkbar gehalten wie nie zuvor. (RD 20)

Zerschlagt den Zeitgeist, dekonstruiert den Untergang und die Apokalypse. (RD 21)

„Viel Spass“. Das ist so ziemlich das Hinterhältigste, was man heute jemandem wünschen kann. Fehlt nur noch, dass man den Soldaten, die das Ins-Jenseits-Befördern professionell trainieren, viel Spass im Umgang mit den Kampfmaschinen wünscht und den Dahinscheidenden viel Spass im Jenseits in Aussicht stellt. Jemandem viel Spass zu wünschen, heißt also nichts anderes, als zu wollen, dass ihn der Teufel hole. (RD 21f)

Bei Lichte betrachtet steht aber hinter all diesen Bekenntnissen und Verpflichtungen zum Spass der Mangel an Humor: Spass ist, wo sonst nichts ist.

Hatten unsere 80er Jahre kein eigenes Gesicht? Also Madonna nur ein remake von Marilyn Monroe, Rambo nur ein remake von John Wayne, Kanzler Kohl nur ein remake von Konrad Adenauer? (RD 23)

Alles nur ein Problem der Abfallbeseitigung? Recycling ist schöpferisch; wahrscheinlich ist alle Kreativität nur ein Recycling des Vorhandenen. (RD 23)

Die zeitgemäße Madonna ergreift Besitz von den Wundergläubigen, indem sie sie elektronisiert. (RD 24)

Da gibt es nur ein Problem: Berge zu versetzen, heißt, sie irgendwo wieder hinzustellen. Aber da stehen sie dann wieder. Schuld muß abgetragen und nicht einfach nur umgesetzt werden. (RD 24)

Der Videorekorder, die alle Zeiten zertrümmernde Maschine der endlosen Wiederholung hindere uns daran, den alten Ballast loszuwerden: Die Wahrheit ist, dass es keine Wiederholung gibt. (RD 26ff)

Die Dirigenten, Besitzer und Beherrscher der Medien sind ihren eigenen Fiktionen aufgesessen. (RD 27)

Traditionen müssen aus den jeweiligen Gegenwarten in der Angst vor dem unbekannten Neuen immer erneut nach rückwärts erst aufgebaut werden. (RD 28)

Naivität läßt sich nicht als Totstellreflex in Permanenz nutzen, das wäre nämlich die Existenzform der lebenden Leichname. Das unersättliche Sehen muß zum unerbittlichen werden. (RD 29ff)

„Und nun alle!“ (RD 31)

Möglicherweise dienen die Geheimnisse aber nur der Steigerung ihrer eigenen Medienwirsamkeit. (RD 31)

Ein schon gegenwärtig, aber erst recht für die Zukunft folgenreicher und wichtiger Typus des Handelns: alles daran zu setzen, dass nichts geschieht. (RD 32)

Er beteiligte sich daran, einen Ausdruck zu finden. Als er ihn allerdings gefunden hatte, wusste er nicht mehr, Ausdruck wofür. (RD 36)

Er wollte sich alles selbst verdenken. Das, hatte er gehört, sei der Geist der Moderne. (RD 36)

Er fühlte sich fast zu groß für sich selbst. Das ist ein Chef, dachte er. (RD 38)

Sie saßen, als sei das Sitzen endgültig. Sich selbst so hinzusetzen, gelang ihm nur, wenn er an Thomas Mann oder Richard Strauss dachte; die hatten zwischendrin auch mal die Füße unter den Tisch gestreckt oder Skat gedroschen, um dann aber am nächsten Morgen sofort wieder eisern Bedeutung zu stechen. (RD 39)

Er lernte von den Mächtigen vor allem eins, wie man denn Beweise für die Macht erbringen könne. Es müssen Opfer der Macht her. Jetzt kaufte er sich einen Hund, um dessen Herr zu werden. (RD 39f)

In seiner Jugend war er labil gewesen, nun gut, was heißt das schon. Eines Tages, im Frühherbst, wenn die Bauern mit dreischarigen Pflügen die Erde brechen, war er mit einer drei Meter langen Nadel und mit tausenden Metern Garn hinter einem Traktor hergegangen , um die Erdfurchen wieder zuzunähen. Der Bauer holte die Polizei, die Polizei einen Psychiater; der Vorfall scheint für ihn bestimmend geworden zu sein. Denn der Psychiater hatte gesagt, man könne sein Verhalten durchaus einsichtsvoll nennen. (RD 40)

In der Moderne wurde das Spektrum der klassischen Tätertypen um drei herausragende Rollen erweitert: die der Lehrer, der Therapeuten und der Trainer. (RD 43)

Der therapierte Künstler bedarf der Kunst nicht mehr, weil er praktisch handelt und statt Papier und Leinwand die Welt gestaltet. Von Goethes Ablehnung der romantischen Willkür bis zu Goebbels Kampagne gegen die entartete Kunst spannt sich der Bogen. Hitler konnte sich tatsächlich als Künstler verstehen, der mit erprobten Gestaltungsformen des Bildenden Künstlers nun den sozialen Körper, die Gesellschaft formte. Diesem Arbeitspensum gegenüber erschienen die Methoden der sich selbst therapierenden Privatkünstler als historisch überwunden. (RD 46ff)

Stasi, KGB, CIA und die gewaltigen Militärmaschinerien waren ja nicht nur durch ihre eigene Gigantomanie gelähmt worden, aufgrund derer sie allesamt sich bei der erstbesten Belastungsprobe als weitgehend machtlos erweisen mussten. Machtausübung selber war fraglich geworden, weil sie stets nur Gegenmacht produzierte. Deswegen würde jede Machtausübung die Zerstörung ihrer eigenen Basis betreiben. Worin gründet dieser Mechanismus der Selbstzerstörung von Macht durch ihre Ausübung? (RD 54)

Meister der Sentenzenbildung war der 1987 verstorbene Jacob Taubes. Er forderte den Mut des Lesers, in jedem Buch den einen Satz aufzuspüren, um dessen Willen es geschrieben worden sei. Und er empfahl den Lesern, diesen Satz so volksweisheitlich wie möglich zu formulieren. (RD 54)

Der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter. (RD 57)

Denn wirklich ist nur das, worauf wir keinen Einfluss haben. (RD 59)

Der tödliche Ernstfall ist keine Größe mehr, die sich ins Kalkül der Mächtigen einbeziehen ließe, es sei denn um den Preis von deren Selbstvernichtung. (RD 59)

Was wäre, wenn auch nur weitere zehn Prozent der Bevölkerung schreibend, malend komponierend oder als Politiker, Wissenschaftler und Militärs überleben wollten? Wer sollte diese Werke memorieren und die Toten vergegenwärtigen? Vielleicht die Bewohner der Canettistraße, der Reaganallee, des Tellerwegs oder der Neckermanngasse, die eine semantische Polizei in monatlichen Besuchen abfragte, ob sie ihrer kulturellen Pflicht zur Vergegenwärtigung der toten Größen nachgekommen seien? (RD 60)

Eine andere Dauer als die erzwungene der Tausendjährigkeit von Reichen und Werken: die Macht der Ohnmacht. (RD 60)

Vostells einbetonierte Cadillacs als Monument des „Ruhenden Verkehrs“: Fortbewegung und Verharren sind identisch geworden im Warten ohne Erwartung. Die ehemals hilfreiche Ausgrenzung von Wartezimmern gegenüber Erfüllungsräumen von Erwartungen verlieren ihren Sinn, wenn alle Zimmer zu Warteräumen werden und die Befindlichkeiten der Raumbewohner oder –nutzer durchweg denen der Patienten gleichen. Patienten sind Menschen, die sich ihrem Zustand gegenüber nicht anders als wartend verhalten können. Es kommt darauf an, das Warten nicht passiv erdulden zu müssen, sondern zu einer Form des Handelns zu erheben. (RD 61)

Die jüdische Kultur ist eine Kultur des Wartens, das auf keine Weise die Erfüllung der Erwartung als Ankunft des Messias behaupten oder versprechen darf. Was hört der Zuhörende? Im Zuhören wird die Kraft des Wartenskönnens allen erfahrbar. Mit diesem Warten wird auch endlich für die Massen das zum Ereignis, was nicht geschieht. (RD 62f)

Kanzler Kohl war der erste Politiker der 80er Jahre, der das wartende Verharren als Form des politischen Handelns zum Thema erhob. (RD 64)

Es besteht nicht der geringste Zweifel, das diese Programmatiken als Kampf des Guten gegen das Böse, des Westens gegen den Osten, des Kapitalismus gegen den Kommunismus, der Gläubigen gegen die ungläubigen zusammengebrochen sind Das Wiederaufleben des Fundamentalismus aller Schattierungen ist nur ein fürchterlicher Reflex auf diese Tatsache; er wird sind nur so lange als Terror abstrakter Errettungsideen behaupten können, wie er Tod und Selbstopfer als Bewiese der macht auszugeben vermag. (RD 64)

Die Fernsehästhetik ist in erster Linie eine Rezeptions- und nicht mehr eine Produktionsästhetik. Sie verlangt die Fähigkeit, auch in Bildern reflexiv zu denken. Die Fernsehkonsumenten wissen den Wirklichkeitsanspruch der elektronischen Bilderflut durchaus kritisch abzuschätzen. Wo ihnen elektronisch synthetisierte Bildwelten als Zeichen ohne Bedeutung vorgesetzt werden, erarbeiten sie sich phantasievoll Bedeutungen, auf die diese Zeichen verweisen könnten. Dass wir in einer Welt totaler Simulation leben, wollen uns diejenigen weismachen, die Programmgewalt haben. (RD 66)

Das ganze läuft auf nichts anderes hinaus als was die mittelalterlichen Theologen für die virtuellen Menschen, die Engel, zu behaupten versuchten. Aber mit der Klärung der Frage, wie viel Teilchen oder Engel oder andere Virtualitäten auf eine Nadelspitze passen, werden die Theologen, Physiker und Neuroelektroniker sich nicht davor bewahren können, schmerzhaft aufzuheulen, wenn sie sich eine Nadel in den Hintern rammen. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen: die bloße elektronische Beschleunigung der Vermittlung von gedanklicher Operation und Bewegung der Körper kann die Menschen nicht in frei flottierenden Geist verwandeln. (RD 67)

Der natürliche Affe in uns baute die Atombomben und Raketen. Und so marschiert der Menschenaffe gleichgesinnt, ethischen Prinzipien verpflichtet, aufrecht und wahrhaftig auf jenes Ende zu, das ihm als „reinem“ Wesen der Natur von eben dieser vorgezeichnet ist. (RD 70)

Es steht fest, dass nur durch den Wechsel der Dominanzhierarchien annähernd anforderungsgerechte Bewältigungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung ermöglicht werden. (RD 71)

Informationstod (kulturgeschichtlich: Wirklichkeitsverlust) (RD 71)

Ich erfahre nur an den Reaktionen anderer, was ich gemeint haben kann. (RD 72)

Wer die totale elektronische Simulation nicht nur für möglich, sondern auch für wünschenswert hält, möchte nichts anderes als das, was die Menschheit immer schon wünschte, nämlich in das Paradies einziehen. Der entsprechende experimentelle Beweis ist an Ratten schon in den 60er Jahren erbracht worden. (RD 74)

Wir haben uns bisher einreden können, dass Verhalten nach Vorschrift die Garantie für den gewünschten Normalfall ist. Verhalten nach Vorschrift ist eben keine Garantie dafür, sich richtig zu verhalten. (RD 78f)

Wir alle leben und arbeiten als Individuen wie als ganze Gesellschaften gerade in einer durchtechnisierten Welt in Unwägbarkeiten, die nicht mehr nur ein Restrisiko darstellen; es ist eher angesagt, von einer Restsicherheit zu sprechen. (RD 79)

Wir müssen nun endlich mit dem Nicht-tun als Verhindern anfangen, und zwar vorschriftsmäßig. (RD 80)

Wahrscheinlich ist es die Furcht vor „geschlossenen Gesellschaften“, von denen man vermutet, sie könnten zu Geheimgesellschaften mit unkontrollierbaren dunklen Machenschaften werden. (Vgl. Verfolgung von Freimaurern u. a., obwohl die humanistischen Zeile von Freimaurern allgemein anerkannt sind.) (RD 84)

Vermummungsverbote helfen gegenüber ohnehin Nackten wenig: Der gläserne Mensch kann den Anforderungen zu sozialer Kommunikation nicht genügen. (RD 87)

Du sollst Dir kein Bildnis machen von Deinem Künstler. Die Schamanen, die Rotweinbohemiens, die sensiblen Aussteigersofties, die bärtigen und bäuchigen Malschweine sind endgültig ins Musterbuch der Künstlerpsychologie vergangener Tage abgelegt. Rambo ist nun auch als Künstler sichtbar. (RD 91)

Er kämpft um nichts anderes mehr als um die tadellose Haltung auf dem Wege zum Ende der Geschichte. Sein Adressat ist er selber. (RD 92)

Welcher Trost, dass wenigstens die Erwartungen des Endes von größerer Dauer sind als die marktgängigen Angebote grundsätzlicher Veränderungen. (RD 92)

Wo finden sich heute Mäzene? Was wir reichlich haben, sind Sammler. Kreativität stimulieren sie nicht! (RD 93)

Machen nicht auch die Künstler, die noch nicht unmittelbar für Werbungs- und PR-Firmen arbeiten, eigentlich nur noch Reklame für sich selbst? (RD 94)

Daß wir nicht die Affen sein wollen, die wir tatsächlich sind, das mag uns vielleicht rechtfertigen. (RD 96)

Nicht erst die Nazis, sondern die Künstler selbst haben den Kampf der Schönheit gegen die Entartung geführt. (RD 101)

Aus den finstersten Katakombenöffnungen wurde ein schönes schwarzes Quadrat: so verkannten wir Malewitsch. (RD 103)

Die Rückenfigur des „Wanderers über dem Nebelmeer“ hat sich endlich umgedreht: Man kann ihm ins Gesicht sehen. (RD 112)

Institutionen wohnen ebenso wenig wie Individuen in bloßen Gehäusen – sie wohnen in Gedanken, in Vorstellungen und Formideen. Die erst machen aus einem Bau eine Architektur und aus einer Ansammlung von Architekturen eine Stadt. (RD 113)

Vorlesungen, Seminare und Übungen als kulturelle Ereignisse auffassen zu wollen, ist beim besten Willen nicht möglich. Warum wurde die Universität als Hüterin der Kultur zu dem sozialen Ort, der am wenigsten von kulturellen Formen des Lebens geprägt ist? (RD 117)

Akzeptiere keine Aussagen, von welchem Status auch immer, unter die der Aussagende nicht selber sich zu subsumieren bereit ist. (RD 119)

Wir müssen die Möglichkeit kritisch in Betracht ziehen, dass sich die Universität, ähnlich wie die mönchische Klostergemeinschaft, als nicht mehr zeitgemäße soziale Institution erweist, dass die Universitäten zu öffentlich finanzierten Außenstellen der Konzerne werden. (RD 119f)

Die Wissenschaft muß „frei“ sein – dass sie damit aber auch frei von aller Verantwortung ist, sagt weder Artikel 5 des Grundgesetzes noch irgendeine andre Festschreibung dieser historischen Errungenschaft. (RD 120)

Sei man weiß, dass Probleme nur durch Schaffung neuer Probleme „gelöst“ werden können, hat man sich zu fragen, ob die durch eine Problemlösung geschaffenen neuen Probleme kleiner oder größer sind als das Ausgangsproblem. Man entspricht dem Rationalitätsgebot nicht, wenn man zum Beispiel mit der Entwicklung leistungsfähiger Waschmittel den Schmutz nur aus dem Haushalt in die Gewässer verlagert. (RD 122)

Sind nicht die Drohung des atomaren Holocaust, der weltweiten ökologischen Katastrophe und die schleichende Durchseuchung mit dem Aidsvirus Ernstfälle, wie sie die Menschheit bisher in ihrer Geschichte noch nie zu gewärtigen hatte? Zweifellos, aber eben deswegen können wir mit diesen Ernstfällen nicht mehr rechnen: denn diese Ernstfälle sind nicht ins Kalkül zu stellen, sie lassen sch nicht als Mittel zum Zweck einsetzen. Wir können mit diesen Ernstfällen insofern nicht rechnen, als alle Rechnerei aufhört, wenn diese Ernstfälle eintreten sollten. (RD 127)

Auf der einen Seite die Strategen der Erzwingung des Ernstfalls, die Apokalyptiker und Erlösungspathetiker – auf der anderen Seite die zynisch naiven Verabreicher von Unterhaltungsvalium, die Kulturanimatoren, die Hobbyisten und fröhlichen Modemacher. An Namen und Werken festgemacht stehen sich also zum Beispiel Botho Strauss (Literatur), Anselm Kiefer (Malerei), Karl-Heinz Stockhausen (Musik) und Jürgen von der Lippe (TV-Unterhaltung), Andre Heller (Kulturanimation) und Karl Lagerfeld (Modemacher) gegenüber. Wer hält heute eine mittlere Position zwischen Gottesdienst und Tingeltangel? Für mich, Bazon Brock, will ich gerne akzeptieren als ein bloß mittleres Talent zu gelten. (RD 130)

Inzwischen ist es soweit: die ästhetische Macht ist an den Journalismus übergegangen. (RD 133)


Die Funktion der Künste ist vor allem in ihrer Wirkungslosigkeit zu sehen. Die Erzwingung irreversibler Handlungen (genannt Heldentaten) verbieten sich in den Künsten von selbst: Künstlerisches Schaffen, diesseits des Ernstfalls. (RD 134f)

Verantwortung in abstracto, fürs Ganze, kann niemand übernehmen. Verantwortung für das, was ein Einzelner verantworten kann. (RD 136)

Wenn man sich schon als Künstler, Philosoph, Theologe auf die Konstruktion von „Gegenwelten“ ausrichtet, dann muß man sie auch als „andere Welten“ akzeptieren, als Distanznahmen, als kritische Größen, und nicht als verbindliche Offenbarungen dessen, was eigentlich sein sollte. (RD 136)

Bereits gegenwärtig ist der Kulturbereich zu einem der wesentlichen Faktoren der Volkswirtschaft geworden. Gestaltung ist Chefsache geworden. (RD 137)

„Durch Erfolg zerstört“, heißt das absehbare Schicksal der Erfolgreichen. Die Frage wird unausweichlich, welche Kriterien an die Stelle des Erfolgskriteriums treten. (RD 137)

Das Publikum steht nämlich immer noch gaffend und fasziniert vor der Schaubude. (RD 139)

Die Welt der Unterhaltung ist nicht weniger interessant als die Welt des Ernstfalls; der Einwand gegen sie entstammt einem Ekel gegen das Ideal des Pazifismus, weil in einer so befriedeten Welt keinem Menschen mehr das Opfer seines Lebens abverlangt werden kann. Menschen, die ihr Leben dem Leben opfern: Das ist eine Unsinnigkeit wie die, im Namen der Liebe zu töten oder die, im Namen des Glaubens zu missionieren. (RD 142f)

Ernstfälle, in denen Menschen ihr Leben opfern oder in denen das Leben von Menschen geopfert wird, sind auch nichts anderes als eine Interessantheit im Sinne der Unterhaltung. Katastrophen, Kriege, Zusammenbrüche der Existenzen von Individuen sind auf keine andere Weise rezipierbar als in der gaffenden Neugier der Unbeteiligten und in dem Nervenkitzel dramaturgisch geschickt aufbereiteter Unterhaltung. Die Politik des existentiellen Ernstfalls und die politikfreie Unterhaltung sind nicht länger Entgegensetzungen, sondern Synonyme.
So gesehen ist der herbei gezwungene Ernstfall selbst nichts anderes als die Sicherung des status quo. (RD 142ff)

Die Händler reden hoffentlich nur vom Geldverdienen, und solange sie nur davon reden sind sie uns lieber als die Pathetiker der Ehre. (RD 152)

Wem es nicht gelingt, seine Artikel und vor allem auch seine Bücher mit auffälligen Reizwörtern zu durchsetzen und zentrale Aussagen in die Merkformen von Schlagzeilen zu überführen, habe keine Chance mehr, wahrgenommen zu werden. (RD 153)

Wer sich den Erwartungen des Publikums anzupassen hat, wird auch danach beurteilt, inwieweit er in der Lage ist, die Erwartungen des Publikums zu erfüllen. (RD 153)

„Haben denn ihre Künstler überhaupt Philosophie studiert?“ (RD 154)

Jede Rezeption wird zu einer Produktion: kontemplativer Genuss unmöglich. (RD 159)

Dass Traditionen nicht aus den Vergangenheiten der Meistergenerationen in die Gegenwarten der Schülergenerationen wirken, bleibt ihnen unfasslich. (RD 160)

Überhaupt wäre das Neue gar nicht neu, wenn es gegenüber dem Alten nicht weitgehend bestimmungslos blieb. Denn nur solches neues zwingt uns überhaupt, begründet von den Traditionen zu sprechen, ja sie aus Angst vor dem Neuen immer erneut erst zu bilden. (RD 160)

Phrasen dreschen die Künstler, um die Bildungsbeflissenen abzuwehren, die den Künstlern vollständig zu wissen abverlangen, was sie da gemeint, gewollt, getan hätten, da die Werke ja von ihnen geschaffen worden seien. (RD 161)

Wenn irgendwo noch vom Humanum gesprochen werden kann, dann im Bereich der Künste oder vielmehr der Künstler, die zu behaupten wagen, was dem Subjekt als Problematik seines eigenen Welt- und Selbstbezugs deswegen bedeutsam ist, weil diese Probleme von keiner Wissenschaft, von keiner Kosmologie, von keinem gesellschaftlichen Selbstverständnis beruhigt werden können. (RD 162)

Wer heute ein Kunstwerk in alteuropäischem Sinne produzieren will, gedeckt durch die Künstlerideologie der göttergleichen Schöpfungskraft, muß zwangsläufig eine Fälschung begehen. Der Künstler befindet sich den Kunstfreunden gegenüber in der Lage eines Arztes, der genau weiß, dass nicht die verabreichten Tabletten die gewünschte Wirkung gehabt haben können, da sie Placebos waren. Von heute aus betrachtet haben Künstler wie Duchamp, Yves Klein, John Cage, Donald Judd oder Andy Warhol einen dritten Weg eröffnet, nämlich so zu tun als ob. (RD 165ff)

Die Fälscher aller Zeiten wussten, dass sie als Fälscher eine Leistung erbringen. Auch Gottes Allmacht hatte ihre Voraussetzungen. Der Schöpfergott hat genauso wie alle andren, die etwas produzieren, unter Vergegenständlichungszwang gestanden und das heißt dass er als Macher keineswegs besser weiß, in welcher Art der Entwurf zum Ausgeführten steht. Imitationen von Imitationen bedeutet nicht, die Ausgangserzählung wäre ihrerseits kein Gerücht gewesen. (RD 170ff)

Man verwechselt Kunstvermittlung mit einer Art pädagogischer Liebhaberdemonstration. Sie ist ganz im Gegenteil darauf ausgerichtet, dem Publikum klarzumachen, dass die Rezeption selber eine Form der Produktion ist; das zum Zuhören, Zusehen oder Betrachten Voraussetzungen gehören, die man genauso professionell trainieren muß, wie die Künstler. In Wahrheit geht es darum, das Publikum aufzufordern, sich selber endlich ernst zu nehmen, sich selbst nicht als Unterhaltungspublikum zu verstehen, das sich von den Künstlern mit Kuchen und von den Vermittlern als Oberkellnern verwöhnen läßt. Es geht darum, die Vermittlung als eine Form der Arbeit zu etablieren. (RD 173)

Die Gründerväter der Moderne sind allesamt engagierte, von Utopien erfüllte Täter gewesen. Je abstrakter, je reduktionistischer ein Mondrian, ein Malewitsch arbeitete, desto radikaler trugen sie politische Utopien vor. Denken Sie nur an die Verbindung zwischen russischen Konstruktivisten und der russischen Revolution oder an die zwischen De Stijl und den Lebensreformbewegungen. (RD 175)

Die Kunst ist also nichts anderes als die produktive Nutzung der prinzipiellen Unangemessenheit von Gedanken und sprachlichem Ausdruck. In der prinzipiellen Uneinholbarkeit liegt der Zwang fortzufahren und die nächste Formulierung ist der erneute Versuch, dieses durch Nicht-Identität gekennzeichnete Verhältnis von sprachlichem Ausdruck und innerem Bild zu thematisieren und as heißt immer zu problematisieren. (RD 181)

Das Bild drücke aus, was es darstellt. Das ist eine typische Art der Vernichtung des Aussagewertes dieses Bildes selbst; „Es ist eben das, was es ist. Was ist denn? Ja, das, was es darstellt. Was stellt es denn dar? Ja, das, was es ist“. Von unmittelbarem Zugang gar keine Rede! (RD 183)

Ein aufgeklärter Mensch weiß, dass er das selber ist, dass er jederzeit in der Lage ist, jedes beliebige Verbrechen zu begehen, jederzeit dazu verführbar ist, Unmittelbarkeit mit Gewalt durchzusetzen, und jederzeit ein exemplarischer Erzwingungsstratege des Absoluten sein kann. Ich rechne überhaupt nur mit Menschen, die das von sich wissen, alle andren sind sowieso tot. (RD 185)

Selbstverwirklichung ist ein Ideal der Vollidioten. (RD 185)

Uns wird heute in einem so großen Maße die Konfrontation mit der Wirklichkeit zugemutet, wie es historischen Gesellschaften noch nie zugemutet worden ist. (RD 187)

Die Gottsucher sind alle mit der Macht verschwägert, sind alle auf die Durchsetzungsstrategie des irdischen Paradieses, des Gottesreiches auf Erde, der Größe und des Ruhms ausgerichtet, ohne dafür bezahlen zu wollen. (RD 188)

Die Irrationalität ist nicht das Andere der Rationalität, sondern es ist sie selbst, wenn sie sich in einer bestimmten Weise thematisiert. Mythos ist für mich in urheberlos gewordener Aussageanspruch. Mythen sind urheberlos gewordene Erzählungen. Insofern ist die moderne Naturwissenschaft der genuine Ausdruck des mythischen Sprechens. Es geht also immer noch um Entmythologisierung. Entmythologisierung heißt, einen Aussagezusammenhang auf einen Autor zurückzuführen, d. h. auf Verantwortlichkeit. (RD 189)

Es ist ja kein Kunststück, als Profikünstler dem Publikum gegenüberzutreten und ihm etwas vorzuzaubern bei entsprechender Beherrschung des Metiers. (RD 190)

Zeitgemäßheit definiert sich jetzt unabdingbar in einer Kultur diesseits von Macht, Geld und Unsterblichkeit. (RD 190)

Der Fall Tschernobyl hat bewiesen, dass dort kein Mensch mehr die Verantwortung dafür übernimmt, was er als Wissenschaftler in die Welt setzt. (RD 192)

Keine Erlösung im Jenseits, sondern die Anerkennung der eigenen Ohnmacht und Beschränktheit und der Verfallenheit am die Banalität, das Geschwätz, die Beiläufigkeit. Wer darin noch ohne Prätention zu philosophieren versteht, der wird noch zu Aussagen kommen, die einen gewissen Wert haben. (RD 192)

Der Kleinbürger als Medium der Vergegenständlichung universeller, sogenannter abstrakter künstlerischer Formensprache. (RD 194)

Die agierende Hausfrau gewinnt in ihren Tätigkeiten künstlerische Kraft, wenn sie demonstriert, dass die narrensichere Verwaltung des angeblich unauffälligen und uninteressanten Alltagslebens mehr organisatorische und kreative Kraft verlangt als die selbstherrliche Erfindung künstlerischer Gegen- oder Eigenwelten. Duchamp gelang die Dekontextuierung, indem er die Alltagsobjekte in den Kontext der Museumskultur überführte. Die kreative Hausfrau wird zur Künstlerin durch Dekomposition, durch den Zusammenbruch der formensichernden Funktionen. (RD 197)

Philosophie: selbstverschuldeter Aufstand der zweiten Natur (RD 199)

Die Überschreitung der uns nun einmal gesetzten Grenzen ist nur in der vollständigen Anerkennung dieser Grenzen möglich. Die Dinge sind mehr als sie, nur in unserer Art mit ihnen umzugehen, sind, das heißt: sie sind mehr, als sie sind, indem wir an ihnen demonstrieren, dass wir nun haben, was uns fehlt. (RD 204)

Ein moderner Arzt fragt seinen Patienten, also sich selbst, was ihm denn fehle. Nach langen, gut begründeten Überlegungen antwortet er sich selber, dass er Schmerzen habe: Wir haben was uns fehlt, das ist Kant. (RD 204)

Wir können uns auf die Welt einlassen, ja sie akzeptieren, weil uns unser Umgang mit den Objekten dazu zwingt, sie auch dann als transzendent zu erfahren, wenn wir sie selbst in die Welt gebracht haben. Ihr prinzipiell unerschließbares Wesen strahlt uns auratisch entgegen; der Blick in die Sonne blendet das Zentrum aus: Die Erscheinung strahlt, wenn das Wesen verdunkelt wird. (RD 208)

Im öffentlichen Bewusstsein sind Kulturschaffende immer noch die armen Brüder. Man hört dagegen, große Unternehmen entscheiden sich für ihre Standorte vor allem auch mit Blick auf die kulturelle Infrastruktur. Die einzigen, die nicht wagen, mit diesen neuen Tatsachen in ihrem eigenen Interesse zu argumentieren, sind die Kulturschaffenden selber. (RD 211)

Für die Aktivierung der Depotbestände werden immer neue Museen geplant und gebaut (Tausende Museen ließen sich noch als Attraktionszentren etablieren). Angesichts dieser Tatsache schrumpfen museologische Überlegungen zur Planung von Besucherverkehrsordnungen, zur Abwicklung von Geschäften. Ein irrwitziger Zirkel hat sich etabliert: in den Ausstellungen kann man sich unter den gegebenen Bedingungen nur flüchtig mit den Exponaten einlassen; so kauft man den Katalog, um im Nachhinein die Konfrontation zu vertiefen. Bevor man den Katalog auch nur etwas ausführlicher durchgeblättert hat, besucht man eine andere Ausstellung. (RD 213)

Schlechterdings ist auch der kleinste Bestand an Objekten unserer Lebenswelt nicht gestaltet. Die künstlerischen Aktivitäten im engeren Sinne haben ihre unmittelbare Wirksamkeit für die Gesellschaft in diesem Einfluss auf die Gestaltung unserer Lebenswelt. Sie sind zu einer entscheidenden Ressource geworden. (RD 214)

In gesellschaftlicher Hinsicht findet Musealisierung als Besetzung der Museen durch Sponsoren statt. (RD 215)

Bei Privatbesuchern (von Museen) kann man folgende Konditionierungseffekte ablesen: Verlangsamung der Bewegungsabläufe, Vermeidung von Spontanäußerungen, Einschränkung der Sprechlautstärke, hypnotische Konzentration des Blicks, offenbarungsbereite Öffnung des psychischen Systems. Die Museen sind heute die bevorzugten Architekturen der Rituale – allerdings um den Preis, dass die Rituale selber musealisiert werden. (RD 215)

In wissenschaftlicher Hinsicht stellt die Musealisierung eine der wenigen völlig unschädlichen Formen des ‚Aus-der-Welt-bringen’ dar; die Musealisierung liefert ein Beispiel für ein ‚Aus-der-Welt-bringen’, das zumindest so kontrolliert stattfindet wie das ‚In-die-Welt-bringen’ durch schöpferische Produktion. (RD 216f)

Allgemein liefert ja die Kunst ein Paradigma für menschliches Tun ohne Folgen, und nach diesem Typus des Handelns besteht ja gegenwärtig große Nachfrage. Wissenschaftlich gesehen gelingt es der Kunstproduktion bisher am besten, dem Gebot zu genügen, menschliches Handeln so wenig wie möglich mit irreversiblen Folgen zu belasten. (RD 216f)

(Auch) auf der privaten Ebene spielt die Musealisierung eine immer größere Rolle: Museumskunde bei Privatpersonen ist zu einer Behälterwissenschaft geworden, die die alten Schuhkartons mit Familienfoto und die Koffer mit persönlichem Krimskrams des gelebten Lebens umstülpt, chronologisch oder sonst wie ordnet, mit Anmerkungen bestückt, kommentiert und liebevoll konserviert. Alltagsgeschichten von Alltagsmenschen hat die diese Behälterwissenschaft in den vergangenen Jahren zu Tausenden hervorgebracht. Leben um eine Biographie zu haben ist ergiebiger, als ein Leben in der bewusstlosen Wiederholung des Lebens selbst. (RD 218)

Wie kann gegenwärtige Zeit unter dem Blick aus der Zukunft stillgelegt werden, um die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit erfahrbar zu machen? (RD 219)

Die Pompejianisierung des Blicks musealisiert die Zeit als Zeit der Erzählung; demzufolge ist die wichtigste Aufgabe der Musealisierung, uns Zeit zu schaffen. Museen sind also Zeitproduzenten; Geschichtenschreiber, Musealisierer sind Schöpfer von Zeit. (RD 220)

Wir leben ja noch, aber die Toten haben unsere Zukunft schon erfüllt: sie sind bereits tot. Die Auferstehung der Toten ist heute wohl nur noch als Leistung der Lebenden zu garantieren, die Gegenwart als möglichst vollständige Erinnerung der Vergangenheiten aufzufassen und die Zukunft als Zeit vollständiger Erinnerung zu erwarten, in der nichts Gewesenes mehr verloren geht, also auch wir selber nicht. In diesem Sinne ist Musealisierung in der Lage, uns eine Zukunft zu schaffen. (RD 220)

Das Resultat: Dass die Avantgardekunst unseres Jahrhunderts in erstaunlichem Maße tatsächlich avantgardistisch gewesen ist. (RD 221)

Traditionalisten verlagern ihre Gegenwart bestenfalls gleicherweise in die Vergangenheit, wie die Utopisten die Vergangenheit in ihre Gegenwart versetzen. Zudem muß man wohl annehmen, dass die Lebenden eher die Toten zum Leben erwecken können, als sich immer noch Lebende in Erinnerung zu rufen. (RD 223)

Heute kann jeder kapitalkräftige Hanswurst zum Beispiel ein Atomkraftwerk bauen; es zu verhindern erst verlangt Genie. (RD 224)

Der oft hämisch als „Veralten“ der Avantgarde gekennzeichnete Prozess der Akzeptanz des avantgardistisch Neuen kommt nicht durch Gewöhnung zustande – sondern durch Selbstaufhebung des Neuen im Wirksamwerden. (RD 224)

Den Picabia, den uns Polke vergegenwärtigt, hat es zuvor noch nie gegeben. Den El Greco, den uns die Expressionisten erkennen ließen, gab es ebenso wenig in den Jahren zwischen 1600 und 1900. (RD 224)

Wie wir inzwischen nur noch im Jenseits der Gegenwart, also in der Zukunft gehaust haben, zeigen ökonomische und ökologische Tatsachen nur allzu eindeutig. Mit dem angeblich probaten Mittel der Kreditfinanzierung des „Generationenvertrages“ halsen wir die Bezahlung unserer flotten Vorwegnahme der Zukunft den Nachkommen auf; deren Zukunft haben wir verfrühstückt. (RD 225)

Wer die Zukunft sichern will, darf sie nicht vorwegnehmen. Das ist die wesentliche Maxime des Arriéregardismus! (RD 225)

Versuchen wir also, die Sehenden zu sein, die das Bild der Blinden auf ihrem Zug durch die Wüste von Metropolis betrachten. Bekennen wir uns ruhig zu unserer Besserwisserei und Arroganz der Aufgeklärten; möge unser entlastendes Lachen eher verzweifelt klingen als zynisch. (RD 227)

Der natürliche Mensch ist bloß ein Affe, ein Wolf oder ein Schaf. (RD 227)

Die alten Metropolen des utopischen Humanismus wurden in das weltweite Metropolis verwandelt, in die zeitgemäßen Verwüstungen der sich selbstüberlassenen Natur des Menschen. Die Natur ist ein gleichgewichtiges und gleichgültiges Gefüge von Abhängigkeiten aller Lebensformen als totale Funktionalität. Das eben ist Metropolis auch. Unsere humane Rationalität hat eine Natur erst zu schaffen, wie Gott einst die Welt schuf. Nur so werden wir aus den Klauen einer blindwütigen Evolution entrinnen. Das aber bedeutet, die zweite Natur der technischen Zivilisation genauso zu bekämpfen und zu beherrschen wie die erste. (RD 228)

Wenn die Straßen in Metropolis zu Flugschneisen werden, oder zu einem Geflecht vernetzter Datenstationen und personaler Computer – wenn die Plätze zu Bildschirmen werden und die Gärten zu TV-Studios, dann bleibt für die symbolische Repräsentanz kaum noch eine der bisher üblichen Repräsentationsformen. (RD 235)

Urbanität ist durch noch soviel Einpflanzen preisgekrönter Architekturen kaum zu erzwingen. Die Zuhörer währen dazu anzuleiten, ihre Stadt als das zu sehen, was sie wirklich ist und sie möglicherweise gerade deshalb lieben zu lernen, weil sie jedermann auf Schritt und Tritt stimuliert, sich vorzustellen, wie denn eine Stadt und das Leben der Bürger in ihr, auszusehen hätte, damit sie als urban, als schön, als heimatlich empfunden werden könnte. (RD 240)

Urbanität ist nicht eine Qualität der Städte, sondern ihrer Bewohner. (RD 240)

Es ist besser, von der Provinz als der Basis zu sprechen: Die Basis ist häufig schmaler als die Spitze. (RD 243ff)

Alles ist aber nur Geschmackssache, solange man einen Geschmack hat. (RD 248)

Das Führen der Unternehmen wird selbst zu einer kulturellen Aufgabe. (RD 249)

Die bedeutsamen innenarchitektonischen Tendenzen lassen sich unter dem Begriff der Inszenierung zusammenfassen. Der Innenarchitekt wird gleichsam Regisseur eines komplexen Geschehens, private Lebensräume werden zu Bühnen. (RD 254)

Den verschiedenen Gruppierungen unserer heutigen Gesellschaft muß es doch langsam bedenklich erscheinen, dass sie ihr kulturelles Selbstverständnis vornehmlich in historisch überkommenen Festarchitekturen manifestieren. Man kann nicht auf Dauer die Rituale einer feudalen ständischen Gesellschaft als Vorbilder für eine internationale Industrie- und Informationsgesellschaft beibehalten.
(RD 259)

Verbindlichkeit der Beziehungen, also Kultur. (RD 260)

Was heißt eigentlich, kreativ zu sein? Es heißt, sich aus der Welt etwas zu machen. (RD 261f)

Schenkt man denn eigentlich Geschenke – oder ist nicht vielmehr das Geschenk nur eine Verpackung der geschenkten Zuneigung? (RD 265)

Kunstwerke sind andere Werte, als sie durch Aktien repräsentiert werden. Genau diese andere Werthaftigkeit und Bedeutung der Kunstwerke wird durch die enormen Preissteigerungen mehr gefährdet als durch einen möglichen Verfall der Preise für Kunstwerke. Die Entwicklung auf dem Kunstmarkt ist allenfalls noch mit der im Spitzenshowgeschäft vergleichbar, ein bedenklicher Maßstab. (RD 269)

Die bemühten und anspruchsvollen Schreiber, die die Themen des Diskurses entwickeln, verfallen in Lethargie. Sie werden mit ein paar hundert Mark Honorar für Arbeiten über Kunstwerke abgespeist, die nicht zuletzt durchs Schreiben und Reden mehr einbringen, als das Jahresgehalt der Schreiber ausmacht. (RD 270)

Aber der Markt tut für die Entwicklung der Künstler gar nichts, weshalb man sich nicht zu wundern braucht, dass in der Kunstszene gerade in jenen Zeiten wenig Produktives geschieht, in denen der Kunstmarkt explodiert. (RD 270)

Auf pornographische Bilder scheinen alle Menschen mit starken Affekten so oder so zu reagieren. Ist es nicht das Zeil aller bildenden Künstler, eine so intensive Reaktion auf die Bilder zu erreichen? (RD 271)

Kultur hat, wer sich seine Arbeit selber schafft, wer sich seine Aufgaben selber vorgibt, und Stil hat, wer dabei kompromisslos ist. Wenn also beispielsweise Politik in unserer Gesellschaft als die Kunst des Kompromisses definiert wird, müssen wir uns nicht wundern, dass es in unserer Politik keinen Stil gibt. (RD 279)

Alles geht aber nur, wenn man es kann. (RD 278)

Vielen Autos war es beschieden, die kulturelle höchste Stufe der Aufbewahrung bis zur Ewigkeit zu erreichen, nämlich die Unterbringung in Sammlungen und Museen. (RD 284ff)

Innerweltliche Paradiese: Nur der liebe Gott verzichtete noch darauf, eine achtzylindrischen Mercedeskompressor für seine Inspektionsfahrten zu benutzen. (RD 285)
Bis in unsere Tage wehren sich die Menschen verzweifelt gegen die Einsicht, was sie den Dingen antun: Was der Mensch einmal in der Hand hatte, wird zu Müll. (RD 286)

Zu den Problemen jeder industriellen Produktion gehört eben nicht nur die Herstellung, also das In-die-Welt-bringen der Güter, sondern auch der Verbrauch, also das Aus-der-Welt-bringen der Güter. (RD 286)

Auto-Mobil-Friedhof – wörtlich; sich selbst zum Grab hinbewegen. (RD 288)

Der Dämon unserer Zeit scheint sich nirgends so übermächtig und so wirklichkeitsbestimmend zu zeigen, wie in der Verwandlung der Welt on eine lebensfeindliche, unkontrollierbare, mondtote Giftmülldeponie. (RD 289)

Joseph Beuys fühlte sich nirgends so wohl wie da, wo er so etwas wie Volksbildung, Volkserziehung spürte. Seine Mitstreiter und Gastgeber haben ihn immer wieder gefragt, warum er zu jeder noch so kleinen Veranstaltung hindüse. Mir antwortete er einmal: „Ja, hör mal, wenn Du das nicht verstanden hast, dass es eine Gnade ist, das einem jemand zuhört, dann hast Du ja auch gar nichts zu sagen.“ Was Beuys an genial Hochfahrendem, dann aber auch wieder kabbalistisch Heiterem, an pathetisch Menschheitsbeglückendem verkündete, ist im Kern als Reaktion auf die unerwartete Tatsache zurückzuführen, dass ihm jemand zuhören wollte. Am herzlichsten lachte er über das, was er da eben, auch für ihn selbst überraschend, gesagt hatte. (RD 291ff)

Kann man sich den „Unbekannten Soldaten“ bekannt vorstellen, personifiziert? Oder den anonymen Zeitgenossen, den Mann von den New Yorker Straßen? Den abstrakten Typus als konkretes Individuum? Man konnte – jetzt starb er – Andy Warhol. (RD 298)


Aus: Die Welt zu Deinen Füßen

Bodenkunde
Warum küsst z.B. der Papst den Boden? - Warum werden rote Teppiche ausgerollt, Blumen gestreut oder Palmwedel ausgebreitet? - Was sahen Sie, als Sie mit Ihrer Freundin im Gras lagen? - Hat Ihnen schon jemand die Welt zu Füßen gelegt und Sie gleichzeitig ermahnt, immer hübsch auf dem Teppich zu bleiben? - Haben Sie sich schon mal vorgestellt, wie Sie die Radieschen von unten betrachten? - Lauter Fragen, die sich nicht unter den Teppich kehren lassen. (WF2)

Haupt- Nebenwege
Wer bewirtschaftet und besitzt, ist sesshaft. Er bewegt sich vornehmlich auf Nebenwegen, also im detail der Welt. Wer auf Hauptwegen vorankommen will, darf sich nicht an Details festmachen und an festen Besitz ketten. Er darf nicht sesshaft sein, er muß sich als Wanderer verstehen, als Viator Mundi – sein Feld ist die Welt. In gewisser Weise muß man also im leben Nebenwege beschreiten um für den Hauptweg vorbereitet zu werden, den Weg in die Ortslosigkeit jenseits der gestaffelten Horizonte irdischer Welten. (WF6)

Öffentlichkeit / Gemeinwohl
Die Bedeutung, die zu Zeiten der antiken Griechen und Römer den einzelnen Bürgern zugestanden wurde gründete sich ausschließlich auf deren Wirken für das Gemeinwohl. Heute richten wir unser Leben in erster Linie auf die private Sphäre in Haus und Wohnung aus. Wir müssen lernen, die Bedeutung der Öffentlichkeit für unser bürgerliches Leben wieder so hoch einzuschätzen wie in den Zeiten blühender Stadtgemeinschaften. (WF10)

Labyrinth / Ausweg
Die Welt gerade als Labyrinth zu empfinden oder sie als labyrinthisches Modell zu bauen, eröffnet den tröstlichen Gedanken, dass es einen Ausweg gibt, auch, wenn ihn keiner kennt. (WF16)

Chaos / Entschlüsselung
Auch das Chaos unterliegt ordnenden Gesetzmäßigkeiten, die man prinzipiell entschlüsseln kann. Leider kann die Entschlüsselung längere Zeit in Anspruch nehmen, als den Entschlüsslern zur Verfügung steht. (WF16)

Supervision
Wir erfahren eine Ordnung als labyrinthisch, weil wir Bestandteil dieser Ordnung sind und sie nicht als ganze von außen zu erfassen vermögen. Also haben wir zu lernen, das dem Zusammenhang der Formen herauszutreten zur Supervision. Man beginnt auf Maulwurfshügeln, besteigt Feldherrnhügel, Türme oder Bergspitzen, um den Überblick zu gewinnen. Aber um tatsächlich supervisionär zu schauen, bedarf es der Einübung in die Vorstellungskraft. (WF18)

Lebensrad
Die Nabe des Lebensrades bleibt leer, weil die Menschen sich nicht mehr ins Zentrum der Bewegung zu stellen vermögen, sondern hilflos versuchen, den schwungvollen Lauf des Rades, an das sie sich klammern, im Auf und Ab des Lebens auszunutzen. (WF23)

Die Gehschrift der Menschen
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen führt mich auf den birkenumsäumten Sommerweg von Kamelow nach Vilkow zurück. Der Weg verlief durch leicht hügeliges Gelände in schwingenden Bewegungen, die sich auf den Wanderer übertrugen. Der Weg teilte sich in lauter einzelne Strecken, die vom jeweiligen Standpunkt bis zum nächsten Biegungshorizont verliefen. Der Wanderer beschleunigte seine Gangart immer mehr, weil er es immer weniger ertragen konnte, bei langsamer Annäherung an die Wegbiegung sich vorzustellen, wie der Weg jenseits der Biegung bis zur nächsten Biegung verlaufen würde. Jeder Weg verlief damals ins Ungewisse. (WF26)

Konversionen
Die Verwandlung eines Saulus in einen Paulus wurde eine verallgemeinernde Kennzeichnung für Bekehrungen. Das umgekehrte Motiv der Verwandlung eines Paulus in einen Saulus schildert Fontane in Effi Briest. (WF42)
Fährtenlese
Karl May brachte uns Kindern bei, wie ein Indianer zu sehen: ein Auge auf den Boden unmittelbar vor unseren Füßen gerichtet, das andere 50 m voraus. Voraus sehen wir also abstrahierend. Nah sehen wir konkretisierend. (WF56)

Kinderzimmer
Wer Kinderzimmer aufräumen muß, empfindet häufig, ein Sakrileg zu begehen, denn was die kleinen da auf dem Zimmerboden anhäufen, hat die Anmutung geheimnisvoller Gestaltungskräfte; Kinder sind Meister der Animation, sie hauchen selbst dem Plunder noch Leben ein. (WF68)

Fliegende Teppiche
Kinder spüren offenbar, dass die in den Teppichen eingewebten Zeichen die Arbeitsgesänge oder Erzählungen der Knüpfer bewahren. (WF69)

Absolutheitsanspruch / Schwarzes Quadrat
Der Absolutheitsanspruch der Moderne wurde künstlerisch repräsentiert von Malewitschs „schwarzem Quadrat“, das nicht nur Hitler, Heidegger oder Chaplin (alle Jahrgang 1889), sondern auch Hollywoodianer und höhere Herrschaften als Oberlippenbart in die Öffentlichkeit trugen. (WF70)

Gründerzeit
Nicht nur die Wände, sondern auch Türen und Fenster, Tische und Sessel, sie wurden dekoriert, als lebte man in einem orientalischen Zelt. Mit der Umrüstung des Hauses zum Prachtzelt versetzten sie sich in die Romane des Imperialismus. (WF85)

Wasserwandeln
Jesus kam zu ihnen und ging auf dem Wasser. Und muß sich von Tünnes und Schäl sagen lassen: Kein Wunder, er kann ja nicht schwimmen! (WF85)

Schüzengräben
Jetzt gab es für diese Männer nichts Ekelhafteres als die Schützengräben. Schlamm, Kälte, Rate; der süßliche Geruch der Kadaver, der undefinierbare Gestank der Exkremente, die Angst. Der Schützengrabenkrieg war die absolute Verneinung jeder Kriegskunst. Warum? Kriegskunst ist Bewegung. Die Front ist zur Mauer geworden. (WF86)

Seekrankheit / Drehschwindel
Der Salon des Hofrats Gentz war derart mit gefütterten Teppichen ausgelegt, „dass man bei jedem Schritte wie in einem Sumpf einsank und eine Art Seekrankheit bekam“, erinnerte sich Grillparzer. Das Künstlerpaar Anna und B.J. Blume vergegenwärtigt in ihrer Fotosequenz „Wahnzimmer“ den Drehschwindel der zwischen Herd und Schrank, zwischen Tisch und Bett rotierenden Hausfrau. (WF88)

Ausfegen
Magie zufolge kehrten hexen den Unrat auf dem Fußboden mit dem deshalb so genannten Hexenbesen zusammen. Wenn man hinter jemand das Zimmer auskehrt, dann stirbt er. Beuys’ Aktion „Ausfegen“ könnte auch für politische „Säuberungen“ stehen, etwas für die Moskauer Prozesse Stalins gegen die Konkurrenzen um Lenins Erbe oder die nationalsozialistische „Säuberung“ ganzer Lebensräume von Juden. Wie für die Reinigung des jüdischen Tempels in Jerusalem durch Christus. (WF93)

Kunstsammler / Haufenbildung
Haufenbildung ist eine Struktur der Versammlung. Durch das Zusammenstellen der einzelnen Elemente entsteht eine Beziehung zwischen ihnen, die als sinnhafter Zusammenhang den einzelnen Werken nicht eigen ist. Man entdeckt eine Beziehungsgefüge auch zwischen Dingen, die nach Art und Herkunft kaum etwas miteinander gemein haben. In den Kunst- und Wunderkammern wurden eben nicht die einzelnen Dinge ihrer Kuriosität wegen versammelt; vielmehr stellte man in ihnen Sinnzusammenhänge aus. So werden Sammler zu Stiftern von Sinn. Der Raum über dem Boden erweitert sich um alles, was darauf ist. (WF100)

Beziehungsreich
Die Aufnahme des eigenen nackten Fußes auf Kieseln stellt die Wahrnehmung des Auges mit der des Tastsinns in Beziehung. (WF104)

Bodenkontakt / Barfußgehen / Erste Schritte
Jeder kann nachempfinden, welche Bedeutung dem ersten Schritt zukommt, mit dem man wieder festen Boden unter den Füßen gewinnt. Seit Homer schilderte, wie der schiffbrüchige Odysseus seinen ersten Schritt auf die Strandkiesel der Phäaken-Insel setzt, wecken alle nachfolgenden Erzählungen in der Schilderung dieses Akts auch die Erinnerung an den wichtigsten Schritt der Evolution, das Leben aus dem Meer auf die feste Erde zu lenken. Ins kollektive Bildgedächtnis hat sich die Übertragung der Mondlandung eingeschrieben, bei der Armstrong den ersten Schritt auf den Erdtrabanten setzte. Heutige Lebensreformer propagieren das Barfußgehen, um Zivilisationsgeschädigten hautnah therapeutischen Kontakt mit unserer Entstehungsgeschichte zu ermöglichen. (WF105)

Macht
Der Herrscher beherrscht also nicht die Welt, sondern die Gedanken und Vorstellungen von Menschen. (WF106)

Kind / Macht / Verantwortung
Jedes Kind hat an puppenstubenartigen Spielzeugwelten den erregenden Augenblick genossen, die großen Burgen, Bauernhöfe oder Bahnstationen plötzlich unter sich, zu den eigenen Füßen, anstatt – wie herkömmlich – vor und über sich zu sehen: man wird ohne Zaubertrunk zum Riesen. Erstaunlicherweise lernen in solchen Modellen spielende Kinder sehr schnell, dass die ihnen gegenüber den kleinen Dingen zukommende Gewalt und Allmacht gezügelt werden muß. Selbstbeherrschung und Verantwortung gegen das ohnmächtige Kleine werden gerade im Spiel mit den Wehrlosen und Zerbrechlichen geübt. (WF115)

Klein / groß / nah / fern
Längst hat sich das Verhältnis von Fern und Nah und von Groß und Klein in komplizierter Weise zersplittert. Die Spaltung des scheinbar kleinsten, des Atoms, entwickelt die größten Fernwirkungen, zeigen sich von größter Potenz. (WF127)

Sittengeschichte
Die Sittengeschichte Europas wie des arabisch-persischen Raumes wurde vor allem von den Verhältnissen geprägt, in dem jeweils spirituell-mystische und sexuell-erotische Anziehung standen. Diese Verhältnisse wurden z.B. im europäischen Mittelalter, angeregt durch arabische Vermittlung sowohl antiker wie islamischer Auffassungen, zweifach ausgebildet: im Minnekult und in der Marienverehrung. (WF130)

Erfüllung
Barbarisch ist man nur solange, wie man rückhaltlos das Glück, die Erfüllung außerhalb seiner selbst sucht. (WF161)

Warhol
Den Verkehr mit seinen Klienten reduzierte Warhol radikal auf die Frage: Kauft ihr oder kauft ihr nicht? (WF168)

Kinder / Bodenproben
Zu den Strategien der Kinder, ihre Umwelt zu entdecken, gehört es, mehr oder weniger systematisch Steine Kisten Planken und was sonst alles in Garten und Feld seit langem herumliegt, umzudrehen. Zwar wirkt das Gras dieser Stellflächen wie abgestorben, aber dann entdeckt man, dass es in diesem scheinbar toten Areal von Regenwürmern, Käfern und Engerlingen wimmelt. Wie tief ist „unter der Erde“ -
von hier durch die ganze Erde bis nach Australien? Und dann beginnen die Kinder zu graben – mit Neugierde, aber in scheuer Erwartung, dass sich aus der dunklen Erde etwas Unheimliches auftue. (WF183)

Reformation / Bildersturm
Die karge Nacktheit der Architektur, der reduzierte Augenreiz hatten die Vorstellungskraft der Gläubigen zu stärken. An die Stelle des kirchlichen oder weltlichen Kultwerts der Bilder und Werke trat ihr Wert als Bildbegriff, sie wurden zu Denkbildern. (WF185)

Tod / Ewiges Leben
Tod ist die Voraussetzung des ewigen Lebens. (WF187)

Delacroix / Ikone / Linke
Im Jahre 1831 wurde im Pariser „Salon“ das Werk „Die Freiheit der Barrikaden“ des Malers Eugéne Delacroix ausgestellt – ein Manifest auch der Bereitschaft von Künstlern, für ihre Werke über Leichen zu gehen. (WF190)

Blutlauf / Blutläufe
Blut zu vergießen war nur ausgewiesenen Personengruppen erlaubt: Metzgern, die an ihren Läden eine rote Fahne hissen mussten, kontrolliert von Priestern; Kriegern im Auftrag ihrer Gesellschaften, kontrolliert von Richtern und Priestern; Henkern und Scharfrichtern, kontrolliert von Gerichtsherren; Ärzten, kontrolliert von ihren Kollegen; und schließlich von Priestern selbst in Kulthandlungen, in denen der Erhalt einer Gemeinschaft erzwungen werden sollte. In unserm Jahrhundert erhielt endlich das Publikum der Massenmedien die Lizenz, Blut fließen zu lassen, weil der Zugang zu diesen Fotos und Filmen mit Eintrittgeldern bezahlt wurde. (WF193)

Bombenteppich / dem Erdboden gleich
Daß Bomberpiloten während ihrer Angriffe ihre psychische Anspannung mit der Liedzeile „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ so sarkastisch kommentierten, mag Legende sein; aber dass sie den Himmel mit verwüstender Kraft auf die Erde zwingen, ohne Ansehen der Sünder und Gerechten, der Krieger und Zivilisten, ist seit der Nacht vom 14. Auf den 15. November 1940 historisch. In der Nacht machten deutsche Do 17-Flotten die englische Industriestadt Coventry „dem Erdboden gleich“. Anschaulichkeit gewann aber solches Flächenbombardement erst nach dem englischen Großangriff auf Köln am 30. Und 31. Mai 1942 . In der deutschen Bevölkerung verbreitete sich danach der Begriff „Bombenteppich“. (WF223)

Zunehmende Vermondung der Welt
Zum Ort der erhabenen Gefühle wurden die Schlachtfelder und riesigen Müllhalden oder die Konfrontationen mit der Leere in unserem eigenen Inneren. (WF233)

Katastrophe / Augenblick, verweile doch, du bist so schön
Der Blick des modernen Betrachters: die Erwartung der Katastrophe. Heutzutage schützt man sich vor dem Verrücktwerden, indem man seine Pocket-Videokamera ergreift, sobald man das Haus verlässt – es könnte ja etwas passieren. (WF234)
Ikarus
Ikarus scheiterte, weil er ohne soziale Bindungen auszukommen glaubte. (WF235)

Aus: Die Macht des Alters

Wir beginnen zu altern, kaum das wir auf der Welt sind. Auch die Weltsicht und das Wissen der Zwanzig- bis Sechzigjährigen veralten in immer kürzeren Abständen. Man kann heute im Alter von 30 gegenüber einem 25jährigen bereits ungeheuter alt aussehen. Schnell zu altern ist offensichtlich nicht nur Moden beschieden, die sich per Definitionem alle sechs Monate erledigen sollen. Und nichts ist älter als die Zeitung von gestern. (MA11)

Die Industrie hat Strategien des Recycling entwickelt, und Museen sind darauf spezialisiert, mit dem Alten, Überständigen sinnvoll umzugehen. Künstler können uns das Thema für eine neue Wertung erschließen: Alter nicht als Drohung des Lebensendes, sondern als Strategie der Vollendung von Tagen und Werken auf jeder Lebensstufe. Von Künstlern zu lernen heißt, Lebenslauf und Werklauf in Beziehung zu setzen. Altern ist eine Strategie der Meisterschaft. (MA11f)

In unserem Jahrhundert, dem Jahrhundert des Kindes und der Jugend, hatten Jugendliche kaum Einfluß auf die Zukunft. Die Ausrufung des Jugendkults seit etwa 1900 war eine raffinierte Strategie der politischen, sozialen und ökonomischen Einflussnahme auf den Nachwuchs, Pfadfinderhäuptlinge, Wandervogelführer und SAT1-Programmchefs boten und bieten das groteske Bild von Berufsjournalisten in „kurzen Hosen“. (MA13f)

Die Beschleunigung der Arbeitstakte an den Fließbändern wurde zur Meßgröße für die allgemeine Lebensdynamik. Time ist money, Zeit ist also eigentlich Kapital. Gefordert ist Zeitschöpfung! (MA14)

Die Erfindung der Geschichte war eine Zeitschöpfung von größter Bedeutung. (MA15)
Was bedeutet denn schon die Verdopplung der Zahl irdischer Jahre beim gleichzeitigen Verlust des Glaubens an eine ganze Ewigkeit? (MA15)

Die Alten sind erinnerungsmächtiger. Jeder kennt die Faszination, die – vor allem in der Kindheit – von den Erzählungen der Älteren auf ihn ausging. Diese Übertragung von Erinnerung sichert den Älteren den Einfluß auf die Nachlebenden weit stärke, als das Vermächtnis von Geld und Gut. (MA16)

Erzählungen bestimmen den größten Anteil des Austauschs zwischen Menschen. Man muß nicht lange nach einer Erklärung suchen, warum Familienserien und Seifenopfern im Fernsehen so erfolgreich sind – nicht weil sie Zeit totschlagen, sondern weil sie geradezu den klassischen Konzepten (Aristoteles, Lessing) zur Formung der Zeit als Erzählung folgen. (MA16)

Es hat lange gedauert, bis man entdeckte, dass jeder Mensch eine Biographie hat, nicht nur Staatsgründer, Religionsstifter und Künstler. (MA18)

Alte sind Stoiker. (MA21)

Er beendete seine Arbeit, wenn er zu Sätzen gefunden hatte, die vertretbar sind. (MA21)

Altwerden zu können war die Hoffnung in Zeiten, in denen das Durchschnittsalter der Bevölkerung unter 40 Jahren lag. Heute droht der Erfolg derartigen Fortschritts –
Die gefürchtete Alterslawine – jene humanistischen Zielsetzungen zu zerstören. (MA24)

Am Beispiel der Sexualität läßt sich erkennen, dass die Empfindung von Altssein subjektiv von der Erwartung abhängt, die in der jeweiligen Gesellschaft vorherrscht. Als man – wie Kant – mit 50 bereits als „verehrter Greis“ angesprochen wurde, glaubte man zu wissen, dass jenseits der 40 die sexuelle Potenz und das Verlangen erlöschen würden. Wer das nicht akzeptierte, wurde als „geiler alter Bock“ der Lächerlichkeit preisgegeben. Inzwischen stellen durchschnittliche Siebzigjährige in dieser Hinsicht an sich selbst ganz andere Anforderungen. (MA25)
Optimale Gewichtungen werden durch den Begriff „Vollendung“ charakterisiert, d.h. wenn irgend etwas Geschaffenem nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden kann, wenn der Schuh sitzt, passt und Luft hat. (MA29)

Der Triumph im Misslingen oder das Scheitern als Form der Vollendung konnte zum Inbegriff künstlerischer Größe werden. Aber nicht alles Unfertige ist auch „u vollendet“, und nicht jedes Scheitern gelingt. (MA30)

Wer von Fragmenten spricht, muß do wohl eine Vorstellung vom „Ganzen“ haben. Nie empfinden wir die Sehnsucht nach der schönen heilen Welt stärker als zwischen Trümmern oder vor dem Scheidungsrichter. (MA30)

Niemand hat in diesem Jahrhundert die peinigende Frage „Und das soll Kunst sein?!“ radikaler gestellt, als die Künstler selbst. (MA33)

Wer, wenn nicht die Alten, erfüllt alle Bedingungen professioneller Betrachterrollen: Zeit, Unabhängigkeit und Urteilsvermögen. Wer seit 50 Jahren ins Museum geht und das Interesse noch nicht verloren hat, hat das Examen für professionelles Publikum bestanden! (MA35)

Immendorff verwandelt die Hogarthsche Schönheitslinie in eine Wäscheleine, auf der er seinen Bilderkosmos mit hausfraulicher Fürsorge auslüften läßt. (MA46)

Daß Götter und erst recht Menschen zu faulenden Madensäcken verkommen, die jeder Marmor beschämt, ist ein Skandal, den es mit der surrealistischen Faszination am Morbiden zu feiern gilt. Der Inbegriff dieser Faszination ist die Kunst. Zollen wir ihr also „Respect“ mit der Härte gegen unsere Vergöttlichungssehnsucht, fleißig und selbstverzehrend. Das fördert die Intuition für die Menschen als Mängelwesen. Ehre der Vergänglichkeit! (MA48)

(über Neo Rauch, Etappe) Der Boxenstopp wird ewig dauern, trotz simulierter Hektik des Rennstallteams. Der junge Mann am Steuer scheint Mitglied der „Gesellschaft zur Verzögerung der Zeit“ zu sein – nicht weil er Angst hätte vor den sichtbar aufziehenden Unwettern oder einem Unfall: offensichtlich ist dem Piloten der Sinn eines ewigen Rennens gegen die Konkurrenz und gegen sich selbst abhanden gekommen. (MA52)

Gerade unter dem Druck ernüchternder Hässlichkeit von „Ferienparadiesen“ entwickeln wir Sehnsucht nach Schönheit. Auf den Sonnenterrassen alpiner Gipfel in ihrer noch so anspruchsvollen Gestaltung wird uns das Verlangen nach Himmelsnähe und klarem Weltenblick unerfüllt bleiben: Suchen wir diese Ort nicht auf, um genau diese Erfahrung zu machen, und nicht erst wir?! (MA55)

Bernsteintage
Jede Klause ist auch eine Klausur. Was uns schützend umschließt, erweckt das irritierende Gefühl der Klaustrophobie, die nicht nur in realen Räumen, sondern auch in Erinnerungsräumen erfahren werden kann. Wir sind eingeschlossen in unsre Erinnerungen. (MA75)

Was ist Gesundheit anderes als noch nicht diagnostiziertes Kranksein? (MA105)

Kunst und Kultur sind grausam. Therapielingen kann geholfen werden: an der Hand der Künstler lernen sie garantiert das Fürchten. Und wen nichts mehr schrecken kann, der wird uralt. (MA105)

Beethovens Neunte zur Grundsteinlegung von Bayreuth, Beethovens Neunte zur Einstellung des Festspielbetriebs im Ersten Weltkrieg,, Beethovens Neunte zur Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele 1924, Beethovens Neunte zur Einstellung der Festspiele 1944, Beethovens Neunte zur Wiedereröffnung der Festspiele 1951 und so fort. Inzwischen Beethovens Neunte zur Eröffnung Olympischer Spiele, zum Fall der Mauer, zur Einweihung von Supermärkten und als Eurohymne. (MA130)

Erst die Verfolgung von Künstlern, die Zerstörung ihrer Werke haben sie zwangsläufig zu Kulturheroen werden lassen. Daß die Künstler ihrerseits gegeneinadner gnadenlos konkurrieren wie alle Produzenten von Wirtschaftsgütern, dass sie parteiliche Seilschaften bilden wie alle Repräsentanten politischer Interessen und dass sie sich als Selektionskommissare gegen ihre Kollegen bedingungslosem Gehorsam unterwerfen wie irgendein Militär, muß man ihnen offensichtlich nachsehen, weil ihnen solches Verhalten schließlich durch ihre Verfolger aufgezwungen wurde. (MA132)

Alter ist ein Sturm aus der Zukunft und nicht ein treibender Rückenwind aus dem verlorenen Paradies. Wer das in Rechnung zu stellen vermag, kann mit seiner wohlbegründeten Zukunftsangst besser umgehen, denn er hat den Schrecken des Endes bereits hinter sich. (MA132)

Was wir Dauer nennen ist die dauernde Anwesenheit der Toten und ihrer Vergangenheiten in der Gegenwart der Lebenden. Friedhöfe und Museen, Bobliotheken und Archive, Monumente und Memoriale, Architekturen und Ortsnamen verkörpern und repräsentieren solche Dauer als Möglichkeit der Wiederholung der Auferstehung, der Vergegenwärtigung. Heute bedienen sich schon fast alle Zeitgenossen der Technik des recording in Bild und Ton: sie lassen Clark Gable per Videorecorder auferstehen; sie halten eine Lebensszene per Foto permanent verfügbar und collagieren bei Familienfesten Lebensläufe zu Biographien, in denen souverän Zeiten und Räume ineinander verschachtelt und auseinandergenommen werden, wie es noch vor kurzem bestenfalls Kulturprofis zu tun ermochten. (MA142)

(zu Gunther von Hagens plastinierten Körpern) „Das laufende Bild“ war eine aufregende Kennzeichnung der Leistung des Stummfilms, „das sprechende Bild“ die des frühen Tonfilms. Generell gilt Animation, also Verlebendigung, als höchste zu erstrebende Leistung des Umgangs mit totem Material. (MA144)

(zu Carsten Höllers weißem Elefanten) Bei den jährlichen Besuchen des Zirkus: Die Elefanten waren so klug und kooperationssensibel, das Ballett ihrer Körpermassen mit eigener Lust an der Aufführung zu choreographieren; den menschlichen Zeremonienmeister benutzten sie nur als Metronom, an dem sie ihr Verhalten synchronisierten. (MA154)

Und dann sahen wir Tarzan, Jane und Cheeta als erste heilige Familie in der Einheit von Mensch und Tier. Tarzan redete nicht nur mit den Tieren wie ein Hl. Franziskus aus Hollywood; er aktivierte ihren natürlichen Sinn für Gut und Böse, für Frieden und Gerechtigkeit, für Takt und Würde derartig, daß sie zum uns beschämenden Inbegriff wahrer Menschlichkeit werden konnten. (MA154)

Animation
Alle Bildwirkung geht vom Betrachter aus; der Künstler bietet durch seine Fertigkeit den Anlaß für die Übertragung von Lebensenergie und psychischer Kraft auf das Artefakt. Ein Kunstwerk, ein Artefakt, wird nur in dem Maße sprechen und wirken, wie man selbst es zur Sprache bringen kann und zu verlebendigen vermag. Diese Leistung anzuspornen ist die Leistung des Künstlers. (MA156)

Unsere Machtgesten und Herrscherattitüden als Menschen gegenüber anderem Leben sind lächerlich: Die angebliche Krone der Schöpfung sieht sich in allen wesentlichen Parametern des Lebendigseins durch Vieren und Bakterien, Ameisen und Termiten, Zecken und Kakerlaken , Algen, Quallen und Haifischen in den Schatten gestellt: Viren und Bakterien übertreffen unsere Anpassungsfähigkeit, Ameisen und Termiten formen die größte Biomasse, und wollten wir uns etwas auf unser evolutionäres Altern einbilden, so würden uns die Haifische lehren, dass sie Hunderte von Millionen Jahren länger auf Erden existieren, und zwar unter Konstanthaltung ihrer organismischen Form, die so perfekt gebaut ist, dass sie in dieser unendlich langen Zeit nicht mehr im geringsten zu optimieren war. Den Horror, den diese Kränkung auslöst, wurde durch die Mitteilung von Biologen verstärkt, die kühl konstatierten, dass diese Lebewelt selbst den totalen Einsatz aller atomaren Sprengköpfe ohne den geringsten Schaden überstehen würde. (MA158)

Bernsteineinschluß
Niemand vergisst seine ersten Blicke auf einen Bernstein, in dem eine Ameise oder ein ähnliches organisches Substrat eingeschlossen ist. Den Bernsteineinschluß erleben wir als die vollkommenste Konservierung von Zeit und Zeitlosigkeit ewiger Gegenwart, und er ist deshalb bis heute, bis zur Etablierung von Genbanken, der höchste Maßstab für alle kulturellen Anstrengungen, einen Augenblick auf Dauer zu stellen. (MA162)


Altern ist ein permanenter Prozeß der Wandlung, der unmittelbar nach der Geburt respektive der Indienstnahme des Produkts einsetzt. Altern als Wandlung vollzieht sich so lange, bis die Betriebseinheit dysfunktional wird., Dann beginnt diee Umwandlung zu Stoff, aus dem wir und die Dinge gemacht sind. Die Industrie orientiert sich verstärkt an dem Verwertungskreislauf der Natur. Durch Schließen des Kreislaufs werden Lebens- und Produktionseinheiten nachhaltig. In gewissem Sinne kann man aber auch Arbeitsprozesse von Künstlern als ein permanentes Wandlungs- und Umwandlungsgeschehen im geschlossenen Kreislauf verstehen. Das einzelne Werk repräsentiert das Nachhaltigwerden der Gestaltungsprozesse. Überdeutlich gesagt: Auch Künstler recyclen Formen und Gestalten, Bildgedanken und Entwicklungskonzepte, die sie Vorgängern oder auch ihren eigenen früheren Arbeiten entnehmen. (MA229)

Wer ist schon noch bereit, zu erkennen, dass Alter die einzig verbindlich vorhersagbare Zukunft der Jungen ist. Das Alter hat man vor sich und nicht hinter sich. (MA240)

Altern
Der morgendliche Blick in den Spiegel, das empfindet so gut wie jedermann, zwingt uns, den Abstand zwischen Selbstbild und reflektiertem Bild anzuerkennen. (MA244)

Gehirn
Das Gehirn untersucht sich selbst. Auch die Feststellung von Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit sind eben Produkte dieses Verstandes. (MA250)

Wir wissen, dass Parallelen sich erst im Unendlichen schneiden, aber wir sehen ihren Schnittpunkt tagtäglich – Eine perfekte Täuschung: das Kunstwerk. (MA253)

Aus: Die Revolution mit der Heizdecke
Es ist die grundsätzliche Annahme einer Fälschung der Ereignisse, dass sich die Presse, dass sich alle mythologischen Erzähler darauf geeinigt haben bestimmte Namen von Ereignisorten immer zu wiederholen, immer wieder Dutschke, immer wieder Berlin, sie denken damit schaffen sie einen Kanon, dann ist das schließlich die neue Heilslegende. Das ist Falsch. Es ging gerade um die Auffassung jeder an seinem Ort, jeder in seinem Bezug, also der Banker als Künstler, der Polizist als Künstler, und die Hausfrau als Künstler.

Der Gegensatz von Düsseldorf und Köln, das eine katholisch, bischöflich, durch die Kirche regiert seit Jahrhunderten, das andere fürstlich regiert, weltmännisch hieß also auch, in Düsseldorf gab’s die praktizierenden Künstler mit allen ihren Varianten, und in Köln gab’s die Konzentration sozusagen auf die Theologie der Kunst.

Der Kölner Kunstmarkt war von herausragender Bedeutung. Weil Galeristen wie Zwirner auf die Idee kamen, in ihren Räumen nicht nur Bilder aufzuhängen, sondern auch gesprochene Worte. Also auch gedachte Theorie: Kommen sie zu uns rein, heute Nachmittag denkt zwischen 14 und 18 Uhr der zeitgenössische Denker X für Sie, schaun Sie ihm beim Denken zu.

(Autoren als Discjockey)
Ich glaube, wir machen uns keines Sakrilegs schuldig, wenn wir auch in diesen Tagen unter dem Stichwort ‚welche Lieder singt die Revolution und welche Platten hört der Revolutionär’ die Zeithobel ansetzen und von unserer Stange wieder ein Stündchen runterhobeln.

Das war damals schon ein Hochgenuss, allein so im Auto zu sitzen, vornehmlich wenn das Auto selber eine ganze Welt darstellte, durch das Styling, durch die ungeheure designreiche Aufmotzung dieses Gefährts, es war ja der verschiedenste Ausdruck von Modernität schlechthin.

Ruhender Verkehr hieß für Vostell die Beobachtung, dass der Verkehrstau ja die normale Erfahrungsform der Teilname am Verkehr der Autofahrer darstellte. Und da ging’s ja um die Frage, was bedeutet das eigentlich? Darüber haben wir damals schon diskutiert: Es ist eigentlich der partielle Einzug in eine Mönchszelle, im Auto ist man gott-sei-dank geschützt und allein. Es gab das Autoradio, man konnte konzentriert hören […]. Also lernen sie im Stau, d. h. bemühen sie sich um stundenlanges allein sein, das haben sie nur noch im Auto, nirgends mehr sonst, da könne sie konzentriert lernen.

Und man sah wie das wirkte, der Vietnamkrieg, so war die allgemeine Überzeugung, der ist anders ausgegangen als die Veranstalter sich das gedacht hatten, weil durch das Fernsehen das generelle Subjekt Weltbürger als Zuschauer am Bildschirm gebildet wurde, das überall das gleiche sehen konnte. Es war dann doch die Einheit der Weltbürger, die am ehesten noch auf der Ebene der Kunst, der Pop-Musik und ähnlichem durchsetzbar war. Das las und hörte man als den „Sound“ der Weltzivilisation und nicht mehr als das Getute irgendwelcher Kulturhoheitsträger aus irgendeiner Region.

Der Kern der 68er Bewegung in NRW hat sich ja auf die Vorgänge an der Kunstakademie konzentriert, also um Beuys als Lehrer in Düsseldorf. Das berühmteste weil missverstandenste Wort das Beuys im Hinblick auf die Befreiungsaktivitäten der 68er Generation gesprochen hat, nämlich jeder sei ein Künstler, ist ganz anders gemeint, und hat eine viel größere Bedeutung.

Also die entscheidende Orientierung von 68 war die schätzenswerte Erfahrung, dass überall etwas geschieht, das im Zusammenhang des Ganzen erst die Kraft bildet Und dabei lernte man eben noch die kleinsten Dinge zu schätzen: eine Stammtischversammlung, oder eine Busreise von Leuten bei denen man einstiegen konnte und ihnen ein bisschen alternative Geschichte der Heizdecke erzählen konnte.

Beuys ist ja so weit gegangen, daran sehen Sie es am besten, dass er zu jeder Kaffeetafel, die irgendwo tagte - vier Hausfrauen sagten ‚oh, wir haben da ein Problem, wir rufen Beuys an – dann kam der, und selbst wenn’s in Wanne Eickel oder irgendwo auf dem Dorf gewesen ist. Es ging ja gerade nicht um die zentralen Städte man kann fast sagen, je unbedeutender der Ort war, je weniger attraktiv der Einladende war, also je banaler die Gründe, desto wichtiger war es da hinzufahren.

(Autoren als Discjockey)
Ich komme in ihre Häuser, in ihre Hütten, in die deutsche Pissoirlandschaft, und erarbeite in etwa vier bis sechs Wochen einen Aspekt auf ihr Leben, schlage ihnen dann mehre Möglichkeiten vor dieses ihr Leben so zu ändern, und zwar real, dass sie für einige Zeit wirkliche Erfahrungen machen können. Was anders sein könnte, Was ganz anderes sein könnte oder auch müsste. Letzte Möglichkeiten, heute Handlungszusammenhänge zu erfahren, bietet das Theater. Eigenen Sie sich die Mittel des Theaters an. Übertragen Sie die Demonstration in ihr reales Leben. Bestellen Sie mich. Ich komme gern. Und alles wird anders.

Das entscheidende Moment zwischen der Künstlergruppierung- also Adorno bis Beuys, und der allgemeinen sozialen politischen Bewegung war, dass die Künstler den Demonstranten die Mittel zur Verfügung stellten, mit denen die auf die Straße gingen. Das Thema hieß Monstranz und Demonstranz. Wir bauten neue Monstranzen, interessante Formen von Spruchbändern, oder Aufmerksamkeit erregende Bewegungsformen es kam so weit dass Vostell häufiger neben den Straßendemonstranten herlief und den Demonstranten zurief: Was ihr das gerade macht hab ich ja gerad erfunden.

Die machten sich ja interessant, waren Gegenstand der Medienberichte, weil sie als Akteure auftraten, also quasi als Künstler. Also eine illegitime Art, das in Dienst zu nehmen, was auf den Bühnen des experimentellen Theaters, was in den Schreibstuben der Literaten ausbaldowert worden ist. Es war sicherlich in hohem Maße der Fintenreichtum, der Erfindungsreichtum, die ikonographischen Phantasien von Künstlern, die wirkten, die sich allgemein der Vorstellung der Menschen bemächtigt.