Zeitung Hamburger Abendblatt

Wochenendjournal zur Eröffnung der Hamburger Kunsthalle

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Erschienen
22.02.1997

Erscheinungsort
Hamburg, Deutschland

Issue
Feb. 1997

Der Würfel hat gefallen

Gibt es etwas Vergleichbares? Das architektonische Ensemble der Hamburger Kunsthalle vergegenwärtigt selber den Gründungsgedanken jedes Museums, nämlich Generationen übergreifende kulturelle Entwicklungen anschaulich werden zu lassen.

130 Jahre deutscher Geschichte im leidvollen Wechselspiel von Politik, Wirtschaft und Kultur führt dieses Ensemble vor Augen – und man sucht vergeblich nach einer Parallele an irgendeinem anderen Ort.

Der Gründungsbau der Kunsthalle wurde kurz vor der Verwirklichung des Zweiten Reiches begonnen und mit Blick auf die Bedeutung der Reichsgründung bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts erweitert. Er signalisiert als Neo-Renaissance-Bau das damalige Verständnis von kultureller Tradition eines europäischen Nationalstaates, dessen Modernität aus der florentiner Renaissance abgeleitet wurde. So, wie die Renaissance im Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts den Anschluß an die griechisch-römische Antike zu finden versuchte, wollte man mit der stilistischen Prägung der Kulturbauten im 19. Jahrhundert beweisen, daß Unternehmer, Bürgerschaften und Künstler als Promotoren des Fortschritts auf der gleichen Höhe mit dem Selbstbewußtsein florentiner Gründerväter der Moderne stünden.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wähnte sich dieses kulturelle, wirtschaftliche und politische Selbstbewußtsein der Deutschen, nunmehr als Vertreter einer Weltmacht, auf dem Gipfel, und man beschloß einen Erweiterungsbau der Kunsthalle. Die Ausrichtung gegen den Hauptbahnhof und gegen die mächtigen neuen Verwaltungsbauten und Kaufhäuser legte für den Anbau einen Stil nahe, der einerseits auf Pathosformeln von Herrschaftsbauten anspielte, andererseits der kühlen Rationalität zeitgemäßer Zweckbauten entsprach. Heraus kam eine prägnante Mischung der damaligen Auffassungen von Modernität, wie sie der junge Peter Behrens und viele Mitglieder des Deutschen Werkbundes bis in die 30er Jahre vertraten.

Und nun Ungers mit seinem Erweiterungsbau! Die Kraft und die Prägnanz seines architektonischen Konzepts zeigt sich darin, daß er die geschichtliche Logik und Dynamik des Ensembles zur Vollendung bringt, jawohl zur Vollendung. Wird der Abschluß des Erweiterungsbaus Richtung Bahnhof von der dominanten Form der Rotunde, also von der geometrischen Urform des Kreises definiert, setzt Ungers im anderen Endpunkt der Achse das Quadrat als Grundform gegenüber.

Aber er wählt diese Form nicht als abstraktes Modul, als persönlich bevorzugtes Raster, sondern geht mit dem Quadrat auf die Geschichte des Bauplatzes ein. Mit bewundernswerter Klarheit bezeugt der Bau, daß er auf dem Abschluß der ehemaligen Wallbefestigung steht: Er nimmt die Architekturtypiken von Turm und Bollwerk auf.

Zugleich aber dynamisiert er die Quadratur seines Baus zum Kubus, indem er ihn mit einem abgeschrägten Sockel umgibt, wie er einerseits für den Bau von Bastionen und andererseits für den von Pyramiden gängig war. Diese Verweise sind nicht willkürlich zitierte Architekturgeschichte, sie spielen ins Pathos der Rechtwinkligkeit der Moderne als Thematisierung der Diagonale immer wieder hinein.

Zum Beispiel bei Wilhelm Kreis, der die zentralen kubischen Körper seines Hygienemuseums in Dresden ebenfalls mit angeschrägtem Sockel versah. Aber die Raffinesse, mit der Ungers sein Exponierpodest formt, ist meines Wissens einmalig. Er legt ihn als graphische Projektion einer Stufenpyramide so an, als entstamme er einer virtuellen Erinnerung des Betrachters an diese älteste kultische Monumentalform, die jedermann im Gedächtnis trägt – eine Meisterleistung.

Wurde der Erweiterungsbau des Weltkriegs kühn aber gekonnt dem Reichsgründungsbau unmittelbar angeschlossen, um Einheit zu erreichen, so demonstriert Ungers mit dem kalkulierten Abstand zwischen den historischen Bauten und seiner Architektur die einheitstiftende Kraft des Zwischenraums, des freien Raums. Auch hier erweist sich das Sockelkonzept als leistungsfähig, indem es eine freie Ebene ermöglicht, auf der die Fassaden des Neo-Renaissance-Baus und des Ungers-Baus bildhaft freigestellt werden, so daß die Ebene zur Szene wird.

Zugleich ist die Ebene als Verkehrsfläche erschlossen, die ober- und unterirdisch notwendige Funktionen erfüllt. Jedem Betrachter wird die integrative Kraft des pyramidalen Sockelgedankens und der durch ihn ermöglichten Ebenenbildung klar, wenn er sich eine Verbindung zwischen alten und neuen Baukomplexen durch einen blockhaften, längs ausgerichteten, schuhkartonartigen Trakt vorstellt. Dann hätte man den Eindruck gehabt, bloß auf dem Dach eines Kastens herumzuspazieren. Jetzt aber gewinnt die Ebene den Charakter eines Forums.

Nicht nur die Konfrontation mit dem alten Baukomplex markiert den Ungers-Bau, er stellt sich auch der Notwendigkeit, das Fassadenpanorama der Innen- und Außenalsterbebauung zu schließen, eine gewaltige Herausforderung angesichts der breiten Schienen- und Straßentrassen, die die Innen- und Außenalster-Bebauung durchschneiden.

Soweit der äußere Eindruck. Wie weit das Konzept auch nach innen funktionieren würde, war einigermaßen fraglich, denn wir sind im Inneren von größeren Museen auf die horizontalen Fluchten der Räume trainiert. Das Nacheinander der Räume erscheint uns als Bild historischer Horizonte, einer diachronen Ordnung von geschichtlichen Abfolgen. Der Ungers-Bau betont aber im Inneren eine vertikale Ordnung in fünf übereinander liegenden Ebenen, die einen vier Geschosse durchziehenden Lichthof mit optischer Sogkraft umlaufen. Aus der Diachronie wird eine Synchronie, d. h. eine Schichtung der Zeiträume, wie sie etwa für Archäologen selbstverständlich ist: Geschichte als geschichtetes Geschehen.

Diese Vorgaben durch Ungers haben sich auf die Entwicklung eines Ausstellungskonzepts äußerst produktiv ausgewirkt. Der Betrachter vermag die Eindrücke, die er auf den einzelnen Ebenen erhält, aufeinander zu projizieren und damit Beziehungen zu aktivieren, die seine Fähigkeit, Bilder und Werkkonstellationen zu erinnern, über lange Zeit zu immer erneuten Verfeinerungen stimulieren wird.

Übrigens haben die durch den Ungers-Neubau eröffneten Möglichkeiten schon seit längerer Zeit Auswirkungen auf die Ausstellungskonzepte in den beiden Altbauten. Frank und frei kann man bekennen, daß in den Altbauten kunstgeschichtliche Konstellationen deutlich gemacht werden konnten, die ihresgleichen suchen.

Also: Das vor zehn Jahren von der Bürgerschaft und durch Ungers’ Visionen kühn initiierte, von den Museumsleuten kongenial verstandene Projekt hat sich nicht nur für die Hamburger mit großem Zugewinn realisiert. Weit darüber hinaus ist die neugeschaffene Konstellation von Bedeutung, weil eben einmalig. Und die Pointe von der Geschichte? Der erste Bau wurde als Entsprechung zum damals neugewonnenen Selbstbewußtsein der deutschen Kulturnation errichtet. Als die Arbeit der Kunsthalle wirksam wurde, war bereits absehbar, daß die Bismarcksche Reichskonstruktion nicht halten würde; der Gründer ging selbst daran, sein eigenes Werk zu widerlegen.

Kaum jemand nahm das zur Kenntnis, und so wurde der Erweiterungsbau genau zu dem Zeitpunkt fertiggestellt, als diese Widerlegung durch das Ende des Ersten Weltkrieges von niemand mehr übersehen werden konnte. Das Dritte Reich bestätigte sich als radikaler Vollender dieser Zerstörung. In der Kunsthalle versuchten Entartungskommandos, unliebsame Künstlerarbeiten auszuräumen – als könne man die Entwicklungslogiken der Geschichte willkürlich ignorieren.

In den 80er Jahren wurden wir alle von der schönen Illusion getragen, nunmehr fänden die Zeugnisse der neueren Kunstgeschichte das überbordende Interesse von Unternehmern, Bürgerschaften und Publikum. Im großen Zuge wurde Ungers’ Konzept auf den Weg gebracht. Auch dieser Bau wurde – wie die beiden anderen der Kunsthalle fertiggestellt, nachdem sich die Voraussetzungen für seine Verwirklichung grundsätzlich geändert hatten.

Merkwürdig, aber hoffnungmachend: Museen erfüllen offensichtlich gerade darin eine zeitenübergreifende Aufgabe, daß sie die jeweiligen zeitgenössischen Erwartungen nicht platterdings bedienen – wie sollten sie auch, da sich diese Erwartungen spätestens 1918, 1945 und 1997 selbst erledigten.

Der Ungers-Bau und die durch ihn ermöglichte Präsentation des Kunsthallen-Potentials wird sich wie die beiden Altbauten bewähren, und zwar durch die Kraft des künstlerischen, architektonischen und kunstwissenschaftlichen Arbeitens, die offensichtlich stärker ist als unsere kurzfristige und, wie die Historie zeigt, ziemlich irreale Orientierung an wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen.

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