Magazin Magazin der Süddeutschen Zeitung

Erschienen
22.09.2000

Erscheinungsort
München, Deutschland

Issue
Nr. 38, 22.9.2000

Taschologie.

Seit die englische Premierministerin Lady Thatcher reihenweise die harten Männer aus Wirtschaft und Politik mit ihrem Damenhandtäschchen puderte, veränderten die Männer ihre Einstellung zur Handtasche.

Die Evolution dieses Behälters, urspünglich Fluchtgepäck, durchlief in jüngerer Zeit viele Stationen:

  • das Bündel der Wanderburschen; ein großes Mehrzwecktuch, meist mit rotweißen Ornamenten geschmückt, wurde auf dem Boden ausgebreitet. Die Besitztümer des fahrenden Gesellen wurden auf dem Tuch angehäuft und die vier Enden des Tuches, seitlich angehoben, zu einem Knoten geschürzt. Unter den Knoten schob man den Wanderstab und trug Stab und Bündel über der Schulter;
  • der Affe; beim Militär gebräuchlicher kastenförmiger Tornister, mit Kuhfell überzogen, daher die Anspielung auf den Affen im Nacken – der Soldat hatte sich zum Affen der Kommandos zu machen;
  • der Kulturbeutel; die durch Hingabe an die Natur bewegte Jugend hielt das Minimum städtischer Zivilisation auch in Wald und Flur im Kulturbeutel präsent: Zahnputz und Heftpflaster, Kamm und Nagelschere, Nähzeug und Sicherheitsnadel, Fußbalsam und eine Ausgabe des Cornett von Rilke;
  • das Kochgeschirr; letztes Hilfekästchen für das Überleben der Soldaten. Ein genial vereinfachter Küchenkosmos aus Aluminium mit olivgrünem Anstrich;
  • Pistolenholster mit Munitionsdepot als Hüft- oder Schultergürtel, meist aus Leder oder leichten und flach aufliegenden Synthetics, heute als Handybewaffnung, zugleich Halterung für unter der Kleidung getragene Ausweis- und Reiseschecketuis, signalisiert das Gefühl, in der Fremde zu sein;
  • der Rucksack; Leinensack mit integriertem Tragegeschirr und diversen Außentaschen: klassisches Fluchtgepäck und deutscher Exportschlager, heute Backpack;
  • das Einkaufsnetz; Höhepunkt der Reduktion des Eigengewichts von Tragebehältern, legendär in Mangelgesellschaften, weil für den Fall des Falles auf kleinstem Raum und jederzeit mehrere solcher Netze mitgetragen werden konnten;
  • die Einkaufstüte; zunächst aus braunem Packpapier mit aufgeklebtem Henkel (wenig belastbar), dann aus der Kunststoffolie Polyethylen mit Griffschlitzen; in vandalisierten Großstädten als Tarnung für den Transport kostbarer Güter beliebt;
  • die Beuysweste; ursprünglich Angler-, Jäger- und Sammlerweste mit einer Vielzahl kleiner, sich nach außen vorstülpender Taschen; jetzt auch in schußsicherem Material;
  • die Hosentasche; vornehmlich bei Jungen beliebte Deponie für "alles, was mein ist", inclusive Fallobst und Regenwürmern. Bei Älteren rechts dem Taschentuch vorbehalten, der ersten Mülltrennung unter dem Druck der Hygienevorschriften; in der linken Münzgeld, aber Mutti verbietet das Klimpern, weil die Handbewegung in der Hosentasche mehrdeutig ist. In der Gesäßtasche Portemonnaie und Personalausweis mit dem unschönen Effekt der optischen Gesäßdeformation. Enganliegende Jeansstoffe und modische Schnittveränderung eliminierten die Hosentaschen, die man nunmehr auf den Hosenbeinen nach dem Beispiel der Jetpiloten und der militärischen Kampfanzüge trägt;
  • die ausgelagerte Brieftasche; durch Einführung der Kreditkarten und anderer Sesam-öffne-Dichs, die nicht mehr in die Brieftasche paßten, wurde dem Herrn ein Lederetui geboten, das über das übliche hinaus auch Pfeife und Schlüsselbund, Portemonnaie und Officepiepser integrierte. Zum Schutz gegen Vergeßlichkeit und Diebe mit einer Lederschlaufe am Handgelenk getragen;
  • die Hebammen- oder Doktortasche; Umnutzung berufsspezifischer Behältnisse für Handwerkszeug, bot den Touch des Fachmännischen, besonders beliebt in den 50er Jahren bei Subkulturlern;
  • das Diplomaten- und Pilotenköfferchen, weitere Form der Umnutzung von Berufsgepäck, in diesem Falle durch das gehobene Angestellenmilleu, weil so der Transport von ein paar Seiten Geschäftsunterlagen die Weihe als amtlich offiziöse Mission erhielt, im internationalen Flugzeugreiseverkehr dominante Erscheinung von Handgepäck; der klassische Handkoffer wird nur noch auf Rollen über den Boden geschleift.

siehe auch: