Magazin Schweizer Ingenieur und Architekt

Schweizer Ingenieur und Architekt, Bild: Heft 41/1994.
Schweizer Ingenieur und Architekt, Bild: Heft 41/1994.

  Tagung Eternit AG, Swisshau 1993

Erschienen
06.10.1994

Erscheinungsort
Zürich, Schweiz

Issue
Nr. 41 / 6. Okt. 1994.

Veranstalter
Eternit

Seite 813 im Original

Architektur zwischen Formensprache und sozialen Funktionszusammenhängen

Die Verknüpfung von Formensprachen und sozialen Lebensformen ist nicht ein Problemkreis, der erst in der zeitgenössischen Architekturtheorie seinen Niederschlag findet. Ansätze können wir bereits in der griechischen und römischen Baukunst erkennen. Der Beitrag versucht einen Bogen zu schlagen von der Antike zur modernen Architektur.

Wir befinden uns – nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt – in einer Kulturkampf-Situation, wie es sie bislang aus historischer Sicht noch nicht gegeben hat. Als Beispiele seien hier die Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien, in den Nachfolgestaaten der UdSSR und im ehemaligen Jugoslawien genannt. Gegenwärtig werden für all diese radikalen Auseinandersetzungen einheitliche Begründungen gegeben, bei denen der Grundtenor die Durchsetzung kultureller Autonomie ist. Hinter den Konflikten steht die Frage, ob die einzelnen Regionen und grösseren Gruppierungen der Bevölkerung auf ihrem Recht zur kulturellen Identität in einer Form bestechen dürfen, die mit diesem Anspruch die Rechte anderer unmittelbar tangiert, und das Problem, ob die Region als Träger einer kulturellen Identität vor den Konzepten der Modernität, wie sie in Europa seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden sind, den Primat der Vorherrschaft zu erhalten hat.

Wo steht die Architektur?

Seit alters her gehört die Architektur zum Kern der kulturellen Prägung jeder Gemeinschaft, jeder Religion, jeden Lebensraumes. Insofern ist es geboten zu fragen, welche Rolle die Architektur eigentlich gegenwärtig in diesen Kulturkämpfen um regionale Autonomie spielt. Verkürzt lässt sich folgende Gleichung aufstellen: hier Autonomie der kulturellen Regionen und Ethnien, dort der Geltungsanspruch universaler Standards und Normen – hier die Architektur als Regionalsprache, dort (parallel dazu auch die Künste) Architektur als Universalsprache. Noch radikaler formuliert: es geht um eine Auseinandersetzung zwischen Kultur und Zivilisation, deren Dimensionen uns erst langsam klar werden, wenn man zum Beispiel von einer unmenschlichen Architektur im selben Sinne spricht wie von einem unmenschlichen Verhalten kämpfender Parteien.

Gegenwärtig findet man immer wieder in der Presse, dass Redaktoren auf die Idee kommen, Unmenschlichkeit in derselben Weise auf architektonische Formen und architektursprachliche Formulierungen zu übertragen wie auf die Kriegführung in Jugoslawien; dass man von der Legebatterienarchitektur der fünfziger Jahre in der BRD wie von Lagern spricht, wo man doch weiss, was es heisst, Menschen in solche zu pferchen, vielleicht gar noch in solche des KZ-Typs; dass trotzdem mehr und mehr diese Parallelen gesetzt werden, sollte einen skeptisch stimmen. Es bedeutet nämlich nichts anderes, als dass die Architekten, Künstler und Wissenschaftler (Kunst- und Architekturhistoriker, Design-Wissenschaftler) sich bereits für diejenige Diskussion haben instrumentalisieren lassen, die diese Kämpfe als Kulturkämpfe auslegt. Der zivilisatorische Anspruch steht jedoch jenseits personaler und sozialer Identitätsforderungen, ohne Verweis auf die eigene Region, Sprache und Geschichte. Ihm gegenüber findet man den kulturellen Anspruch, der nun gerade gegen die universalen Normen und Geltungsansprüche auch in den Formsprachen die regionale Entwicklung bevorzugt.

In der Architektur lässt sich dies an zwei Beispielen jeweils auf den Höhepunkten ihrer Formulierungen sehr gut veranschaulichen: Gaudí für die katalanische Architektur in Barcelona und Plecnik für die slowenische Architektur. Jene Architekten gestalteten und produzierten in der höchsten Form eines damaligen Ausdruckswillens und gleichzeitig regional definiert. Gaudí hat ebenso wie Plecnik eine haltbare, durchgängig formulierte architektonische Formensprache entwickelt. Das ist Architektur mit höchstem Anspruch, kein Provinzialismus, kein blosses Ausweiten handwerklicher Tradition, sondern Architektur von universeller Gültigkeit. Parallel dazu entwickelten sich Moderne und Internationalismus, die in Loos einen ihrer ersten grossen Programmatiker hatten.

Diese Auseinandersetzung ist insofern für die letzten zwanzig Jahre vergessen worden, als man glaubte, zugunsten einer Pluralität vieler regionaler Identitäten – vornehmlich getragen eben auch durch die Architektur – die Diskussion auf einem Niveau fortsetzen zu können, das allgemein akzeptiert wurde. Für die kulturelle Verarmung der Regionen wurde nämlich bisher der zivilisatorische Anspruch universaler Geltung verantwortlich gemacht. Wer das Argument für eine gewisse Zeit aufnahm, konnte den Eindruck gewinnen, dass es tatsächlich so gewesen sein könnte – die kulturellen Traditionen der Regionen gingen verloren und wurden durch Normierungen, ja Uniformierungen der universalen Standards sprachlos oder voneinander nicht mehr unterscheidbar. So löste man die Konfrontation zwischen Kultur und Zivilisation auf, indem man sich darauf beschränkte, Zivilisation nur noch als das Regelwerk der Pluralitäten zu sehen, in der sich die je eigenständigen kulturellen, regionalen Heritages, also die Identitäten, formulierten.

Zum Formgedanken

Dies soll der Ansatzpunkt für meine Überlegungen zum Formgedanken sein: Form als grundlegende Bedingung für das Gemeinschaftsleben von Menschen erörtern, so wie sie sich in der Architektur materialisiert, Form als Lebensform und Funktionszusammenhang. Seit Alberti Architektur als Analogie zur Gesellschaft setzte, ist bekannt, dass die Architektur mit ihren Mitteln der Gestaltung der Lebensräume von Menschen Einfluss auf soziale Verbindungen bzw. die Ausbildung von Lebensformen nimmt. Umgekehrt ist der Architekt jemand, der diesem Set von Lebensformen ebenfalls ausgesetzt ist und aus ihnen heraus seine Konzepte formuliert. Sämtliche Grossmeister von Alberti bis Le Corbusier haben Architektur in dieser ganzheitlichen Formulierung als ein Bauen der Gesellschaft verstanden. Das soll nicht sozialistisch, kommunistisch oder gar pathetisch gemeint sein, sondern im Sinne einer Beschreibung. Zur architektonischen Ausbildung gehörten u.a., wie Alberti in «De familia» angeführt hat, Überlegungen zur Organisation eines Haushalts, zur Kindeserziehung in der Familie oder der Gemeinschaft und weitergehend Überlegungen zum Aufbau von Infrastruktur, Strassen, Plätzen usw. Solche Gedanken sind Bedingung und auslösender Impuls der Architektur. Seit Begründung der Architekturgeschichte im 15. Jahrhundert wird gefordert, jenseits der regionalen kulturellen Identitäten und ihres Ausdrucks eine zivilisatorische universale Norm, ein Normgefüge zu begründen, welches Priorität vor allen anderen Argumenten besitzt. Heute gilt es, die Kulturen nicht weiter zu differenzieren, sondern jene zivilisatorischen Programme zu unterstützen, die ja ursprünglich mit dem Namen Moderne verbunden waren.

Das Programm der Moderne wieder aufzunehmen, bedarf allerdings erheblicher Umorientierung im Denken. Auf der Ebene der Verwirklichung der Menschenrechte, die ja wohl die bekannteste zivilisatorische Norm darstellen wie auch in architektursprachlichen Definitionen, eben jener Lebensvoraussetzung oder Zusammenhänge, in denen Menschen diese Norm realisieren, ist allein die Durchsetzung universaler Normen und Standards wichtig. Architektur ist dann eine realisierte zivilisatorische Norm von universalem Geltungsanspruch. Aus der bisherigen Tradition des Denkens des Selbstverständnisses von Architekten seit Albertis Zeiten, ist klar, dass die Architekten Träger der zivilisatorischen und nicht der kulturellen Prozesse sind. Ich bin der Meinung, dass wir das, was wir innerhalb der Gestaltungskonzepte entwickeln, anderen Menschen anbieten, mit ihnen diskutieren und realisieren, in allererster Linie im Hinblick auf diesen Zivilisationsauftrag verstehen sollten. Das gilt für die kleinste Ecke, in der man zum Beispiel ein Garagenensemble anonymer Privatbauer, handwerklicher Bricoleure und Bastler im Sinne einer Vereinheitlichung eines Stadtbildes neu gestalten soll, bis hin zur Städteplanung selbst. Alles in allem sollte für uns gelten: Wir beteiligen uns nicht an dieser kulturkämpferischen Auseinandersetzung – d.h. es kommt auf die Leute, die im Bereich der Kultur, der Architektur, der Gestaltung arbeiten, ganz entscheidend an, ob sich diese universalen Standards zivilisatorischer Normen durchsetzen lassen, ob wir uns ihnen verpflichten und damit Lebensformen schaffen, aus denen heraus wenigstens ansatzweise so etwas wie eine zukünftige Gemeinschaft der Menschen auf der Welt entwickelt werden kann, oder ob wir uns in die Formen zurücktreiben lassen, in de[nen] die Kultur selbst zur grössten Zerstörerin wird. Ich werde nun ein paar Aspekte erörtern, wie sie sich an jedermann bekannten historischen Architekturaufgaben stellen. Sedlmayer und andere Historiker stellten fest, dass sich seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert und der griechischen Antike die Entwicklungen der Gesellschaften in Europa am eindeutigsten in der Betrachtung der jeweilig vorherrschenden Bauaufgaben extrapolieren lassen. An den dominierenden Bauaufgaben der Gesellschaften in bestimmten Epochen lässt sich die Gesamtentwicklung besser ablesen als in jeder anderen Argumentation. In Anlehnung an diese Methode möchte ich im folgenden die Entwicklung von Formensprachen an jedermann bekannten Beispielen erläutern – und zwar im Hinblick auf den Typus der Kommunikationsbauten.

Die Verknüpfung von Formensprachen und sozialen Lebensformen

Die bekannteste Art der Verknüpfung von Formensprachen und sozialen Lebensformen ist im Programm des Wiederaufbaus der Akropolis nach der grossen Perserkatastrophe historisch nachweisbar. Diese Diskussion begann ungefähr um 465 und ist bis 450 v. Chr. abgeschlossen. Noch heute lässt sich die Programmatik dieses Vorgehens unter der Ägide von Perikles als politischem Führer und Iktinos und Phidias als Baumeister und Bildhauer als zentral und beispielhaft für die gesamte europäische Geschichte darstellen, was die Gesamtkonstruktion der Anlage der Akropolis anbelangt. Innerhalb dieses grandiosen Konzeptes von Form als Funktionszusammenhang kann man zeigen, dass eben nicht die einzelne Formensprache, in diesem Falle die dorische Ordnung, prägend ist, sondern der soziale Zusammenhang, in dem diese Bauten stehen. Sie erhalten ihre einzelnen Aufgaben in den kultischen Ausprägungen gesellschaftlichen Gemeinschaftslebens durch die Funktion, die sie für das Repräsentieren und Vergegenwärtigen der Erlebensformen einer Gesellschaft haben und nicht der Formen im Sinne von Gestaltungseinheit. Daher weiss man heute aus unendlich vielen Quellen, dass die Akropolis im wesentlichen nicht unter Gesichtspunkten grossartiger künstlerischer Einzelleistungen betrachtet wurde, sondern im Hinblick darauf, was sie für den Zusammenhalt der athenischen und attischen Gesellschaft bedeutete. Die Architektur wird hier in ihren Ausformulierungen jenseits der Fragen nach grosser Kunst oder individuellem Stil eines Bildhauers oder Architekten insofern zur Gemeinschaftsstiftung, als sich an diesen architektonischen Formulierungen des Funktionszusammenhangs die gesamte Lebensgemeinschaft Athens manifestiert.

Das ist sehr unterschiedlich geschehen. Am Erechteion-Bau sieht man zum Beispiel, dass die Rückbezüge auf die mythologischen Erzählungen zur Gründung der Stadt anders aufgenommen werden als im zentralen Tempel der Pallas Athene oder in Glyptothek und Pinakothek rechts und links neben den Propyläen. Der hohe Anspruch dieses Konzeptes wurde auch mit heterogenen Mitteln durchgesetzt. Wir haben hier also kein totalitäres Konzept vor uns – wie in der Moderne, denkt man an Nationalsozialismus oder Stalinismus, in denen meistens nur die totalitäre Durchsetzung eines einzigen Formgedankens möglich war.

Wenn man die beiden Paradebeispiele aus der römischen Epoche der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte betrachtet – das Kolosseum und den Septimus-Severus-Bogen, wird deutlich, dass sich aufgrund verschiedener Lebensformen auch das Programm ändert.

Kommunikation als Voraussetzung für die Beziehung zwischen den Menschen

Die Verfassung Roms ist eine andere als die Athens, die Akte der Bildung sozialer Formationen sind verschieden, die rechtlichen Normen sind andere. Nur wird ähnlich wie in Athen darauf abgehoben, den Zusammenhang zwischen der gesellschaftformierenden Kraft der Architektur, d.h. Ausdruck und Vergegenwärtigung von Lebensnormen zu sein und der Rückwirkung von eben diesen architektonischen Ausdrucksformen auf die Gesellschaft, in den öffentlichen Bauten repräsentiert zu sehen. Hier kann ein Wechselspiel beobachtet werden, innerhalb dessen aus mannigfachen Lebensformen architektonische Konzepte entstehen, die ihrerseits wieder ganz unmittelbar die gesellschaftlichen Formationskräfte beeinflussen. Ich definiere Kultur als ein Beziehungsgeflecht zwischen Menschen, das darauf ausgerichtet ist, Verbindlichkeit in die Beziehungen zu bringen. Bei diesen Bauten – Akropolis, Kolosseum oder auch den Memorialbauten auf dem Forum Romanum, den Tempeln usw. – handelte es sich um Kommunikationsbauten, die eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines solchen Beziehungsgeflechts auf Verbindlichkeit, nämlich Kommunikation, thematisieren.

Eines der grandiosesten Programme, ähnlich dem der Akropolis oder dem des Weltraumbahnhofs von Baikonur, um ein Beispiel für die heutige Zeit zu nennen, war das nach 1160 von Suger von Saint-Denis initiierte Konzept zur Errichtung der gotischen Kathedralen. In ihnen findet man eine entscheidende Ausprägung der Kommunikation formuliert – nämlich nicht nur die zwischen den Menschen, sondern auch die zwischen der diesseitigen Kultur und ihrem aus der christlichen Theologie heraus begründeten Anspruch auf jenseitiges Leben. Hier erkennt man eine viel subtilere Form der Vermittlung als bei den Griechen, bei denen der Tempel als das Haus Gottes die Gemeinde ausschloss, weshalb sich der Altar mit der Opfergrube auch vor dem Gebäude befand. In der Gotik, wo die Kirche zum Haus der Gemeinde und der Gläubigen wurde, musste die Beziehung zur theologischen Definition des Gottes, zum Jenseits oder zum Paradies auf eine viel raffiniertere Weise erfolgen. In bezug auf die Schriften von Sedlmayer oder von Simson kann man sagen, dass es sich hier um die Integration der Vorstellung des himmlischen Jerusalem (zum Beispiel in der Kathedrale zu Amiens), des Paradieses und des Gottesreiches in die Lebenswelt einer im Mittelalter irdisch herrschenden Gemeinschaft handelt. Welche Verbindlichkeit erhalten Menschen in ihren entwickelten Beziehungen und Lebensformen, wenn sie sich dabei auf das christliche Versprechen eines Lebens nach dem Tode, eines jüngsten Gerichtes, der Apokalypse oder auf ein weiteres Prozedere der Sortierung zwischen den Gerechten und Ungerechten, zwischen den Guten und den Bösen verlassen? Wie man heute weiss, ist eine der bedeutendsten Formen des Verbindlichwerdens von Beziehungen zwischen Menschen das Einlassen auf eine Repräsentanz, die über das je individuelle Leben hinausgeht.

Das kann sich zum einen in der Institution der Kirche als Glauben manifestieren oder zum anderen in Memorialbauten, Historienbildern und Ereignisbildern repräsentiert werden. Darüber, wie weit eine solche Repräsentanz gehen darf, kreiste der berühmte Disput zwischen Suger von Saint-Denis und Bernard von Clairvaux, der in der Frage gipfelte, ob man diesen Transzendenzanspruch in die Alltagssprache miteinbeziehen dürfe. Suger hielt es sogar für notwendig, das Heilige als abstrakten Gedanken zu vergegenständlichen. Dem widersprach Bernard von Clairvaux, der glaubte, dass das Heilige Teil der psychischen Prozesse, des Seelischen und des geistigen Lebens der Menschen sei und deshalb nicht sprachlich, in Ziegelsteinen und Glas vergegenständlicht werden dürfe.

Was Suger und Bernard zu diesem Gedanken in ihren Programmschriften formuliert haben, bleibt eine der grandiosesten Demonstrationen von Form als Funktionszusammenhang, nämlich im Sinne einer Kommunikation zwischen Menschen, deren Verbindlichkeit die Gemeinsamkeit ihrer Ausrichtung auf den christlichen Glauben und seine in der Kathedrale Stein gewordenen Programmatiken ausmacht. Das gilt auch für die einzelnen Formierungsprozesse. Ging man beispielsweise durch ein gotisches Saugportal, dann formierte sich entsprechend dem jeweiligen Ritualanlass der soziale Körper hinsichtlich einer Prägung, die durch die Architektur und die applizierten Skulpturen auf den, der durchs Tor schritt, ausgeübt werden sollte. Im metaphorischen Sinne war dies das Joch, d.h. ein Prägestock der Architektur für Verhaltensweisen, für Wahrnehmung, für die Attitüden desjenigen, der durchs Tor gehen musste.

Das Entscheidende bei der gotischen Kathedrale als Kommunikationsbau war, dass die Verbindlichkeit dieser Beziehungen aus der einheitlichen Ordnung auf die christliche Theologie entstand. Hier erhebt sich das Problem, wie heute die universal zivilisatorische Geltungsnorm an die Stelle des einheitlichen Glaubens tritt.

Abbruch der Kommunikation

Bei den Kommunikationsbauten, die die Voraussetzungen des Beziehungsgeflechtes zwischen den Menschen schaffen, mit je unterschiedlicher Begründung der Verbindlichkeit, gibt es das Phänomen des bewussten Abbruchs der Kommunikation, der Isolation. Zu jeder Art von sozialer Gemeinschaft, auch im Sinne einer Vereinheitlichung der Lebensräume, gehört die Möglichkeit des Abbruchs der Kommunikation, wie es im berühmten Beispiel der Zugbrücke als eines Baues auf einer isolierten Felsnase äusserst bildhaft thematisiert worden ist. Auch wenn man glaubt, dass die Legitimation für dieses Verfahren bei uns längst zu den Akten gelegt worden ist, zeigen die Architekten heute, was sie da gelernt haben, d.h. sie bauen Ghettos: Der Tennisclub der Leute, die es sich leisten können, ist ein Ghetto; der Freizeitclub derer, die es sich leisten können, ist ein Ghetto; die Fabrik der Leute, die es sich leisten können, ist ein Ghetto mit speziellem Zugang.

Diese Möglichkeit des Abbruchs der Kommunikation und der Isolation wird nicht mehr pejorativ gegen Minderheiten angewendet (früher hat man Minoritäten wie die Juden ghettoisiert); heute gehen die Eliten freiwillig ins Ghetto, weil es die einzige Form ist, einen durchgängigen Lebenszusammenhang zu garantieren. Sie brechen die Brücken jeden Abend oder jeden Morgen hinter sich ab und isolieren sich vollständig. Das Ghetto ist eine in sich geschlossene Welt. Gehört es jedoch grundsätzlich zur Aufgabe jedes Architekten – wie in derzeit kursierenden Diskussionen unter amerikanischen Architekten aufgeworfen –, Kommunikation zu ermöglichen und aus der architektonischen Konzeption heraus den Abbruch jenseits der durch das Bürgerliche Gesetzbuch garantierten Norm (Unantastbarkeit der Privatsphäre) sozusagen miteinzubauen? Das würde bedeuten, dass die Gesellschaft tatsächlich in nicht mehr miteinander in Beziehung stehende Einheiten zerfiele.

Die Beispiele

Paradebeispiel für die Fähigkeit der Architekten, Kommunikation als Voraussetzung für das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen zu entwickeln und sich zusätzlich auf die Verbindlichkeitsform einzurichten, die durch die Theologie vorgegeben ist, stellt der Vorplatz von St. Peter mit den Kolonnaden von Bernini dar. In den berühmten ausholenden Armen der «ecclesia», der Mutter Kirche, die mit ihren Kolonnaden die Menschheit umfasst, hat Bernini die Formierung der Gesellschaft durch die Mutter Kirche selbst gezeichnet. In ähnlicher Form geschieht dies in Grossprogrammen wie dem von Versailles, wo das bis ins letzte Detail sowohl für den Innenhof nach aussen, wie für den Aussenhof nach innen, für die Fassaden und auch für die rückwärtigen Gartenanlagen thematisiert wurde. Auch klang in Versailles erneut eine Frage an, die bereits beim Schloss von Blois in historischer und schriftlicher Form überliefert worden ist: Wie kommuniziere man eigentlich über ein so klassisches architektonisches Element wie die Treppe? In Blois war der geniale Gedanke entstanden, das Treppenhaus nach draussen zu verlagern und als Rampe auszuführen. Das hatte eine ganz bestimmte Auswirkung auf die Formierung der Gesellschaft, was in den Romanen jener Zeit beschrieben wurde, die dieses Schloss bespielten.

Man sieht es auch im 19. Jahrhundert bei der Entwicklung der Galerien als eines bestimmten Kommunikationstyps, der von der Architektur selbst geschaffen wurde. Fast überall in Europa entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Galerien, zum Beispiel die Mailänder Galerie, die durch architektonisches Denken auf die Formierung der Gemeinschaft oder Gesellschaft ausgerichtet ist und sich auch auf die Verbindlichkeitsgarantien in den Beziehungen ausrichtet. Das dreht sich keineswegs nur um den schnöden Mammon, wie immer behauptet wurde. Die Verbindlichkeiten steckten in den pekuniären Verbindungen der Warenwerte, die dort ausgelegt oder getauscht wurden, qua zahlen oder nicht zahlen. Sie steckten in der Lebensform, die dieses Zahlen oder Nichtzahlen überhaupt erst möglich machte. Dies ist ein zivilisatorisch und weniger ein kulturell beschreibbarer Prozess. Das gleiche gilt für die Entwicklung von neuen Anforderungen an die Knüpfung kommunikativer Beziehungen, wie sie mit der Erfindung der Eisenbahn entstehen – riesige Bahnhofshallen als Prototypen für weitere Kommunikationsbauten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als ein besonderes Beispiel mag der S-Bahnhof in Berlin-Dahlem fungieren, der einen ganz anderen Typus der Verbindlichkeiten aktiviert.

Hier wird deutlich, wie geschickt Architekten es verstanden haben, Form als Funktionszusammenhang und Lebensform zu sehen, in der sich der einzelne selbst als Repräsentant eines Stils in diesem formalen Zusammenhang auffassen kann. Das ist von der Akropolis an über den Durchzug durch die Portale der gotischen Kathedralen bis in unsere Zeit hinein nachweislich, dass die Eintretenden sich durch das Überschreiten der Schwelle tatsächlich entscheidend verändern, also in die gesellschaftlich geprägte, architektonische Formation eingehen.

Baumeister oder Auftraggeber von Louis XIV. bis Hitler haben instinktsicher um die psychologisch intensive Wirkung solcher architektonischer Formierungen gewusst. Das galt auch für die Entwicklung neuer Kommunikations- und Ereignisorte wie das Grosskaufhaus oder für die Spielkasinos in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Ähnliches lässt sich konstatieren für solch profane Anlagen wie die Infrastruktur der Grossstädte, die Autobahnen etc., die im Hinblick auf ihre formierende Kraft weit unterschätzt werden. Ja, wahrscheinlich gehören sie gegenwärtig bei dem relativ unterentwickelten Anspruch von Architektur zu den stärksten und dominierendsten Formen, während man sie rein form- oder stilgeschichtlich als völlig banal ansehen muss.

Der entscheidende Aspekt

Ganz entscheidend ist der Aspekt, wie weit diese Phänomene heute greifen, wenn man sich auf rituelle oder kultische Kommunikationsräume einlässt, also etwa Ronchamp und das Centre Pompidou als Kommunikationsräume miteinander vergleicht. Früher wurde behauptet, Corbu[sier] und Rogers hätten unstatthafterweise auratische Anleihen bei der Architekturgeschichte gemacht, die noch Verbindlichkeiten über theologische Begriffe und über den Glauben vermittelte. Das hat sich als untertrieben herausgestellt. Inzwischen vertreten fast alle Fachleute die Auffassungen, die Carl Schmitt für die Rechtswissenschaften postuliert hat, dass nämlich alle Begriffe der Kunst- und Architekturgeschichte aus der Theologie stammen und mehr oder weniger profanisiert in den Alltagskontext überführt worden sind.
Nun sind Museen wie das Centre Pompidou bekanntlich Kommunikationsbauten par excellence, so wie Brücken beispielsweise. Aus ihnen ergab sich in der jüngsten Vergangenheit ein bestimmter Typus von «profanisierten» Kommunikationsbauten, den man als Messe- und Ausstellungsbau kennt und von dem heute auf die Architektur meiner Ansicht nach die entscheidende Entwicklung ausgeht. Immer mehr wird das, was wir wechselseitig in die Aufmerksamkeit bringen, zu einer Art von Beziehungsvermittlung durch Kommunikation, wie sie Messen und Ausstellungen repräsentieren, sogar in familiären und kommerzfernen Zusammenhängen. Das Interessante ist derzeit, wie ein solcher Typus der Kommunikationsarchitektur als Ausstellungsarchitektur zurückwirkt, zum Beispiel als innenarchitektonisches Konzept auf die Aussenarchitektur. Das Centre Pompidou ist nach dem Muster eines Industriebaus als ein Kommunikationsbau entwickelt worden, richtet sich also an einem ganz anderen Typus der Vermittlung der Beziehungen und der Verbindlichkeit zwischen den dort arbeitenden Menschen (Dichotomie von Fabrik und Aussenwelt) aus. Die Tendenz geht dahin, das Kernstück der architektonischen Formierungskräfte, sprich Aufbau der Kommunikation, auf die Industrie- und Zweckbauten und in einem hohen Masse auch auf die Wohnbauten als rekonstruierte Gesellschaftlichkeit, als Arbeitsgemeinschaft und Überlebensgemeinschaft zu überlegen.

Die Aufgabe der Architektur

Ich bin überzeugt, dass jenseits fundamentalistischer Erzwingung von Verbindlichkeit in den Beziehungen zwischen den Menschen der Architektur die Aufgabe zukommt, den Zusammenhalt zwischen den Menschen unterschiedlicher privater Überzeugung[en], Glaubensbekundungen oder regionaler Kulturidentitäten durch Orientierung auf übergeordnete, allen gemeinsame, universell geltende Standards oder Normen zu ermöglichen. Das sind genau die Standards, die als Programm die Moderne prägen, seit Mitte des 15. Jahrhunderts Alberti und andere mit der programmatischen Ausarbeitung eines solchen Selbstverständnisses von Architektur begonnen haben. Der wahre Umbruch, die Moderne, wurde nicht erst 1905 bei Loos oder ein paar Jahre darauf beim Bauhaus manifest, sondern bereits Anfang des 15. Jahrhunderts. Wenn man verfolgt, wie kraftvoll damals diese Formierungskräfte trotz der Pest, trotz irrsinniger Bürgerkriege, trotz der Zerstreuung der Menschheit in alle Winde und trotz Ausrottung von zwei Dritteln der Bevölkerung in Religionskriegen im Aufbau von Gesellschaften gewirkt haben (bis hin zu einer Nationalstaatlichkeit, etwas eigentlich nur abstrakt Formulierbares), dann weiss man, welch ungeheure Verantwortung der Gestaltung unserer Lebensräume durch das, was wir generell Architektur nennen, zukommt. Wenn wir uns heute auf die Formen des Selbstverständnisses der Architekten, als Künstler, als Ingenieure, also auch als Zeitgenossen berufen, um zu fragen, auf welche Seite gehört eigentlich in den jetzigen Auseinandersetzungen die Architektur, dann gibt es trotz solcher lokaler Grössen wie Plecnik oder Gaudí nur eine Antwort aus der Geschichte der Architektur: Architektur gehört eindeutig auf die Seite der Zivilisation und versteht sich aus dieser europäischen Tradition heraus als entscheidender Faktor der Zivilisierung.

[Anm.:] Leicht gekürzte Fassung eines Vortrages, gehalten an der Tagung Eternit AG, Swissbau 1993

siehe auch: