Magazin FOCUS 41/2010

Deutschland wird am Hindukusch nicht verteidigt, sondern in Frage gestellt -mitsamt der westlichen Problemlösungs-Allmachtsfantasie

FOCUS 41/2010 - Titelseite
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Erschienen
01.09.2010

Seite 84 im Original

Unser Afghanistan-Problem liegt in Europa

Von Künstlern lernen? Ja, gibt's denn das? Was wäre denn schon bei denen zu holen? Die Antwort ist so simpel wie bedeutsam, denn die Quint- essenz künstlerischer Erfahrung lautet: Es gibt keine Lösungen. Raffael löste nicht durch größere Begabung, höheren technischen Standard und den Fortschritt der Zeit die Probleme des künstlerischen Arbeitens, die sich seinem Lehrer Perugino gestellt hatten. Und Michelangelo schaffte nicht die Problemstellungen Raffaels aus der Welt und so weiter. Die einzelnen Künstler sind gerade deshalb auf unabsehbare Zeit bedeutsam, weil sie niemand in ihrer Fähigkeit überbieten kann, Fragen zu stellen, die gerade deshalb bedeutsam sind, weil es auf sie keine Antworten gibt.

Das Gleiche gilt für Wissenschaftler. Wer forscht, wird mit dem Fortgang der Arbeiten nur immer tiefer in ein Problem eindringen, dessen Dimension ohne die Forschung nicht einmal erahnbar ist. Es gibt keine Lösungen, es sei denn, man akzeptierte pragmatisch das Schaffen von neuen Problemen als Lösung für alte.

»Es gibt keine Lösungen, sondern nur prinzipiell unlösbare Probleme«

Energieknappheit wird in unüberbietbarer Weise durch die Entwicklung von Atomkraftnutzung beseitigt, allerdings um den Preis, sich nun noch größere Probleme einzuhandeln. Immerhin kann man sich sinnvoll darauf einigen, dass das Schaffen neuer Probleme als Lösen de alten dann akzeptiert wird, wenn die Nachfolgeproblem, einzeln kleiner sind als das Ausgangsproblem. Genau das indes lässt sich ohne Forschung gar nicht beurteilen, die dann aber dazu führt, dass Kenner selbst da noch Probleme sehen, wo man sie als Alltagsmensch mit lange: Erfahrung nicht einmal vermuten würde.

Also: Es gibt keine Lösungen, sondern nur mehr oder weniger überzeugende Vorschläge, wie man mit den prinzipiell unlösbaren Problemen umgehen könnte Das bezeichnet der Begriff „Management" im ursprünglichen Sinne, was zu der Feststellung führt, dass wir leider kaum über Manager verfügen.

Da nun kommt die Kraft des künstlerischen Arbeiter voll zur Geltung: Probleme werden nicht gelöst, sonder durch Ausdrucksvermögen und Geistesgegenwart so formuliert, dass im Idealfall sie weder geleugnet, verdrängt noch durch Zerstörung gelöscht werden können. In Weimar bieten Künstler für vier Wochendie Gelegenheit, ihr eben angedeutetes Selbstverständnis auf die Wahrnehmung des „Problems Afghanistan" zu übertragen. Der gewählte Ausstellungsort bietet einen zeitgeschichtlichen Rahmen, wie er passender nicht erfunden werden könnte: Die gigantische Architektur der Waffenindustrie aus der Blitzkriegphase.des Dritten Reiches mit Gleisanschluss nach Buchenwald repräsentiert die militärischen, technologischen und politischen Dimensionen unserer Wirklichkeit, also auch der afghanischen. Auch dort gab man sich den Illusionen blitzhafter Auslöschung von Gegnern durch gigantische Waffentechnologie hin. Man glaubte, nach Belieben mit ein paar dahergelaufenen Stammeskriegem, geprägt von archaischen Strukturen, fertigzuwerden. Imperiale Überheblichkeit des Westens gegenüber allen, die in der Geschichte der Moderne nicht die geringste Rolle gespielt haben, erlebt nun ihr Desaster, aber es ist nur eines aus der Sicht der Machtarroganz, die alle Konflikte lösen zu können glaubt. Wie, so fragen die Künstler mit ihren Arbeiten, würde sich die Sicht auf Afghanistan (und auf drei Dutzend weitere heiße Konfliktfelder) verändern, wenn man davon ausginge, dass es für Auseinandersetzungen besagter Art keine Lösungen gibt?

Frei nach Carl Schmitt: Ist der Gegner die eigene Frage als Gestalt? Dann wären Islamisten und andere Fundamentalisten deswegen für unser Selbstverständnis produktiv, weil sie uns die Frage aufnötigen, ob man die bürgerlichen Freiheiten aussetzen darf in der Absicht, sie zu verteidigen,oder ob auch all jenen die Freiheitsgarantien der demokratischen Gesellschaften zugestanden werden müssen, die diese Freiheiten nutzen, um totalitäre Regime zu etablieren. In radikalster Zuspitzung nötigen uns die als solche hochgeschätzten Gegner die Frage auf, worin der Unterschied zwischen mafiotischen Organisationen und legitimierten Regierungen bestehen soll, wenn. sie gleichermaßen sich als Hehler betätigen, gezielte Tötungen zulassen, gar befehlen, Angriffskriege führen und bedenkenlos die soziale Kommunikation zerstören, indem sie Vertrauen missbrauchen.

»Die imperiale Überheblichkeit des Westens gegenüber allen, die in der Geschichte der Moderne nicht die geringste Rolle gespielt haben, erlebt nun ihr Desaster«

Was wir im Triumphalls- mus heutiger Terroristen erleben, ist die sie überwältigende Erfahrung, dass der rechte Glaube zur höchsten Radikalität befähigt, die sich in ihren Wirkungen selbst beweist. Würde man von der halben Welt so radikal bekämpft, wenn die eigene Position nicht derartig bedeutsam wäre, dass andere sie auszulöschen wünschen? Seit 200 Jahren haben Künstler aus der Erfahrung von Unverständnis, Ablehnung, Ausgrenzung und Misserfolg die Begründung für die Bedeutung ihres Tuns gewinnen können. Warum sollte man sie verfolgt und gedemütigt haben, wenn ihre Botschaften gleichgültig oder banal wären? Wir sollten uns auf die Geschichte dieser Begründungen zurückbesinnen, um anerkennen zu können, was wir den heutigen Anwärtern auf Weltbeherrschung verdanken könnten.

Menschen sind von Natur aus kulturpflichtig, aber die Unterwerfung unter die Dogmen von Religionen und Kulturen erzwingt den permanenten Kulturkampf. Die Abkoppelung aus der kulturell-religiösen Legitimation, wie sie historisch die Künstler und Wissenschaftler erstmals erreicht hatten, wird nun auch für andere Bereiche wie Politik und Ökonomie umso unabdingbarer, als wir den jeweiligen geschätzten Gegnern die Täuschung verbieten, sie könnten noch mit einem finalen Sieg ihrer. Herrschaftsabsicht rechnen.

Wer die Auseinandersetzung verweigert, mit welchen Argumenten auch immer, verweigert sich dem Aufbau einer universalen Zivilisation, unter deren Gegebenheit der Wettbewerb der Kulturen und Religionen überhaupt erst gewürdigt werden kann. Das also heißt, von Künstlern und Wissenschaftlern zu lernen.

BAZON BROCK, 74, war Professor für Ästhetik an der Universität Wuppertal.
Letztes Buch: „Lustmarsch durchs Theoriegelände"