Ausstellungskatalog Katalog Ulla

Erschienen
1994

Herausgeber
Goethe-Institut,

Umfang
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Fototheater. Inszenierung der Blicke, Tarnung des Auges.

Die Fotografin Ulla Reimer konfrontiert uns mit einigen grundsätzlichen Fragen:

  • Welche Bedeutung hat die Kennzeichnung von Gestaltung als künstlerischem Ausdruck für das Selbstverständnis der Gestalter?
  • Ist es bei der Inflationierung der Künstlerrolle nicht angebracht, sein Selbstverständnis zu tarnen?
  • Oder gibt es eine Möglichkeit, den Aktivismus der Zuschauer/Betrachter in eins zu setzen mit dem Aktivismus der Gestalter der Wahrnehmungsanlässe, indem Betrachter und Gestalter zum model wechselseitiger Erwartungen werden – ihre Körper wären dann die models solcher Erwartungen – wie das leere Blickfeld zum model denkbarer Ereignisse und der leere Bildschirm zum model der Ereignishaftigkeit?

Die Bilder tarnen die Differenz von Gestalter und Betrachter, von Körper und Empfindung – nicht um der Leere zu entgehen, sondern um der autistischen Einkerkerung im Bild und Schema der Identität, vor allem um der Identität des Künstlers zu entgehen.

Wir alle spielen Theater, sagen die Soziologen. Wir spielen Berufsrollen, inszenieren Vereinsfeste, arrangieren Konferenzen auf Stichworte, dekorieren Wohnzimmer zu Bühnen dramatischer oder idyllischer Gesellung.

Vor allem der Theaterbegriff Inszenierung hat Karriere gemacht: Man inszeniert das Leben zu Lifestyleabfolgen, inszeniert Kaufhäuser zu Erlebnislandschaften. Für die Kennzeichung von Mediengebrauch hat sich z.B. die Unterscheidung von inszenierender und objektivierender Fotografie durchgesetzt

Ja, es scheint zu stimmen: Theatererfahrung dominiert unsere Ereigniswahrnehmung.

Theater nennen wir ein Geschehen, das abläuft, um betrachtet zu werden. Das Betrachten ist Bestandteil des Theatergeschehens, vor allem deshalb, weil die Reaktionen des Betrachters auf das Geschehen zurückwirken.

Ein Vulkanausbruch ist kein Theater, aber Straßenverkehr und Partys können als Theater verstanden werden, insofern Personen, die agieren, auch damit rechnen, daß sie betrachtet werden und darauf abheben, Gegenstand der Wahrnehmung anderer zu sein.

Man exponiert sich, stellt sich aus, um zu zeigen, daß man gesellschaftlich eine Rolle spielt, oder spielen möchte.

Zwei Verwendungen des Begriffs Theater irritieren immer wieder: Die Rede vom Kriegstheater, vom Kriegsschauplatz, vom Schauspiel des Krieges, und die Redewendung, man möge sich doch nicht selbst etwas vorspielen oder vormachen. Beide Beispiele zeigen an, daß es nicht um die Unterscheidung von spielerischem Theater und ernstem Leben geht, von ästhetischem Schein und wesenhaftem Wirklichkeitsanspruch; entscheidend vielmehr ist die Bedeutung, die das Beobachtetwerden für die Akteure hat.
Die Truppen kämpfen unter den Augen des Führers, des Königs, des Feldherrn und vor allem unter den Augen der Öffentlichkeit in Gestalt von TV-Kamera und fotobewaffneter Kriegsberichterstatter.

Die Truppen verhalten sich auszeichnungsreif, belobigungswert, bemerkenswert, wenn sie ohne Abweichung den ihnen vorgezeichneten Spielplan, den Schlachtenplan erfüllen; wenn sie also die ihnen zugedachte Rolle ohne Abweichung spielen – trotz Todesangst und individueller Kritik an der Weisheit der Pläne von Regisseuren auf den Feldherrnhügeln.

Tapfer ist man nur im Hinblick auf den Blick der Beobachter und solange sich deren Blick nicht abwendet. Wer das Kriegstheater halb unbeschadet überstehen will, darf nicht auffallen. Wer sich dem Blick der anderen entziehen will, muß sich tarnen.

Der Verdacht, Theater zu spielen, bringe nichts, wenn man nur sich selbst etwas vorspielt, ist eben in dem Fehlen von Beobachten begründet. Aber dieser Verdacht greift zu kurz, denn zum einen sind wir darauf trainiert, uns selbst zu beobachten, indem wir das Auge Gottes oder des Vaters verinnerlichen; zum anderen stehen inzwischen jedem Objektivationen der Selbstbeobachtung im Spiegel oder über installierte Kameras zur Verfügung. Sie haben wir als drittes Auge, das auf uns selbst gerichtet ist, unserem Wahrnehmungsapparat implantiert. Auch die ehemals nur Künstlern vorbehaltene Selbstportraitierung ist zum Monitor der Eigenwahrnehmung für Jedermann geworden, der über sich verfügen will oder gesellschaftlich verfügen muß. Selbstinszenierung wird notwendig, wo man sich in Erwartungen anderer einzupassen hat, um eine Rolle zu spielen, z.B. die Rolle des Künstlers.

Es ist seit einiger Zeit auffällig, daß die Künstlerrolle von jenen usurpiert wird, die ihre Inszenierungen als "Selbstverwirklichungen" ausleben, das sind die zu Aktuellen gewordenen Zuschauer, Beobachter, Betrachter, also diejenigen, die bisher ihre Rolle als Publikum spielten. In der Tat kann man mit Nietzsche behaupten, daß in den Schaustellungen moderner Künste das Publikum interessanter ist als die professionellen Künstler.

Wo diese Kennzeichnung dem sozial relevanten Rollenverständnis von Akteur und Zuschauer eklatant widerspricht, tarnt sich auch der Aktivismus der Zuschauer: z.B. in den Fußballstadien; man entgeht den Sanktionen polizeilicher Ordnungskräfte, indem man das Verhalten auf der Tribüne unter den Vorbehalt bloß gespielter Publikumsrollen stellt, wie die provozierenden Künstler seit langem ihren Aktivismus unter den Kunstvorbehalt stellen. Als Künstler und Betrachter kann man sich Verhalten leisten, das objektiv kriminell oder zumindest als extrem aggressiv oder gemütsüberwältigend kitschig bewertet würde. Die Künstler- und Betrachterrollen werden zur Legitimation von Kriegstheater und Selbsttäuschung.

Unter diesen Bedingungen kommt dem Vorgehen Ulla Reimers Beispielhaftigkeit zu. Die Künstlerin tarnt sich als Betrachterin ihrer eigenen Arbeiten, sie inszeniert sich zum model ihrer Erwartung. Sie versetzt sich in die Lage derjenigen, die nicht gestalten müssen, sondern zuschauen dürfen. Das ist ein professioneller Trick ganz eigener Qualität, nämlich der Trick, den Erwartungen unter dem Auge der Kunstöffentlichkeit zu entgehen. Wer solche Größen wie Sanders, Avedon oder Newton zum Maßstab der Erwartungen macht, kann nicht mehr als Fotokünstler auftreten, sondern als model eben dieser Erwartung.

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