Ausstellungskatalog Mythos Mercedes

Von der Funktion zum Design

Mythos Mercedes: von der Funktion zum Design, Bild: Ostfildern: Quantum Books, 2001..
Mythos Mercedes: von der Funktion zum Design, Bild: Ostfildern: Quantum Books, 2001..

Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Mythos Mercedes, von der Funktion zum Design, 4. August – 14. Oktober 2001, Deichtorhallen Hamburg / Katalogredaktion: Angelika Leu-Barthel / Einleitung von Zdenek Felix

Erschienen
2000

Verlag
Quantum Books

Erscheinungsort
Ostfildern, Deutschland

ISBN
3-935293-24-0

Umfang
75 S.; überw. ill.

Einband
Gebundene Ausgabe

Seite 12 im Original

Auto-Ästhetik

Durch Selbstwahrnehmung zur Selbstbewegung

VORAB: Den Verfasser legitimiert zu nachfolgenden Anmerkungen die Erfahrung, dass eine DS mit Reitsporen zu fahren tatsächlich dem Automobil alle Macken nahm, deretwegen er häufig die Frankfurter Citroën-Werkstatt zwischen 1966 und 1972 aufzusuchen hatte. Der von den Reklamationen genervte KFZ-Meister empfahl seinerzeit, das Auto wie ein Lebewesen, z. B. wie ein zu reitendes Pferd, zu behandeln. Frau Huss schenkte ihre Sporen dem Verfasser, die sie als seine Phyllis nicht mehr brauchte, um ihn zur Einsicht zu zügeln, kein Aristoteles zu sein.

In zwei Hinsichten hat die Technik- und Kulturgeschichte des Automobils das westliche Selbstverständnis besonders geprägt: zum einen durch die Vergegenwärtigung des göttlichen Lebensantriebs als Bewegung aus sich selbst, zum anderen durch die jedermann aufgenötigte Orientierung nach vorne, in die Zukunft, durch den vergewissernden Blick in den Rückspiegel.

1. GÖTTLICHER ALS ARISTOTELES DACHTE: Keinem von Menschen Gemachten, also keinem Artefakt gegenüber lässt sich das Attribut „göttlich“, also „wie aus Götterhand“, mit größerer Berechtigung zusprechen als dem Automobil. Alle Versuche, technikkritisch und ökologiebewusst dem Auto diese Kennzeichnung wieder zu entziehen, blieben erfolglos. Den großartigsten Versuch einer solchen Säkularisierung des göttlichen Selbstbewegers unternahmen nicht etwa die Herren Adorno oder Marcuse, grüne Aussteiger oder alternative Windmüller, sondern der geniale Ingenieur Felix Wanket. Er schuf den bewegten Beweger in Gestalt des Wankel-Motors, dessen Charakteristikum es sein sollte, dass der bewegende Motor seinerseits bewegt ist wie die Räder, die er antreiben soll. Wie alle Entgöttlichungsversuche, Profanisierungsbemühungen und Entweihungsfrevel erregte Wankels Idee des bewegten Bewegers Kapital und Zeitgeist. Man überbot sich in Realisierungsversprechen und grundlegender Veränderung des Zeitbewusstseins. Aber selbst die weltgrößten Automobilkonzerne scheiterten bei dieser letzten Götterdämmerung: heute triumphiert allenthalben der unbewegte Beweger des Automobils in der genialen Version der Selbstbewegung.

Aristoteles hatte als Naturwissenschaftler formuliert, dass alles, was in Bewegung ist, bewegt wird. Also musste hinter jeder Bewegung ein Beweger stehen, der seinerseits nicht von außen bewegt sein konnte. Mit dieser Lehre schufen die Ingenieure seit dem Zeitalter des Barock die „göttlichen Maschinen“, die irgendwo fest installiert das mit ihnen Verbundene bewegten: Puppenglieder, Wolkenattrappen, Spielmechaniken. Dann aber erweiterten sie dieses Konzept um den entscheidenden Gedanken, den unbewegten Beweger sich selbst bewegen zu lassen, zunächst im Automaten und dann als Automobil – ein griechisch-lateinisches Kunstwort, das zu Recht die gesamte Antike beschwor, um die Großartigkeit dieser Idee abzusichern; in der Tat konnte Aristoteles keinen Einwand erheben, denn die Selbstbewegung ist keine bedingte Bewegung, also immer noch göttlich wie der unbewegte = unbedingte Beweger. Die genialen Mechaniker des Weltballetts, Daimler und Benz, kannten ein antikes Vorbild, nämlich den Deus ex Machina des griechischen Theaters – das war ein durch die Bühnenmaschinerie zur Erscheinung (Epiphanie) gebrachter überraschender Eingreifer, der die Fortbewegung der dramatischen Handlung durch einen zauberhaften Impuls stimulierte. Aber diesen zauberhaften Impuls als Verpuffungsreaktion in einem geschlossenen Zylinder mit beweglichen Kolben zu denken und zu konstruieren, verlangte göttliches Vermögen (lat. Potenz, griech. Dynamis), das (lateinisch) aktualisiert bzw. (griechisch) in Energie umgesetzt werden musste.

Die Bewegungslehre über den sich selbst bewegenden Beweger, also die Kunst, ein Kraftfahrzeug zu führen, entwickelte sich zunächst durch Orientierung auf die Immobilien, also Unbewegtes als Hindernisse, die die Bewegungsimpulse störten. Diese Bewegung nannte man verallgemeinernd Intention. Anhand der ersten Verkehrsunfälle, also von Störungen der Bewegungsintention, entwickelten Seeleningenieure wie die Professoren Wilhelm Dilthey oder Henri Bergson ihre Lehren von der Wahrnehmung der Dinge, der Phänomenologie. Wahrnehmungsfelder, -segmente, -horizonte wurden als sogenannte Abschattungen den Effekten nachempfunden, die Autoscheinwerfer auf nächtlichen Straßen oder gerahmte Blicke aus den Windschutzscheiben erzeugen. Das inverse Kino: der Betrachter bewegt sich, und die Bilder stehen statt die Bilder bewegen sich, und der Betrachter steht.

Der sich bewegende Beweger, das Automobil, erzeugte also die Welt der Phänomene zwischen optischer Täuschung, neurophysiologischer Überforderung und der Realitätstüchtigkeitskontrolle gerade in der Vermeidung von Unfällen; denn einem bereits Verunfallten nützt die Feststellung über die Realitätshaltigkeit eines Phänomens beim Führen des Fahrzeugs nichts mehr; bis heute ist die Vermeidung der Intentionsstörung, also die Verhinderung des Ernstfalls im Unfall der eigentliche Sinn des Autofahrens. Rasen und Kilometerfressen sind Herausforderungen dieses eigentlichen Sinns – wer rasen konnte, hat die Störung der Bewegungsintention am besten vermieden, ist also auch am besten gefahren.

Geschwindigkeitsgenuss heißt auf griechisch Kinästhetik: die kinesis, die Bewegung, sprechen wir immer noch im Begriff Kino an. Es verwundert nicht, dass Generationen im Autokino den Höhepunkt der Verschmelzung von selbstbewegtem Beweger mit der Ästhetik, also der Wahrnehmung der Bewegung erlebten, also die Einheit von innerem und äußerem Kino in einem Elan vital und Fahren, Fahren, Fahren auf der Autobahn, die Einheit von innerem Monolog und dem Summen der Motoren, die Einheit der am Autofenster vorbeiziehenden Landschaft und des auf der Leinwand bewegten Bildes. Und die Kulminationspunkte dieser göttlichen Schau bilden nach wie vor Autokinobesuche, deren Filme Autoverfolgungsjagden, spektakuläre Intentionsstörungen sprich Unfälle oder die teuflische Immobilisierung als Stau zeigen.

In diesen Szenen entfaltet sich alltagspsychologisch die Selbstbewegung, das Wesen des Automobils: es wird zum Synonym für Leben und beseelte Materie. Wie alles Lebendige aus sich selbst heraus den Impuls des Lebens (Elan vital) produziert, so auch das Automobil; und wie der Lebensantrieb sich in der äußeren, d.h. körperlichen Bewegung als Aktion und Reaktion zeigt, so bewegt uns das Auto, indem wir es lenken im Wechsel von Ort zu Ort, wie es uns innerlich bewegt, etwa im Rausch der Geschwindigkeit, in beseligenden Verschmelzungsempfindungen von Nähe und Ferne, von eigen und fremd. Diese Bewegung als Belebung heißt Animation, also Verlebendigung durch Stimulierung der körperlichen Eigenwahrnehmung (wie beim Karussell fahren etwa); diese verstärkte Eigenwahrnehmung (Auto-Ästhetik) ist die Energieressource für den Lebensantrieb, also für die Selbstbewegung. Merke: Autisten hingegen sind bedauernswerte Menschen, deren Eigenwahrnehmung extrem gering ist. Sie ließe sich nur steigern durch gewalttätige Vergrößerung der Reize, also etwa schmerzauslösende Verletzungen. Da mit der gestörten Eigenwahrnehmung zugleich die Fremdwahrnehmung anderer Lebewesen, wie die Beziehung zu ihnen, gestört ist, kann es autistische Automobilisten nicht geben – sie eliminieren sich, bevor sie zur Geltung kommen. Wer hingegen Körper und Geist, Gestalt und Beseelungsenergie seines Autos pflegt und huldigt wie seinem eigenen lebendigen Körper, manifestiert seine Vergöttlichungssehnsucht in dem profanen Ritual der Reinigung (Körper- wie Psychohygiene): ihm wird klar, wie weitgehend er noch menschelt, indem er noch Autonomie vermissen lässt. Er reagiert noch zu stark auf von außen kommende Impulse und agiert unter Motiven, die nicht die seinen, sondern die des Zeitgeistes, der Herrschaft, der Reklame sind. Er erfüllt nur die Erwartungen anderer an ihn, anstatt sich diesen fremden Anforderungen gegenüber selbstbestimmt, also autonom zu zeigen. Sinnbild und Begriffsbild der Autonomie sprechen wir als das Göttliche an. Darüber klärte in einer kulturgeschichtlich einmaligen Leistung der Automobilkonzern Citroën die Menschheit auf, indem er das Modell DS (französisch als Déesse = Göttin gesprochen; weibliche Gottheit deswegen, weil im Französischen das Automobil weiblich ist: la voiture!) auf den Markt brachte. Dieses luftgefederte, also wie Götter auf Wolken schwebende kinetische Gebilde, gleichzeitig mit der 50er-Jahre-Kunstrichtung der Kinetik (Mobiles), der kunstvollen Bewegung, entwickelt, sah schon im stehenden Zustand so aus, als bewegte es sich. (Darauf zielte der Kosename Flunder ab: die Flunder ist keine Gestalt des bewegungslosen Ausruhens, sondern des Körpers im permanenten Strom des Mediums Wasser und seiner Auftriebskräfte.)

Das göttliche Medium sind Odem, Pneuma, Ruach, die allem Lebendigen innewohnen. Es erfüllt mit Enthusiasmus, in den idealen Strom des göttlichen Odems zu geraten, seien es die erhabenen Sturmwinde im Hochgebirge oder an der See – seien es die aus den Sängermündern entströmenden göttlichen Stimmen der Callas und des Mario Lanza oder das sonore Bassvibrato eines 8-Zylinder-Auspuffs.

Aber zu dieser Vision der Stromlinienförmigkeit hat kulturgeschichtlich ebenso einschneidend wie die Produktion der Citroën-DS der vergöttlichte Roland Barthes Ende der 50er Jahre etwas so Legendäres geschrieben, dass es selbst zum Mythos der Automobilgeschichte wurde und damit zu einem zentralen Mythos unseres Alltags. Weil Barthes mythisch wurde, kann und braucht man ihn nicht mehr zu lesen, es reicht davon zu sprechen wie von jenen legendären historischen Automodellen, die von Zeit zu Zeit, so auch jetzt in den Deichtorhallen, als Monstranzen unserer Verehrung für das sich selbst bewegende Leben demonstriert werden. Denn jedes dieser Automodelle ist dadurch ausgezeichnet (vor ruhenden Statuen, feststehenden Denkmälern, verankerten Kultbildern), dass es Monstranz und Demonstranz in einem ist. Die Einheit wurde bewusst für die Paraden in amerikanischen Großstädten geschaffen: die zu ehrenden Personen wurden in Cabriolets bewegt, die ihrerseits Aufmerksamkeit attrahierten, so dass die gefeierten Helden zum Vorwand für die Autotorsos wurden.

Heute besonders interessant sind jene Formen von Monstranz der Demonstranz, wie sie in Alltagskulten der Dritten Welt praktiziert werden, bei denen Autos zumeist als Monstranzen aus Abfallmaterial – in Prozessionen mitgeführt werden. Derartige Rituale lassen das Motiv der ewigen göttlichen Bewegtheit als Seelenwanderung von Toten nach deren Beerdigung in automobilgestaltigen Särgen aufscheinen. Inzwischen ist erkannt worden, dass nicht nur atavistische Gesellschaften animistischen Kutten huldigen, sondern auch die Erste Welt der automobilistischen Technikavantgardisten, der Animationsfilmer und Reha-Animateure in Clubs und Kliniken. Deswegen ließ sich Edward Kienholz, Reinkarnation des antiken Animismus zwischen Faun und Vulkan in seinem Cadillac in die Grube fahren, um die Seelenbewegung anzutreten.

Die Wandlung des erlösungssüchtigen Seelenheilwanderers, des Viator Mundi, zum Eternal Driver vollzog sich im Genre des Road-Movie mit einer besonderen Variante der Mobilisierung von Immobilien als Caravan. Dieses fahrende Zuhause bietet einen Beweis für die Realitätstüchtigkeit des utopischen Denkens, denn der U-Topos, der Nirgend-Ort erweist sich als das überall gleichermaßen Gegebene: das Nirgendwo im Überall erfährt der Caravan-Tramper, der, obwohl ständig an anderen Orten, immer zu Hause bleibt und das nicht nur generalisiert wie in den weltweit angebotenen immer gleichen Behausungen der Hotelketten, sondern durchaus individualisiert, also mit dem Einmaligkeitsanspruch individueller Behausung im eigenen Caravan. Die sommerlichen Caravan-Kolonnen sind die heitersten Beweise der Seelenwanderung, denn das einzige Zuhause, das man tatsächlich niemals verlässt, ist der Sarg. Auf ihn trainieren wir uns, wenn wir im Caravan sämtliche Lebensfunktionen vollziehen: vom Essen im Drive-In bis zum Kunstrasen-Ausrollen vor dem Trittbrett. Die Caravan-Züge sind also Prozessionen von Gräbern auf Rädern, ganz analog also zu den besagten Dritt-Welt-Kulten – allerdings nur für Christen, den allein theologisch aufs Auto vorbereiteten Gläubigen, denn der Sarg ist das freudige Zeichen der versprochenen Auferstehung.

In der europäischen Kulturgeschichte erkundeten Spezialisten des ewigen Seelenlebens, die Mönche, das Leben in der letzten Heimstatt: Proportion und Ausstattung ihrer Klausen waren deutlich am Minimalismus des Sarges orientiert; in diesen Klausen trainierten sie täglich den Dauerzustand letzter Befindlichkeit. Unsere Zeitgenossen nutzen das Gehäuse des Automobils täglich als eine derartige Simulationsanlage für die Ewigkeit. Das Auto wird zur Mönchszelle, in der sich der Fahrer vor jedem Einwirken äußerer Reize, Appelle, Verpflichtungen, also der Heteronomie, schützen kann. Die Funktion, die zu Beginn des automobilen Zeitalters etwa Autobahnkirchen hatten, wurden längst durch entsprechendes Innenraumdesign auf die Autos übertragen (hier erinnern wir doch, dass Barthes seine DS-Huldigung mit dem Hinweis beginnt, das Auto sei heute das genaue Äquivalent zur großen gotischen Kathedrale als Epochenschöpfung).

Je dichter der Verkehr, je länger der Stau auf der täglichen Fahrt zur Arbeit und retour, desto intensiver kann die Abschattung, Ausblendung, Ruhestellung und Konzentration gelingen. Anleitungen zu solchen Exerzitien liefern inzwischen etwa die Kassetten der Freiburger Autobahnuniversität: eine Fahrt vom Ruhrgebiet nach Bayern entspricht einer Übersichtsvorlesung zur Geschichte der Phänomenologie oder zum Wesen der Stimmungen.

Die Landschaft, die man durchfährt, wird zum Gedächtnistheater, da man markante Sätze, Theoreme, Schlussfolgerungen der Vorlesungen an Besonderheiten des Landschaftsbildes zu knüpfen pflegt. Wer dann in Gedanken die Fahrt zu wiederholen vermag, vergegenwärtigt sich auch das während der Fahrt Gehörte und Gelernte.

2. VORAUS MIT DEM RÜCKSPIEGEL – RETRO-DESIGN: 1968 publizierte Marshall McLuhan in dem Band Krieg und Frieden im globalen Dorf zum ersten Mal seine folgenreiche Rückspiegel-Metapher. Was McLuhan ursprünglich gemeint haben mag und welchen Anteil irgendwelche „Jemande“ an der Ausarbeitung der Metapher hatten, ist selbst für McLuhans Biographen Philip Marchand nicht mehr zu rekonstruieren. Sei’s drum: die Erziehung zur Bewegungslehre der Auto-Ästhetik, die jeder Automobilist als Fahrschule zu absolvieren hat, konzentriert sich auf Spiegelfunktionen. Das sind die Außen- und Innenspiegel, die, wenn der Fahrer in sie blicken können soll, zwangsläufig zu Rückspiegeln werden. Um auf die Bewegung nach vorne orientiert zu sein, bedarf es der permanenten Antizipation der Verkehrssituation vor dem eigenen Fahrzeug, die aus der Beobachtung im Rückspiegel erschlossen werden kann. Der Fahrer muss sein eigenes Verhalten auf das einstellen, was sich neben und vor ihm ereignen wird, wenn die im Rückspiegel erkennbaren Bewegungsrichtungen und -dynamiken fortgesetzt werden. Hinter langsam fahrenden Automobilisten verändert sich also häufiger die Verkehrssituation und damit das Geschehen, auf das sie vorausschauend reagieren müssen.

Die Rückspiegel-Metapher bewirkt also zwei Paradoxien: zum einen ist der Blick zurück die Antizipation des zukünftigen Geschehens; zum anderen erhöht langsames Fahren die Gefahr des Ernstfalls, weil der langsam Bewegte häufiger und schneller Situationsveränderungen ausgesetzt ist als die in der Durchschnittsgeschwindigkeit des Gesamtverkehrs mitschwimmende Flunder (s. oben).

Nichts, keine pädagogische Maßnahme, keine technische Invention (außer vielleicht die der Werbebildschoner „Mainzelmännchen“), hat die allgemeine Befähigung unserer Zeitgenossen zur Reflexion derartig gefördert wie das Training des Blicks in den Rückspiegel. Reflexion meint das gedankliche Probehandeln durch Nach-Denken oder Wieder-Bedenken des bereits Geschehenen und die Schlussfolgerung aus den reflektierten Geschehensabläufen der Vergangenheit auf die erwarteten oder gewünschten Abläufe der Zukunft.

Kein Kunstpädagoge oder Lehrer für Zeitgeschichte vermochte wie der Fahrschullehrer jungen Leuten klarzumachen, welche Bedeutung das hinter uns Liegende für das Kommende hat. Im unmittelbarsten Sinne der Rückspiegel-Erfahrung ist das vor uns Liegende, die Zukunft, von der Vergegenwärtigung des Vergangenen abhängig oder sie ist gar die Vergegenwärtigung des Vergangenen.

Diese Philosophie der gegenwärtigen Vergangenheit und der zukünftigen Vergangenheit der Gegenwart bestimmte bisher generell die Gestaltungsprozesse von Investitions- und Konsumgütern, wobei das Automobil eine besonders interessante Schnittstelle beider Güterklassen darstellt. Betonte Gestaltung des unmittelbar zukünftig Interessanten rechnet mit dessen Veralten, also mit dem Vergangenheit-Werden des gegenwärtig Allerneuesten. Wie aber jeder Liebhaber von Oldtimern weiß, bedeutet das Veralten eine Steigerung der Wertschätzung in ideeller wie materieller Hinsicht; denn die Vergegenwärtigung ehemalig ganz neuer Automodelle als heutzutage historische, die als museale Kulturgüter demonstriert werden, bietet die alleinige Ressource für Zeitökonomie. Denn wieso sollte jemand etwas als neu kaufen, von dem zugleich versichert wird, dass es wenig später bereits veraltet sein wird, wenn nicht zur Steigerung der Wertschätzung von Zeit-Vergehen kurzfristig als Mode, langfristig als Tradition oder objektive Entfaltung von Zeitgeist?

Die Orientierung auf das neueste neue Modell ist also eigentlich eine sinnvolle Strategie zur erneuten Orientierung an, zum Wiedersehen mit den alten Modellen, wobei die Gleichzeitigkeit von Allerneuestem und Altem eine Beschreibung der Zukunft ist, in der alles Neue wieder vergegenwärtigtes Altes sein wird und alle alten Modelle so aussehen und wirken, als hätten wir sie noch nie gesehen, als seien sie völlig neu. Diese Avantgarde-Funktion im Automobil-Design nehmen gegenwärtig mit zunehmender Tendenz Retro-Designs wie das des neuen Beetle oder der Chrysler-Kutsche wahr. Erweitert man die Avantgarde-Funktion über die Zeitachse Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft hinaus auch auf Funktionsreihen wie Kultgerät, Lehrmittel, Statusanzeiger, Fetisch, alltäglicher Gebrauchsgegenstand oder Werkzeug und Instrument, dann bietet das Retro-Design noch mehr: sowohl in der auffälligen, bildhauerischen Gestaltung des plastischen Auto-Körpers (heutiger Standard: Brancusi-Ästhetik bei minimiertem Luftwiderstandsfaktor) und der bezeichnenden Auszeichnung von Details der Innenraumgestaltung (heutiger Standard: Holztäfelung wie im Bilderrahmen und im Materialakkord der Mies-van-der-Rohe-Bungalow-Typiken).

Die Designs müssen Vieldeutigkeit und Mehrwertigkeit zulassen, so dass etwa frugale Technolux-Entwürfe zugleich in Richtung abstrakter Systemrationalität wie militärischer Direktheit, Vorurteilsfreiheit und Protest gegen das ornamentale Multi-Kulti-Geschnörkel gewertet werden können. Die Hochrüstungen der Motorleistung müssen sich als Legitimation für souveränes Fahren in vollständiger Angepasstheit ausweisen lassen, obwohl die Leistungsausstattung ursprünglich gerade die Absetzung vom Durchschnitt bezeichnen sollte.

Das Van-Look-Design bietet die Möglichkeit, multifunktionale Nutzung von der eigentlichen Bedeutung ökonomischer Beschränktheit des Käufers auf die gewünschte Bedeutung der „Mehrwertigkeiten“ umzulenken (z. B. das aufgebockte Sitzen ist nicht länger arbeitsplatztypisch wie für den Lastwagenfahrer, sondern steigert die Aktionspotentiale und Aufmerksamkeit und verhindert den unwürdigen Sesselfläz-Effekt und die Müdigkeit erzeugende Abklemmung der Magengegend). Zugleich retro-designt das Van-Schema für heutige Autofahrer die Auto-Ästhetik der herrschaftlichen Kutsche. Bilder aus der Frühzeit des Automobils zeigen, wie die ersten Automobilisten in ihr Gefährt Gestaltschema, Exponierverhalten und Repräsentationserwartung der Fahrten mit der herrschaftlichen Kutsche projizierten.

Museen, Kunsthallen, Akademien sind Institutionen für das Training und die Steigerung der Werthaltung von Artefakten und die Anleitung zur Bezeichnung solcher Wertschätzung in Zeichengestaltung. Immer erneut wird das Interesse signalisiert, in solchen Instituten der Vermittlung und Verehrung Autos als Beispiele höchster Wertschätzung von Funktionsambivalenz und Gestaltambiguität auszustellen und die Ausstellung selbst zu einem Ereignis nach dem Prinzip der Monstranz und Demonstranz werden zu lassen. In der Tat eignet sich das Automobil-Design für derartige Demonstrationen besser als etwa die sogenannte „Hochkunst“, weil die Bereitschaft zur Werthaltung und Wertschätzung gegenüber Automobilen erheblich größer ist als gegenüber Kunstwerken. Demzufolge lässt sich an einer Automobil-Ausstellung im Museum die Fähigkeit unserer Zeitgenossen, den Dingen der Welt Bedeutung durch Wertschätzung zu geben, besser beurteilen und schulen als in einer Kunst-Präsentation. Grundlegende kulturgeschichtliche Urteile wie Nietzsches Werbeprospekt-Diktum Gott ist tot oder Freuds Songline Befriedigung ist der Tod der Wünsche werden sich als harmlos erweisen, wenn die Jungen anfangen zu rufen „das Auto ist tot“ oder „Wir haben fertig“.

siehe auch: