Buch Gestalt

Erscheinungsformen in Architektur und Kunst

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Die traditionelle Formel aus der modernen Gestalttheorie besagt: »Gestalt ist mehr als die Summe ihrer Teile«, für Aristoteles ist Gestalt der »innere Wesensgrund des spezifischen Seins und Wirkens« einer Person, die Gestalt schafft. Die Autoren dieses Buches, das auf eine Veranstaltungsreihe des Deutschen Werkbundes im Düsseldorfer Künstler-Verein »Malkasten« zurückgeht, machen die Qualität dieses mehr als zum Thema ihrer Beiträge

Erschienen
1999

Herausgeber
Schimmel, Hanno

Verlag
Anabas

Erscheinungsort
Frankfurt am Main, Deutschland

ISBN
3870383151

Umfang
15 x 24 cm, 160 S., 80 Abb., pb.

Einband
broschiert

Seite 77 im Original

Gestaltbewertung

Reflexive Formen

Der nur im Deutschen gebräuchliche Begriff »Gestalt« bezeichnet eine sinnbildliche Form, eine selbst redende Form. In der Architekturgeschichte ist die Gattung der »sprechenden Architektur« seit der Antike bekannt. Für postmoderne Analogien ist z.B. ein Hinweis auf das Grab des Bäckers Eurysacer hilfreich, das seit dem 3. nachchristlichen Jahrhundert bis heute an der aurelianischen Mauer in Rom als Ruine überlebt hat. Der, Bäcker ließ sein Memorial in Form eines Backofens errichten.

Alltagsästhetisch erhellt der Hinweis auf unsere Krawatten, was mit sinnbildlicher Form gemeint ist: Wenn unsereins eine Krawatte trägt, bringen wir damit einerseits zum Ausdruck, daß viele Intellektuelle, Künstler oder Wissenschaftler den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts zum Opfer gefallen sind – die Hanfkrawatte war allgegenwärtig. Die Krawatte mahnt mit Brecht (»hangmen also die«): selbst Parteifunktionäre, Hitler-Bonzen, Stalin-Agenten und andere Henker hatten zu sterben. Zum anderen weist die Krawatte jedermann auf die Richtung unseres normalen Lebenslaufes hin; Krawatten sind am unteren Ende zugespitzt wie Richtungszeichen (Pfeile, Einbahnstraßenschilder usw.). Das Intentionalzeichen Krawatte zielt, wie Otto in seinem »Wort zum Sonntag« demonstrierte, nicht nur auf das Zentrum unserer Männlichkeit, auf die Hoden, sondern zum Boden, auf den Staub also, aus dem wir gebacken wurden und zu dem wir wieder werden. Die definitive Richtung unseres Lebens und Arbeitens gewinnt in der Krawatte »Gestalt«.

Aus dem Designbereich ein Hinweis auf sinnbildliche Form in Gestalt eines Paares von Eßstäbchen aus purem Gold: Natürlich sind sie zur täglichen Nahrungsaufnahme durch ihre Formdifferenzierung bestens geeignet, zumal Gold keinen Schmutz annimmt und deswegen einen hohen Hygienestandard garantiert. Vor allem aber versinnbildlichen sie alle modernen Ziele des Designs:

• Reinheit und Klarheit durch Verzicht auf dekoratives Oberflächenfinish (less is more),
Luxurieren durch Askese – Kostbarmachen durch edle Einfachheit und stille Größe,
• Authentizität des Materials (keine Simulationen), höchste Übereinstimmung von Funktion und Form,
• Nachhaltigkeit im Sinne von Dauer oder Wiederverwertbarkeit,
• Einheit von ökonomischer und ökologischer Rationalität.

Die Gestaltbewertung unseres Eßstäbchendesigns führt also zu folgendem Resultat: Es schärft das Bewußtsein für die Kostbarkeit des Rohstoffs Tropenholz, aus dem Eßstäbchen üblicherweise hergestellt werden. Millionen Esser benutzen sie täglich als Einwegbesteck, das sie achtlos konsumieren. Die goldenen Eßstäbchen werden von ihren Besitzern sicherlich nicht nach Gebrauch weggeworfen, sondern nachhaltig wiederverwendet. Es entspräche ökologischer und ökonomischer Rationalität, jedem Esser ein Paar goldener Eßstäbchen auszuhändigen. Der Raubbau an Tropenhölzern würde erheblich eingeschränkt und die Verwendung von Plastik für Einwegbestecke mit ihren typischen Entsorgungsproblemen vermieden.

Darüber hinaus stimuliert die Handhabung der goldenen Eßstäbchen, die man wahrscheinlich wie einen Handschmeichler anstelle von Zigaretten zwischen den Fingern führen würde, die Ausbildung von neuronalen Schaltmustern, also von Gehirnaktivität. Das einzelne goldene Eßstäbchen kann zudem als Dirigenten- und bürgerlicher Marschallstab, als Rückenkratzer und als Schmuck gebraucht werden. Die Gestalt des Paares goldener Eßstäbchen versinnbildlicht also Vollendung im Design.

Aber Gestalt repräsentiert sich nicht nur durch geformte Gegenstände, sondern vor allem durch Verhalten. Das manifestiert sich an unserem Begriff »Information«. Er wurde im Militärwesen des Absolutismus geprägt. Information entsteht aus der Notwendigkeit, sich zu und in Gegebenheiten zu verhalten; im Militärwesen also entsteht Information für den Feldherrn in der Art und Weise, wie einzelne Soldaten Formationen bilden und diese Formationen (Fähnlein, Haufen, Regimenter etc.) ihrerseits einander zugeordnet sind. Information heißt also: Bilden von Formationen mit ablesbaren Strukturen oder Funktionsschemata. Die Verbindung einzelner Informationen ergibt sich aus der Supervision, aus dem Überblick vom Feldherrnhügel, [von] der Kommandozentrale aus (analog Supervision von der Stadtkrone, der Akropolis, vom Dirigentenpult, von der Lehrkanzel, aus der Bütt des Animators, aus der Apside des Richterstuhls, vom Wachtturm sf.).

Heutzutage fasziniert vor allem der Computer mit seinen Angeboten, Informationen zu produzieren, d.h., der Nutzer wird herausgefordert, sich durch Gestaltung eines Programms zu Gegebenheiten des Speichers nach eigenen Fähigkeiten zu verhalten, also sich in die Formationen des Netzes einzustellen und damit sich zu informieren. Wer sich nicht informiert, also zu Gegebenheiten zu verhalten gelernt hat, verfügt auch nicht über Information.

Das Reflexivpronomen »sich« ist kennzeichnend für alle Gestaltbewertung. Gestalt ist reflexive Form. Sich unterhalten, sich erinnern, sich informieren, sich bilden, sich verhalten lassen sich deutlich unterscheiden vom ausgebildet-, unterhalten-, erinnert-, informiert werden. Das höchstrangigste Bewertungskriterium von »Gestalt« ist Verhalten, weil man nur sich verhalten, aber nicht verhalten werden kann. Eine Gestaltbewertung beruht also auf einem Verhalten zu Formationen, vor allem zu sozialen. Parallel zum militärischen bildete sich im zivilen Bereich der Informationsbegriff aus. In den Conduite-Schulen, den Benimm- und Tanzanstalten, wurde seit dem 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart soziales Verhalten trainiert.

Im 19. Jahrhundert kamen als Agenturen sozialer Gestaltbildung bürgerliche Parteien, Sportvereine, Männerchöre, Burschenschaften und Debattierclubs hinzu. Im 20. Jahrhundert wiesen sich vor allem Jugendbewegungen, Revuetheater und politische Großveranstaltungen unter dem Druck ihrer medialen Kommunizierbarkeit als Figurationen des sozialen Körpers aus. Organisation wurde zur Kraft der Gestaltbildung, die bereits 1927 Siegfried Kracauer in seiner Untersuchung zum »Ornament der Masse« analysierte.

Soziales Verhalten ist das Sich-Verhalten des Individuums zu anderen Individuen und den Formationen, die sie bilden (Familie, Schulklasse, Religions- und Kulturgemeinschaft etc.).

Das Militär konnte die sprichwörtliche Schule der Nation werden, weil sich die gesamte männliche Bevölkerung den gleichen Schemata der Gestaltbildung und ihrer Bewertung unterzog. Die Bewertungskriterien waren einheitlich. Das erhöhte einerseits die »Schlagkraft« der gesellschaftlichen Formationen, schränkte aber andererseits das Spektrum der produzierten Informationen stark ein – führte also zum Verlust von Anpassungsfähigkeit an veränderte Gegebenheiten. Heute wird der gegenteilige Effekt beklagt: Pluralisierung und Individualisierung. Die Tendenz zu asozialem Verhalten verstärkt sich, weil die Individuen sich nicht mehr auf andere beziehen. Vielmehr verlangt jeder, daß der andere ihn in seiner Singularität anerkennt, was aber soziales Verhalten generell verhindert. Einen mittleren Weg zu eröffnen versprechen die Soziobiologen. Sie leiteten aus der vergleichenden Verhaltensforschung die Erkenntnis ab, daß Individualismus und Egoismus sich nur in funktionalem Altruismus sinnvoll behaupten können. Diesen Empfehlungen folgen vor allem die amerikanischen Communitaristen. Bei ihnen wird der Zugang zu leitenden Funktionen davon abhängig gemacht, in welchem Maße sich die Individuen für die Bürgergemeinschaft einsetzen. Diskutiert wird, ob solche Formationen der Gemeinschaft dem Schicksal historischer Vorläufer entgehen können; denn auch in universal- und nationalsozialistischen Gesellschaften wurde das sozialpolitische Engagement zur Voraussetzung für Karrieren. Der älteste heute noch verliehene Orden, der englische Hosenbandorden, trägt die Inschrift »ich dien«; »gedient« zu haben war Zulassungskriterium für Herrschaftsansprüche – noch heute ist Parteikarriere nur nach Absolvierung der Ochsentour vom Bezirksschatzmeister zum Bundestagsabgeordneten unverdächtig.

Selbst leidenschaftliche Schulreformer überlegen, ob man nicht doch wieder Schülern die Chance bieten muß, sich in Klassenverbände einzustellen, um sich sozial zu formieren. Gutwillig verstanden war in den 60er Jahren nicht die generelle Auflösung der sozialen Formation »Klasse« beabsichtigt; vielmehr sollten Schülerinnen veranlaßt werden, sich vielfach zu informieren, also sich parallel verschiedensten Formationen von Lerngruppen anschließen zu können.

Die bisherigen Konzepte zur Bildung multikultureller Gesellschaften sind so kontraproduktiv, weil Individuen genötigt werden, sich nur einer dominanten, nämlich ihrer Kulturgemeinschaft einzuformen. Würden sie aber gleichzeitig diversen Religions-, Sprach- und Sittengemeinschaften angehören, verlören diese ihre Unterscheidbarkeit und ihre soziale Pressionsgewalt. Bisher führt die soziologische Feststellung, Individuen formierten sich nach dem Selektionsmuster »Einschluß durch Ausschluß«, nur zu dem blassen Abstraktum einer »reflexiven Formation des Sozialen«: »Im anderen sich selbst erkennen oder: Ich ist ein anderer«.

Es empfiehlt sich also, bis auf weiteres historische Beispiele für Gestaltbildung als reflexive Form zu studieren.

Am bekanntesten dürfte die reflexive Form »Zentralbau« sein; vom römischen Pantheon über Brunelleschis Domkuppel, Palladios Villa Rotonda bis zu Boullées Newton-Kenotaph versinnbildlicht dieser Architekturtypus Anschauung des Kosmos, der Allheit und Ganzheit. Mit Verweis auf die geometrische Grundform »Kreis« und auf die stabilste Körperform »Kugel« aktiviert der Zentralbau auch den Gedanken der Vollkommenheit eines Ordnungsschemas, das auf einen unverrückbaren Mittelpunkt orientiert ist. Daraus leiten sich alle spekulativen Überhöhungen der »Macht der Mitte« ab, wie auch die Ausgrenzung des Ephemeren, der Randgruppen und des Überständigen. Auch verbindet sich mit dem Zentralismus die Feststellung eines Drehsinns, also einer Bewegungsdynamik des Kreislaufs – bemerkenswert dessen positive Bewertung im Sinne des Kreislaufs der Natur und der Nachhaltigkeit des Wirtschaftens bei gleichzeitiger negativer Bewertung des »sich im Kreise drehens«.

Für die Bildung sozialer Formation liefert der Zentralbau das Sinnbild für gleiche Distanz, bzw. Nähe aller Individuen zum Mittelpunkt. Aus diesem Sinnbild leiteten sich alle Idealstadtmodelle ab, so z.B. Ledoux’ Entwurf für die Lebensgemeinschaft »Saline von Chaux«. In zahlreichen Varianten dieser Sinnbildlichkeit sollte die soziale Einheit als Integration von reproduktiver Arbeit und Lebensgenuß, von Spiritualität und Rationalität, von Individualität und Kollektivität Gestalt erhalten. Reflexiv war diese Form, weil von jedem ihrer einzelnen Elemente auf die Gesamtheit geschlossen werden konnte.

Vor allem die barocke Architektur erweiterte diesen Gedanken durch Überlagerung von gerichteten Kreisen, von Ellipsen, mit der Verdopplung von Mitten (also Spiritualität und Rationalität, Leben und Arbeiten etc.). Die Ellipsen wurden als dynamisierte Kreise verstanden (wie an kreisförmigen Gummibändern demonstrierbar). Die sich überschneidenden Ellipsen in Grundrissen von Barockbauten erweckten also den Eindruck, als ob die Architektur ein bewegter Organismus sei, der ein- und ausatmet, also sich ausdehnt und wieder zusammenzieht. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch die weithin sichtbare Bestückung der Bauten mit Schneckenvoluten. Wie Federn im Uhrwerk signalisierten sie durch Eindrehen Konzentration und durch Ausdrehen Entspannung. Dem Touristen stehen als bekannteste Beispiele Santa Salute in Venedig oder die Theatinerkirche in München vor Augen.

Ebenso bekannt dürfte Palladios reflexive Architekturform der Kirche »II Redentore« sein. Mitte des 16. Jahrhunderts markiert sie nicht nur die Verbindung von Zentral- und Longitudinalbau; ihre Fassade enthält vielmehr eine selbstbezügliche Darstellung des Lebens der Architekturformen klassischen Stils. Auf der Fassade überschneiden sich die Anmutungsprofile des dorischen und des römischen Tempels, der römischen Basilika, des römischen Mietshauses, des Triumphbogens und des Stadttores.

Welche formierende Kraft von reflexiver Gestaltung der Architektur ausgeht, teilt sich Millionen von Venedig-Touristen auch auf dem Markusplatz mit. Er wird als Wohnzimmer der Venezianer angesprochen. Die Architekten Sansovino und Scamozzi gestalteten die Arkaden der den Platz nördlich und südlich begrenzenden Bauten zugleich als Innen- und Außenfassaden. Sie vermitteln damit Offizialbauten der Stadtherrschaft mit dem Gedanken, die Bürger Venedigs würden sie bevölkern und als ihre eigenen Lebensbereiche bewerten. Auf dem Platz ist man also immer zugleich Mitglied der Kommune und ihr konfrontiert. Im modernen Verständnis kennzeichnet das die Vermittlung von privat und öffentlich, von innen und außen, von Inklusion und Exklusion. Dieser Wechsel der Perspektiven nimmt dem Formierungsschema »Einschluß durch Ausschluß« seine Schärfe und seine Starrheit.

Eine Besonderheit reflexiver Gestaltbildung bieten die zahlreichen anatomischen Sammlungen, deren Exponate von bildenden Künstlern und bildenden Wissenschaftlern im Auftrag der Generalfeldchirurgen seit dem 17. Jahrhundert geformt wurden. Die Selbstbezüglichkeit, also Reflexivität, manifestiert sich im Bezug des Körperäußeren auf sein Inneres, das sichtbar gemacht wird. Da das Sichtbarmachen des Körperinneren nur an toten Körpern möglich war, verband sich die Darstellung des lebenden, also geschlossenen Körpers mit der des geöffneten, also toten Körpers zum Sinnbild des »memento mori«: Als Lebende sind wir bereits dem Tode anheim gegeben.

Der Blick ins Körperinnere wurde zum verinnerlichten Blick des Christenmenschen. Damit konnte zumindest die postmortale Existenz Gestalt gewinnen. Leben definierte sich vom Tode, und der Tod von der Ewigkeit her. Das Leben wurde als ewiges auf Dauer gestellt, sobald die Pforte des Todes durchschritten war, und die Pforte des Todes war der Eingang ins anatomische Innere des Organismus. In sozialer Hinsicht machte sich diese reflexive Form des anatomischen Präparats nicht nur bemerkbar als Formierung von Individuen zum Publikum, zum Haufen der Schaulustigen oder Wißbegierigen und Räsonnierenden. Pietisten, Herrnhuter oder Quäker formierten sich als Lebensgemeinschaften mit konsequent praktischer Ausrichtung auf Gleichheit im Tode und deswegen auf die Gestaltung von Alltagsgegenständen wie Möbeln, Kleidung, Architektur, Geräten. Das Design der Amish People oder Hutterer wurde für Gestalter der Moderne vorbildlich.

Die englischen Gärten des 18. Jahrhunderts sind die bis dato umfassendsten Ensembles reflexiver Formen und ihrer Bewertung. Jedes Detail (Geländegestaltung, Bepflanzung, Bewässerung, Sichtachsen, Staffagearchitekturen, künstliche Ruinen, Freundschaftsmonumente, Wirtschaftsbauten) läßt sich noch heute erschließen und in der Bewertung nachvollziehen. Dafür nur ein Beispiel: von Ermenonville bis Wörlitz gab es in jedem englischen Garten auf einer künstlichen Insel ein Grabdenkmal für Jean-Jacques Rousseau, der den Ruf »Zurück zur Natur« etwa im Sinne heutiger Soziobiologen vortrug und die Schemata sozialer Formationsbildung (v.a. das der freundschaftlichen Assoziierung und Selbsterziehung) in seinen Schriften herausgestellt hatte.

Das Grabdenkmal Rousseaus wird stets von einem Kreis von Pappeln umstanden, weil im Französischen der Ausdruck für das »Volk« (le peuple) mit dem für »Pappeln« (peupliers) sehr ähnlich lautet. Versinnbildlicht wird also die sozial formierende Kraft der rousseauschen Gedanken. Das Volk bildet um Rousseau den Kreis der Gleichgesinnten wie die Pappeln um den Kenotaph.

Die englischen Gärten konnten als derart ausdifferenzierte Angebote von Gestaltbewertung inszeniert werden, weil Geschmacksbildung als zentrale Befähigung von Individuen zu sozialem Verhalten galt. Ein Geschmacksurteil ausbilden zu können hieß, sich unterscheidungsfähig gemacht zu haben, wie es dem Gattungswesen Mensch als homo sapiens sapiens (= dem Schmeckenden) zukommt. Vom ursprünglichen Unterscheiden durch Schmecken wurden taste, gout oder Geschmack generell auf alle kulturellen Unterscheidungsleistungen ausgeweitet. Schmecken kann man nur selber, also muß ein eigener Geschmack ausgebildet werden.

Lichtenberg veranlaßte Chodowiecki, eine Reihe von Illustrationen für die Geschmacksbildung der Deutschen anzufertigen. Paarweise angeordnet werden jeweils »guter« oder »schlechter« Geschmack, »natürliches« oder »unnatürliches« Verhalten, »echtes« oder »falsches« Gefühl gegenübergestellt. Individuum zu sein hieß damals, selber zum Träger der sozialen Formierungskräfte zu werden. Man war in dem Maße individuell, wie man aus sich heraus als glaubhafter Repräsentant des sozial Vernünftigen und Gebotenen in Erscheinung treten konnte.

Individualität bestand also für den Bürger in der Beispielhaftigkeit seines Verhaltens und nicht in der Exzentrizität, auf die sich die Aristokratie in Absetzung vom Aufklärungsmodell der Bürger kaprizierte.

Aus dem Fundus der im 20. Jahrhundert ausgeprägten reflexiven Formen soll zum Schluß auf eine der entscheidendsten verwiesen werden: die des Selbstversuchs. Christian Schad zeigt in seinem Gemälde »Die Operation« von 1929, wie der rasende Reporter E. E. Kisch die Operation seines eigenen Blinddarms bei vollem Bewußtsein in einem Spiegel über dem OP-Tisch beobachtet. In bewußter Anlehnung an die christliche Ikonographie der Pietà hält eine Schwester das Haupt des Operierten, der sich Einblick in sein eigenes Körperinneres zumutet, also im Sinne der historischen Anatomie seinen eigenen Tod antizipiert, aber damit auch ewige Lebensdauer für sich in Anspruch nehmen kann.

Die Neue Sachlichkeit von Wissenschaft und Medizin korrespondiert mit diesem historischen Modell; die Operateure sind strikt auf das anatomische Detail wie auf ein Präparat ausgerichtet und dürfen nicht den geringsten Gedanken an Schmerz und Leiden des Patienten verschwenden. Schad und Kisch machen klar, daß auch der modern-sachliche Alltagsmensch zu sich selbst wie zu einem fremden Präparat in Beziehung treten muß, um den Fährnissen des Lebens gewachsen zu sein. Der Fortschritt vom 17. zum 20. Jahrhundert bestand also darin, nicht nur die anderen wie eine fremde Sache zu betrachten und zu bewerten, sondern vor allem sich selbst.

Erst diese Fähigkeit legitimiert moderne Informationsgewinnung: Ich verhalte mich zu mir selbst wie zu jedem anderen.

siehe auch: