Vortrag / Rede 49. Philosophentagung “Die Sprachlichkeit in den Künsten”

Theorie-Duett mit Bazon Brock und Hans Ulrich Reck im Rahmen der 49. Philosophisch-Theologischen Arbeitsgemeinschaft zum Thema 'Die Sprachlichkeit in den Künsten', 27. September bis 3. Oktober 2004, Walbenberger Akademie, Bornheim, 1. Oktober 2004

Termin
30.09.2004

Veranstaltungsort
Bornheim, Deutschland

Veranstalter
Walberberger Institut

“Historische Anthropologie der Medien – Ästhetik: Kunstphilosophie oder Bildwissenschaft?”

Reck: Wir wollen uns im Duett mit der Frage beschäftigen „Ästhetik: Kunstphilosophie oder Bildwissenschaft?“ Das ist der Untertitel, der Bezug nimmt auf den Obertitel „Historische Anthropologie der Medien“. Wir werden auch Themen behandeln wie den iconic turn, also die Frage, ob es eine universale Bildwissenschaft gibt und was diese mit den Medien zu tun hat. Es ist zu bestimmen, ob die Erörterung der Bilder in die Ästhetik oder in die Kunsttheorie, in die Kunstphilosophie oder in die Bildwissenschaft fällt. Wie sind diese Dinge von unserer Sicht aus zu denken, wenn man davon ausgeht, dass Bildsprachlichkeit als etwas angeblich anderes als Wortsprachlichkeit aufgefasst wird. Um diese Annahme auf ihre Stichhaltigkeit hin abzuklopfen, beschäftigen wir uns zuerst mit der Bild- und Wortsprachlichkeit in einem ganz bestimmten Sinne. Denn wir untersuchen Inkorporierungen von Bildsprachlichkeit als eine rezeptive Leistung, die sowohl in der Kunst wie in der Alltagskultur durch die mediale Bildpublizistik vermittelt wird. Das erste Bild, auf das ich hinweisen möchte, ist ein Schema von Karl Jaspers, wie es in „Von der Wahrheit“ gedruckt worden ist. Die Philosophie von Karl Jaspers ist hier insgesamt in einem statischen Bild zusammen gefasst. Es gibt eine gemeine Bemerkung von Gottfried Benn, was er denn „Von der Wahrheit“ hielte. Da sagte er: „So lange kann die Wahrheit nicht sein.“

Jaspers selbst hat dieser kurze Blick auf die in einem Schema visualisierte ganze Wahrheit ebenfalls nicht befriedigt, zumal er sich in den Geboten seiner „Philosophischen Logik“ eines alten Vorbehalt erinnerte: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen.“ Das sei das wahrste und das unmöglichste Gebot gleichermaßen. Jaspers hat dieses von ihm selber entworfene und publizierte Diagramm später einer scharfen Kritik unterzogen, nachdem er sein Leben lang immer wieder versucht hat, seine Philosophie in Schemata oder Diagrammen darzustellen, als eine Figürlichkeit des Sehens oder als ein Schema der Figur des Seins vorzuführen. Er endet letztlich bei der Ansicht, dass das Bild unangemessen sei in Bezug auf den Gedanken, in der Wurzel verkehrt und barbarisch, eigentlich nicht einmal ein Spiel, sondern nur eine Spielerei darstelle. Aber ohne diese Spielerei ist es ihm offensichtlich auch nicht möglich gewesen, seine Philosophie sich selbst zu veranschaulichen. Wir kommen auf das Diagramm in allgemeiner Kennzeichnung zurück, weil es gewissermaßen einen Schlüssel für die Universalität von auf Wissen bezogenes Verbildlichen von Sachverhalten darstellt, Das Kondensat aus Jaspers' Philosophie mündet hier in eine erste Gedankenfigur, die selbstverständlich Bildlichkeit, Textualität und Reflexivität in einem inkorporiert, aber nicht so, dass man sagen könnte, dass sie sich einer unkommentierten Anschaulichkeit erschließen würde, also gewiss nicht der Numinosität des wortlosen Bilderbetrachtens.

Wenn man bestimmte Bildphänomene untersucht, dann erweist sich, dass eine bestimmte Logik der Darstellung nicht nur in der bildenden Kunst vorkommt. In gleicher Weise vollzieht sich die Ausnützung von Gestaltphänomenen in anderen, anders bewerteten, außerkünstlerischen Zusammenhängen. Ein Beispiel hierfür bietet deren Verwendung als erzählerische Elemente in verschiedenen Romanen von Robert Gernhardt, Bernstein und F. K. Waechter, z. B. „Die Wahrheit über Arnold Hau“, wo es eine Erörterung gibt, die unter dem Titel läuft „Ein großer Mann von allen Seiten“. Da sieht man eine Verzeichnung der Verbildlichungsmöglichkeiten eines Portraits als eine Bild-Textgeschichte. In diesem Beispiel kommen die selben Techniken zur Anwendung, die man in der bildenden Kunst und der Kunstgeschichte entwickelt hat. Ein ähnliches Phänomen kommt in der Meta-Paradoxie von René Magritte zur Sprache, in und mittels einer Verdoppelung dessen, was hier nicht das Objekt, sondern die Bezeichnung markiert. Die Frage ergibt sich, ob Bilder grundsätzlich als Bezeichnungen zu charakterisieren sind. Jedenfalls kann man leicht sehen, dass man solche Bilder auch in ganz anderen Kontexten 'mitsieht', z. B. in Zusammenhängen wie der Werbung, die natürlich, nachdem man Magritte verstanden hat, aufschlußreicher zu rezipieren ist. Wie überhaupt die Technik, Bilder und Texte aufeinander zu beziehen oder – und sei es 'widersinnig' – voneinander zu entkoppeln, eine Technik ist, die in den publizistischen und bildpublizistischen Domänen tatsächlich eingeübt worden ist.

Kunstgeschichtlich bedeutsame Techniken dienen also zur Schulung für eine rhetorische Leistung in Bezug auf alltägliche Rezeptionen. Das bekannte Phänomen der Benetton-Werbung besteht aus nichts anderem als einer an Magritte und der gesamten conceptual art geschulten Entkoppelung von Bildmotiv und Textbezeichnung, d. h. einer Textsetzung, die außerhalb oder entgegen der Bilder eine Identifikation herstellt mit dem Objekt des Beworbenen, das als referentielles Objekt zugleich in ein sekundäres Zeichen des Begehrtwerdens verwandelt wird. Man könnte sagen, moderne Bildsprachlichkeit bestehe generell in der Entkopplung des Zeichens von der Bedeutung oder der Beschreibung. Schließlich stellt sich heraus, dass man über das Phänomen dieser Entkopplung gerade wieder die Identifikation leistet.

Diese Diskussion führte dazu, dass die Legitimität der Verwendung von Bildmotiven bestritten wird. Benetton wurde als ein Prinzip des obszönen und des beliebigen Verbindens deklariert, des vermeintlich skrupellosen Aneignens von allem, was sich in den visuellen Archiven der Menschheit angesammelt hat. Mehrere Phänomene kommen hier zusammen. In der Publizistik werden Techniken der avancierten Kunst transformiert, die Kunst wird selbst als eine Ressource benutzt, so dass die Bildsprachlichkeit der Künste als Ressource für Alltagsrhetoriken im publizistischen Bereich Verwendung findet. Die Techniken des Umgangs mit der Bildlichkeit werden dort genauso inkorporiert wie sie in Beispielen der Moderne eingeübt worden sind. Ein zweites Thema wäre die Frage nach den Erkennungsmerkmalen von Bildern in einem syntaktischen Bereich. Dazu präsentiere ich ein eher eigenwilliges Beispiel, das klarerweise die Reproduktion einer Aufnahme eines Bildes von Cézanne ist, ein Dia, das auf einer photographischen Reproduktion beruht. Vergleicht man diese photographische Reproduktion mit der Aufnahme einer Vorlage aus dem Internet, so wird man vergebens die Identifikation der syntaktischen Merkmale einüben und sich fragen, ob das Bild auf der syntaktischen Ebene überhaupt noch identifiziert werden kann. Die Bedeutung dieses Vorgangs führt zur Frage, warum im Falle der Digitalaufnahme die rezeptive Leistung der Reproduktion ins Zentrum tritt. Was passiert denn mit der Bildlichkeit in einem digitalen Zeitalter, in dem ganz andere Manipulationstechniken für Bilder möglich sind? Man spricht dann besser nicht mehr von Manipulationsmöglichkeiten, sondern schlicht von Konstruktion. Die digitale Rekonstruktion einer nur in Teilen oder Fragmenten, als Torso, überlieferten Villa von Andrea Palladio ist im ikonischen Register sehr leicht machbar. Man sollte aber deutlich betonen, dass die Vollendung einer bestimmten digitalen Simulation zugleich das Modell erzeugt, auf das es sich bezieht. Man kann hier also nicht mehr von Repräsentation reden. Es ist bezeichnend, dass im Zeitalter digitaler Bildtechnologien Bildbeweise im bisherigen 'stofflichen Sinne' nicht mehr geführt werden können. Wir können in der politischen Ikonographie noch darüber reden, was es bedeutet, wenn die Beweiskraft der Bilder strukturell nicht mehr gegeben ist, weil keine Referenzmöglichkeit zwischen Original und Kopie mehr existiert und weil jede Nutzung eines Bildes in einem Archiv diese Bildmöglichkeiten erweitert und nicht etwa einschränkt. Was bedeutet es, dass im digitalen Bereich leichthin herstellbar ist, was immer man zum und als Beweis haben will und meint, man könnte das ikonisch als ein Identitätszeichen vorführen, zugleich jedoch die konstruktiven Anteile daran unterschlägt. Das wäre dann eine Simulation, die sich darin erschöpft, ihren Simulationscharakter zu dissimulieren, also gar nicht mehr Simulation ist, die ja immer in der Beziehung einer Differenz zwischen simulierendem und simuliertem System oder Modell besteht. Deswegen kommt dies der illegitimen Täuschung sehr nahe. Das musste man auch zu Zeiten der Irakkriegsvorbereitungen erfahren. Dort wurde mit genau solchen vorgegebenen Modellen, die konstruiert waren, argumentiert, als seien sie ikonische Referenzen, die tatsächlich in ontologischem Sinne etwas repräsentierten. Die Rekonstruktion des Kolosseums ist eine Leistung, die man früher mit dem Problem der Retuschierung, ja gar dem der eigentlichen historischen Lüge verbunden hätte. Ein einschlägiges Beispiel aus dem analogen Bereich liefert Le Corbusier in seinem Buch 'Vers une Architecture'/ 'Ausblick auf eine Architektur' von 1922. Man vergleiche nur die unretuschierten Originale damit, wie er die originalen Photographien im publizierten Buch bearbeitet und verwendet. Für seine Zwecke hat er offenkundig skrupellos gelöscht, was seiner Auffassung nach an den historischen Vorgaben störte, auf die er sich beziehen wollte. Seine Vorbilder waren im Silobau und in der Industrie- und Ingenieurarchitektur angesiedelt und nicht mehr in der Akademie der schönen Künste. Er hat deshalb wegretuschiert, was ihm an seinem Bezug auf das Vorbild gestört hat. Das waren vor allem überflüssige, zumeist historistische und klassizistische Verzierungen, nicht selten späte Reflexe der modernistisch als reaktionär empfundenen architektonischen Pathos-Prägungen. Klarer- und berechtigterweise darf man hier von einer Fälschung reden. Es ist aber gleichermaßen eine Konstruktion. Jedoch gibt es ein „Vorher“ und ein „Nachher“, es gibt die Möglichkeit eines Bezugs auf so etwas wie ein „Original“. Diese Funktionsweise ist im Simulationsbereich von digitalen Animationen oder Simulationen eine ganz andere, denn ob tatsächlich ein Automobil konstruiert oder nur ein Bild gezeigt wird, ob jemand sich um eine Darstellung der Evolutionsgeschichte der Menschheit bemüht oder nur um ene besonders wirksame Veranschaulichungshilfe anstelle derselben, ist relativ gleichgültig. Entscheidend ist, dass man für die Konstruktionsprinzipien jeweils noch einen externen Gesichtspunkt braucht. Man braucht einen bestimmten Kommentar, der uns angibt, nach welchem Gesichtspunkt das Modell aufgeschlüsselt wird. Das Bild sagt also nur insofern etwas, als es auch ein artikuliertes Programm gibt, unter dessen Hinsicht es das leistet, was es leisten soll. Diagramme bestimmen eben dies. Sie sind nun Bilder, die veranschaulichen, was Expertenwissen inkorporiert. Diese sind als Reduktionsformen zu betrachten, denn im Bild wird verdichtet, was Experten wissen können. Es gibt Darstellungen der Welt, z. B. Weltkarten des 14. oder 15. Jahrhunderts, die vollkommen gültige Konstruktionsansichten der Auffassung von der damaligen Welt wiedergeben, die Organisation der Geographie mit den verschiedenen Erdteilen und Flüssen und in der Mitte Jerusalem als Zentrum der Welt zeigen. Eine solche Karte kann als ein Emblem betrachtet werden, aber es ist gleichermaßen ein Diagramm. Es wird verzeichnet, was das Wissen wirklich weiß oder was seine normative Ausrichtung als unverfügbare Wahrheit, ultimative Richtlinie für durchgesetzte Erkenntnisse, setzt. Diese Prinzip macht aus den Diagrammen eine Synthese zwischen Anschaulichkeit und Wissen. Es wäre zu diskutieren, ob nicht gerade das Diagramm als ein Weltbildmodell, ob nicht gerade die Diagrammatik das ist, was auch in avancierten Technologien der Medizin Anwendung findet, wo nicht mehr die Organe photographiert werden, sondern wo die Aufbereitung von Tomographien auf Expertenwissen beruht und eine permanente Auswertung weiterer, neu eintreffender Daten stattfindet. In diesen kognitiven Diagrammen erscheinen visuell bestimmend die Überlagerungen von Wissenszusammenhängen, artikulierten Sachverhalten, Propositionen. Die 'Resonanzphotographie' in den Computertomographien und deren Bilder beruhen, auch wenn die Vermittlungsform dieses Wissens visuell ist, auf einer mehrtausendjährigen Geschichte der Anatomie, der anatomischen Zeichnung, des Sezierens, die als kognitive Matrix zugrundegelegt werden muss, damit das Wissen auf einen Bezugspunkt hin organisiert werden kann. Erst von da an werden Bilder ikonisch. Die Ikonizität, die Wiedererkennbarkeit, die sinnliche Erkennbarkeit der Bilder sind abhängig vom Durchlauf der neuen Hypothesen durch alles bisherige Wissen und seine diversen, historisch unterschiedenen medialen Aufbereitungen. Erst dann werden die Bilder als Wissenszusammenhänge wieder anschaulich, also visuell. Zu dem Phänomen des Diagramms existieren verschiedene berühmte oder, je nach dem, berüchtigte Beispiele, z. B was Lavater im 18. Jahrhundert mit seinem Projekt der Physiognomie als eine Profilbildung auf anthropometrischer Grundlage unternommen hat. Auch die akademische Unterweisung des Zeichnens war bereits 'ein-anhand-von-Diagrammen-Lernen', selbst bei anatomischen Skizzen. Noch früher, im 14. Jahrhundert, verwendete der Mathematiker Nicholas Oresme (oder Nicole D' Oresme) in einem Traktat über die Längenkurvenvermessung von Formen Kurvendiagramme im Sinne einer mathematischen Funktionstheorie und stellte damit Anschaulichkeit als Bild her. Doch sagt uns das in etwa ebensoviel oder -wenig wie das Diagramm der Wurfparabel von Galilei, wenn man die Sachverhalte, um die es geht, nicht identifizieren kann. Erst wenn man weiß, was die Matrix beinhaltet, was die x- und die y-Achse jeweils vermessen können, vermag man Diagramme als verdichtete Anschaulichkeit von Expertenwissen zu verstehen. Zugleich inkorporieren die Diagramme Mnemotechniken, mit denen jemand arbeitet, um mittels einer gut gemachten Veranschaulichung sicherzustellen, dass er alle für einen Zusammenhang relevanten Wissensdaten unterzubringen vermag, auf deren Grundlage er als Experte dann kundig reden kann. Das ist eine wesentlich ökonomischere Form, als sich der Ausführlichkeit von Beschreibungen zu widmen. So ähnlich taucht das in anderen Zeiten in der Kunst auf, z. B. der idiosynkratischen Naturphilosophie von Paul Klee, die ja seine Kunst in der Essenz wie im Umfang wesentlich und wesenhaft ausmacht. In gewisser Weise sind alle seine Bilder Illustrationen seines Denkens über eine poetische empfundene metaphysische, generative Natur (natura naturans).

Klee produzierte alle möglichen Diagramme, insgesamt 8.000 Blätter und Aufzeichnungen im Rahmen seiner Vorlesungen und Grundkurse am Bauhaus, in denen er sein Wissen mit durchaus originären Qualitäten veranschaulichte. Es bleiben letztlich Diagramme einer individuellen oder privaten, eben: idiosynkratischen Metaphysik. Zu diskutieren wären Diagramme darüberhinaus als Inkorporationen von individuellem oder kollektivem Wissen. Eigentlich sind das dann keine Repräsentationsformen mehr, die auf Sinnlichkeit beruhen, im Gegenteil. Widersinnigerweise herrscht in den avancierten Technologien immer noch das photographische Paradigma vor. Man muss nur bestimmte Anzeigen aus dem SPIEGEL des Jahres 2004 betrachten, die dort und auch anderwso häufig, jedenfalls zu eigentlichen Sequenzen wiederholt, gedruckt wurden und als wahrhafte techno-imaginäre Lehrstücke zu sehen waren. In ihnen wird zentral versprochen, mittels des Computers in das Gehirn hinein schauen zu können, also gleichsam in ein „photographisches Universum“ zu blicken. In der Erläuterung der Anzeige, der selber Bild werdenden inscriptio im Sinne der alten Emblem-Techniken, steht geschrieben: „Ihr Arzt kann jetzt sehen, wie Sie denken.“ Als Ikonograph würde ich sage, dass das exakt falsch ist, denn anhand dieses Beispiels sehe ich bloß, wie der Arzt denkt, oder, noch genauer: denken möchte. Das Beispiel gibt lediglich die vorherrschende Auffassung über Gehirntätigkeiten wieder und wie die visuellen Aufbereitungsprinzipien verstanden werden. Das will ich im Übrigen nicht als eine Kritik am Zustand der Gehirnforschung begriffen wissen, sondern stellt bloß die Charakterisierung einiger werberhetorischen Bildphänomene zur werbenden Einwicklung und Indienstnahme des allgemeinen Publikums dar. Des weiteren geht es um die Frage, wie man sich Bilder und Bildphänomene erklärt. Es gibt substantialistische Auffassungen, die definieren möchten, was als Bild in der Kunst funktioniert, was als solches gilt oder was die prinzipielle Qualität eines Bildes im Sinne einer Ontologie des Bildes sei. Man argumentiert in der Regel dahingehend, dass die Kunstgeschichte als Bildwissenschaft es mit der Substantialität des Bildes zu tun hätte. Mein Vorschlag, den ich schon mehrfach geäußert habe, ist eine nicht-substantialistische Erklärung und beruft sich nicht nur auf Pragmatik, also auf rezeptive und interpretierende Verwendungsweisen im Sinne der Semiotik. Dieser Vorschlag nimmt auch nicht nur die eine Funktion des Rhetorischen als Bezugspunkt auf, um Bilder zu erklären, sondern bezieht sich auf die so genannte Instanz der Referenz . Man kann nämlich Referenzsysteme von Bildern aufbauen, kann sie in einem historischen Ablauf ordnen, obschon es sich vielmehr um mehrfache Schichtungen und Überlagerungen der Referenzsysteme handelt. Man kann das für eine kunstgeschichtliche Vorlesung in eine typologische Vereinfachung münden lassen oder einfach dazu übergehen, von einem symbolischen Referenzsystem zu sprechen. Darin wird untersucht, was sich mit den Bildern als Bildern verbindet.

Symbolische Referenzsysteme sind solche, die als Bild erscheinen, die auf etwas verweisen, was das Bild selbst nicht zeigt, sondern 'meint'. Es gibt konventionelle Codierungen, z. B. Attribute aus dem religiösen System, also Darstellungen, die sich auf religiöse Unterweisungen beziehen, in denen für eine Glaubensgemeinschaft bestimmte Attribute verwendet werden, die gleichermaßen wunderbare wie wundertätige Beispiele für die symbolische Funktion von Kunst freigelegen. In der christlichen Ikonographie beschäftigt man sich natürlich intensiv mit einem solchen zeichentheoretischen Symbolismus. Dort wird die Ikonizität zum einen als Problem in der Bilderverbotsthematik abgehandelt, zum anderen aber auch aufgegriffen als ein Darstellungsproblem in Bezug auf die wechselnden Register, die im historisch medialen Gebrauch bedient werden. An die Stelle des Symbolismus tritt dann zunehmend die Ikonizität oder ein ästhetischer 'Eigensinn', immer noch im Rahmen eines symbolischen Referenzsystems. Das taucht bei allen individuellen Mythologien auf, nicht nur bei Hildegard von Bingen, sondern auch im 20. Jahrhundert bei Adolf Wölffli oder der Art brut. Der entscheidende Bruch ist im 15. Jahrhundert anzusiedeln, in dem der Wechsel in ein anderes Referenzsystems sich vollzieht. Die neue Verbindlichkeit des mathematisch-technischen Referenzsystems geht mit einer Konstruktion des infinitesimalen geometrischen Bildraumes einher, worauf auch der Paragone und die soziale Emanzipation der Künstler beruhen, die sich als ein kunsttheoretisch begründetes Ringen um soziale Anerkennung verstanden haben. Die Kunsttheorie ist als ein Reflex auf diese Emanzipationsbestrebung zu begreifen, die sich dann ästhetisch und konzeptuell verselbständigt hat. Beschäftigt man sich mit dem Thema der visuellen Identifikation, also mit der Konstruktion von Bildern, die 'natürlicher wirken als die Natur selbst', dann kann man sich mit guten Gründen spätestens auf das 17. Jahrhundert und darauf konzentrieren, wie man damals lernte, dass Bilder Beschreibungen ihrer Darstellbarkeit werden, z. B. über Gefühlswerte oder über Bewegungsphasen wirken. Auch dies hängt ab von der Konstruktion eines Bildraumes. Schon seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gibt es entsprechende medial gesteuerte Beispiele, die schlagend zeigen, dass der Symbolraum des Heiligen eingerückt wird in die Zentralperspektivität und damit die Übertragung in ein anderes Referenzsystem leistet. Erst das Referenzsystem macht die Bilder in ihrer Neuheit erklärbar. Es treten dann ganz andere Bedingungen auf, wenn im Grunde jedes sichtbare Objekt im dreidimensionalen, infinitesimalen Vektorraum simuliert dargestellt werden kann. So werden das Numinose, das Heilige und das metaphysisch nicht Berührbare in einen vermessenden Raum eingerückt, in dem alles nach denselben Prinzipien darstellbar wird; auch die korrekte Anatomie ist ein Bestandteil dieser Tendenzen zu einem entschiedenen Naturalismus. Bis in die Kunstakademien des 19. Jahrhunderts hinein ist dies das maßgebliche Ideal geblieben. Ziel der Illusionstechniken ist, dass die Bilder natürlicher erscheinen sollten als die Natur selbst. Auf dem Hintergrund einer zunehmend gedankenlosen Vorherrschaft dieses virtuosen Illusionismus oder Naturalismus entwickelt sich fast zwangsläufig ein oppositionelles Referenzsystem, das sich peu à peu darüber lagert, das ich als ein expressives, surreales oder irreales Referenzsystem bezeichnen würde.

Das beginnt bei der subjektiven Besetzung und Umformung bestimmter Aspekte dieses früheren Referenzsystems. Die europäische Romantik ist hierfür ein Beispiel, da Landschaft nicht mehr als Landschaftsportrait, sondern ebenfalls als Seelenmetaphorik des Künstlers und dessen Empfindungen zur Darstellung gebracht werden. Nun ist das Entscheidende, dass diese Referenzsysteme nicht nur historisch aufeinander folgen, ohne sich mechanisch oder gar in sauberen Schnitten abzulösen, sondern dass sie einander stetig überlagern, wechselseitig durchdringen und jederzeit einer neuen Gewichtung und Hierarchieumbesetzung unterzogen werden können. Es gibt Dominanzhierarchien und auch wieder die Möglichkeit, die man aus der Salon-Malerei kennt, in der Illusionstechnik zum mathematischen Referenzsystem oder zum symbolischen zurückzukehren. Was sich hier als hochwertige Kunst durchsetzt, ist jeweils das, was kunstgeschichtlich, kunstpublizistisch, oder kunstkritisch durchgesetzt wird. Aber die Empfindungen bleiben auch im expressiven Referenzsystem, ja sogar bei einem nicht-figurativen Anteil genauso ikonographisch besetzt und leitend, wie sie das vorher gewesen sind, nur nach anderen Gesichtspunkten. Schließlich gibt es auch noch ein weiteres Referenzsystem, das ich ein semiotisch-konzeptionelles nennen würde. Dieses beschäftigt sich explizit mit der Frage der referentiellen und metasprachlichen Darstellbarkeit von Bildphänomenen. Dazu ist René Magritte zu zählen, dazu gehört aber auch Barnett Newman, der mit seinen Behauptungen einer universalen Inkorporation von nicht-gegenstandsreferenziellen Bildformen hervorgetreten ist und eine Ikonographie der nicht-gegenständlichen Kunst etablierte. Das semiotisch-konzeptionelle Referenzsystem wirkt natürlich bis hin zur konzeptionellen Kunst, in der die Sprachlichkeit selbst als ein Sachverhaltsphänomen von Visualität auftritt. Bei Lawrence Weiner und dessen „Sentenzen“ tritt das Kunstereignis an die Stelle des Bildes und wird selbst zum Bilde. Wenn man noch weiter geht und fragt, was denn im techno-imaginären Referenzsystem mit entsprechenden Manipulationen sich vollzieht, dann werden die Zeichen besetzbar durch andere Darstellungen, die noch mit der Reproduktionskultur und dem Zirkulieren von dort bekannten Phänomenen operieren. Ein gewisser Höhepunkt des techno-imaginären Referenzsystems waren die Flyer der 90er Jahre, bei denen nur mittels hermetischer Zeichen und zahlreicher diverser Andeutungen für einen spezifischen Gruppengebrauch angezeigt wird, wo die jeweils nächste einschlägige Party stattfindet. Die Bildelemente und -motive erweisen sich dagegen als komplett austauschbar.

Zusammenfassend: Diese Referenzsystem sind nicht die Phänomene als Bilder selbst, aber auch nicht nur externe Interpretationen, sondern inkorporieren Modelle, deren Herleitung man ausführlich beschreiben kann. Diese Referenzsysteme überlagern einander, so dass der Surrealismus als ein Referenzsystem zu betrachten ist, das mit einer ganz bestimmten konzeptionellen Verschiebung des mathematischen Darstellungsraumes arbeitet. Diese Mischverhältnisse sind sehr gut für die Charakterisierung von Bildphänomenen und Bildwirkungen geeignet. Es handelt sich nicht um Bilder im Hinblick auf ihre externen Beschreibungen oder explikatorische Versprachlichungen, sondern um die intrinsischen Möglichkeiten der Bilder in dem Sinne, daß Referenzsysteme in einem komplexen Sinne immer gleichwertige Veranschaulichungen von Denkprozessen beinhalten, individuelle oder kollektive. Deshalb könnte man sagen, dass Bildsprachlichkeit und Wortsprachlichkeit zwei Versionen einer kognitiven Differenzbildung sind, die entweder repräsentieren oder inkorporieren. Sie sind durch diese Referenzsysteme besser beschreibbar und stellen den Versuch einer dritten Ebene gegenüber substantialistischen Erklärungen dar, von der Art wie: 'Bilder sind immer nur in der Kunst wichtig, weil sie numinos sind', oder 'Bilder sind nur pragmatische Kontexte, die in der Werbung zum Gebrauch der Photographie oder der Illustration führen'.

Brock: Zunächst einmal ist, mit Blick auf die Konsequenzen, die das hier Vorgetragene hat, zu sagen, dass Ulrich Reck nicht der Absicht gefolgt sein kann, die historische Entwicklung einer Problemgeschichte nachzuzeichnen, denn die gewählten Beispiele entsprechen weder einem chronologischen, noch einem systematischen Vorgehen. Worum handelt es sich dann, wenn nicht um Reflexe auf Problemstellungen? Wir operieren immer scharf mit dem Rasiermesser der Ockhamschen und Baconschen Vorgabe: Wir beschäftigen uns mit einer Sache nur dann, wenn es zu einer problematischen Konstruktion kommt. Voraussetzung ist die generelle Verweigerung gegenüber systematisierender Darstellung, da man ansonsten nicht mehr zu erkennen vermag, dass es problematisch sein könnte, dass jemand systematische und chronologische Darstellungen in Zweifel zieht. Vorausgesetzt wird, dass es keine Ontologie mehr gibt, zumindest wird niemand mehr zu einer solchen gezwungen. Ganz praktisch und anschaulich bedeutet das etwa folgendes: Ein Wirtschaftslenker und Global player der Bundesrepublik namens Ackermann, Chef der Deutschen Bank, hat für viel Geld monatelang eine Kampagne gefahren. Er ließ, ausgestattet mit reichlich Passion, eine doppelseitige Anzeige schalten, in der ein Diagramm zu sehen war mit einer Prozent-Achse und einer Zeitachse. Darunter stand im Subtitel der dominante Slogan: „Bei der Deutschen Bank ist Erfolg eine Frage des Ertragswinkels.“ Wenn man erfasst hat, was das bedeutet, dass Wirtschaftslenker so etwas für eine Aussage halten, mit der sie auch noch für ihre Bank werben wollen, dann weiß man, was in der Welt gegenwärtig passiert. Das lässt sich auch auf die angesprochenen Simulationen von Begründungen der US-Amerikaner zur Rechtfertigung eines Angriffskrieges beziehen. „Erfolg ist eine Frage des Ertragswinkels“ meint, dass wenn man bei der Deutschen Bank eine Zeit lang sein Geld deponiert, dass dann die Prozente steigen, die man im Sinne eines Ertragswinkels einstreicht. Der Erfolg, der dabei eintreten mag, ist aber nicht eine Frage der gesicherten Ertragsgarantie, die man von der Bank gebilligt bekommt, sondern vielmehr versteht es die Bank jederzeit darzustellen, worin der Erfolg besteht, selbst wenn der Misserfolg eintreten sollte. Verfallen ist Ackermann an die Evidenz: ad oculos ponere, dem Vor-Augen-Stellen, dem Erzeugen des Evidenzerlebnisses durch die Darstellbarkeit. Alles, was im Sinne dieser modernen Führungsstrategen darstellbar ist, offenbart tatsächlich Führungswissen. Denn wie wird das Prinzip des Erfolgs in unserer Kultur dargestellt? Mit einem diagonal gezogenen Strich von links unten nach rechts oben wird man von der Evidenz überwältigt und nickt den eingestrichenen Erfolg ab, indem man mutmaßt, dass da etwas bedeutend angewachsen sei, und das kann nur etwas positives sein, etwa Generativität, die aus Produktivität hervorgegangen ist. Das gegenwärtig entscheidende Problem aller großen Weltmächte ist das der Steuerung. Ob Weltbank, ob Hegemonialprinzip der pax americana oder Deutsche Bank, alle verfahren sie nach dem gleichen Modus der Evidenzerzeugung. Alles, was man uns im Politischen oder im Ökonomischen vorführt, beruht auf erzeugten Evidenzen. Was man mittels dieser Einsicht leisten kann, wäre nicht eine Ontologie des Bildes, sondern die Begründung der Evidenzkritik. Die Entstehung der Kunst, die es als Kunst dem Begriffe und der Sache nach seit 600 Jahren gibt, ist begleitet von der Frage, wie Kunst als Evidenzkritik entwickelt worden ist. Explizit war es ein Piero della Francesca, der mit seinen Anleitungsschriften u. a. für Kaufleute ab 1482 die Frage aufgab, wie man der Evidenz des Marktobjektes zu misstrauen lerne. Piero gibt zu verstehen, dass als Tuchhändler auf den Markt von Florenz zu gehen, hieß, die präsentierten Waren auf Anhieb im Hinblick auf ihre Qualität einer instantanen, gleichwohl sehr genauen Prüfung zu unterziehen. Er überträgt diese Erfahrung auf die Kunst und lehrt am Exempel der Kunst, dass man dem Augenschein misstrauen solle. Die Anknüpfung dieser Evidenzkritik an das, was ab dem 15. Jahrhundert speziell die Künstler zur Verfügung stellen, begegnet uns in der Philosophie seit den Vorsokratikern. Um am Phänomen der Täuschbarkeit durch Anschaulichkeit anzusetzen, betrachte man nur die große Palette der optischen Täuschbarkeit, um sich zu fragen, wieso man auf diese Weise täuschbar ist. Die ästhetische Antwort der Antike hieß, dass man mediale Vorgaben für die Täuschung möglichst reduzieren müsse auf die Verhältnisse von Vorstellungsproduktion und die Anschaulichkeit des inneren Sinnes zum Zwecke der Erreichung philosophischer Aufklärung. Sich von der Täuschbarkeit durch einen visuellen Eindruck zu befreien, kann nur durch den richtigem Gebrauch des ad oculos ponere gelingen. Man sollte wissen, dass es gegenwärtig in der Wissenschaft keinen anderen Wahrheitsbegriff als den der Evidenz gibt, dass also auch dort das Evidenzprinzip des einvernehmlichen Nickens Geltung beansprucht. Für die Konfrontation mit optischen Vorgaben gilt, dass man sich dem visuellen Eindruck entzieht, strikt auf der wortsprachlichen Begriffsebene operiert und dadurch im Stande ist, Täuschbarkeit zu reduzieren. Das war ein fabelhaftes System, das im Kern die Wissenschaftsgeschichte bis in das 18. Jahrhundert bestimmt hat. Die raffinierten Sophisten, die Stammväter unserer Branche, verneinten eine Reduktion des visuellen Eindrucks. Man könne sich nicht der Konfrontation mit der Welt entziehen, denn das würde Askese bedeuten und dem Zusammenleben der Menschen im koinos widersprechen. Man würde sich dann selbst die Grundlagen der Reproduktion entziehen, was wenig nutzen würde. Das Phänomen der Täuschbarkeit nutzt nur zur Enttäuschung, woraus sich zugleich der Begriff der Aufklärung von den Sophisten her ableiten lässt, der in der Kunst seinen Höhepunkt um 1650 mit der Trompe l’oeil – Malerei erreicht hat. Ein Maler ist dann ein Künstler, wenn er in seinen Bildern die Täuschbarkeit dergestalt demonstriert, dass sie als Täuschung durchschaut wird, aber zugleich nicht aufgehoben werden kann. Der Betrachter erfährt einen Genuss, der einem als Genuss des Durchschauens der Täuschung bereitet wird. Demnach gehen aus der Evidenzkritik zwei Strategien hervor. Zum einen besteht die Möglichkeit der visuelle Askese, des Reduktionismus und des Konzeptualismus. Das geht soweit, dass selbst Bilder noch als Texte definiert werden, wie das Beispiel Lawrence Weiners zeigt. Das andere ist: Leiste eine Art von Konfrontation mit der Täuschbarkeit, dergestalt, dass man sie im gleichen Augenblick durchschaut und damit einen gesteigerten Attraktor, d.h. eine intellektuelle Lustquelle, erhält. Die Aufklärung trägt deswegen ihren Namen, weil sie als ein Durchschauen der eigenen Täuschbarkeit zu begreifen ist, die nur über Enttäuschung laufen kann. Tatsächlich laufen Bilder in der Evidenzkritik als Täuschung zur Enttäuschung. Wenn man heutzutage mit diesem Problem konfrontiert ist, dann nicht wegen einer bestimmten Wissenschaftstradition, oder um bestimmten Zwangsvorgaben zu entsprechen, wie etwa Bildontologien zu de- oder rekonstruieren, sondern ausschließlich aus der Konfrontation mit Problemen, denen man nur gewachsen ist, wenn man deren systematische oder historische Implikationen zur Sprache bringt. Zur Ehre von Herr Ackermann darf man sagen, dass er inzwischen erfolgreich verstanden hat, was er fabriziert hat: Eine ganze Nation zum Nicken zu bringen, angesichts der Feststellung, dass Erfolg eine Frage des Ertragswinkels sei. Er hat die Frage nach der Darstellbarkeit kapiert, und mittels einer aufsteigende Diagonalen von links unten nach rechts oben eine Analogie zum Firmenlogo herstellen lassen. Aber seine Strategen haben es nicht begriffen und sich um die Konsequenzen aus dieser erzeugten Evidenz drücken wollen. Denn auch die Strategen können den Erfolg nicht garantieren, außer in der Weise, vornehmlich erfolgreich in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Doch das stellt zugleich die Begründung des Vertrauens im Rahmen des Kundengeschäfts dar, denn in der Bekundung des wechselseitigen allgemein üblichen Misstrauens, dass ein jeder in den anderen setzt, ist Vertrauen überhaupt gerechtfertigt. Erst die Kenntnis, dass der andere ein Gauner ist, erzeugt die Bereitschaft zum Vertrauen. Herr Ackermann hat – powered by passion – die Kampagne dann einstellen lassen. Eine Konstruktion ist nicht mehr Manipulation, wenn man zugibt, dass man ein Gauner ist. Für uns im Alltagsleben heißt das, dass man von jemanden, der zugibt, dass er ein Lügner ist, sagen muss, dass er auf die Wahrheit, Schönheit und Gutheit bezogen sei, ohne sie zu kennen. Denn ansonsten würde die Banken eingestehen können, dass auch sie die Wahrheit des Wirtschaftens nicht kennen und die Computerprogramme ebenso nicht. Dennoch kann man den Geldinstituten vertrauen, weil sie sich auf eine Art und Weise auf die Wahrheit, die sie nicht kennen, beziehen, die für jeden anderen aus der Praxis der Kommunikation heraus nachvollziehbar ist: in Gestalt des Lügens. Selbst wenn man die Wahrheit nicht weiß, kann man mit wissenschaftlich zu falsifizierenden Hypothesen getreu dem Popperschen Prinzip operieren. Dennoch bleibt der Bezug auf die Wahrheit eine Denknotwenigkeit auch dann, wenn alles, was man sich vorstellt, durch Lügen beschränkt ist. Selbst wenn man das Gute, das Schöne oder das Absolute nicht kennt, ist man im Lügen darauf bezogen. Ewig werden die Theologen darüber lächeln, denn sie wissen ganz genau, dass ihre Zunft diesen Bezug schon seit mindestens 1500 Jahren dargestellt hat. Gleichwohl ist für uns Heutige diese Problemkonstellation anzuerkennen, deren Bedeutsamkeit im Begriff der Dekonstruktion angesprochen wird. Dekonstruktion ist nichts anderes als die Rekonstruktion einer Aussage als falsch, fragmentiert, begrenzt oder vorläufig. Die Dekonstruktion leistet die Rückführung der Aussage auf das, was sie gerade nicht ist. Dekonstruktion erschließt sich nicht durch das, was sie ist, sondern durch das, was sie nicht ist: nicht fähig die Wahrheit, das Schöne und das Gute zu repräsentieren, außer in dem Bezug auf Falschheit und Hässlichkeit. Deswegen hat die moderne Kunst, etwa im Fragmentismus durch direkte Abfallverwendungen, in der ausdrücklichen Beziehung auf eine Ästhetik des Hässlichen genau das geleistet, was erwartbar ist: Das als hässlich, vorläufig, fragmentiert, bloß collagiert zu Kennzeichnende, erzwingt im Betrachter notwendig, die Reflexion auf das Entartete, Schiefe, Dreckige zu produzieren und damit gleichzeitig das Andere dieser Behauptung zu denken. Die ganze moderne Kunst ist in dem Grade eine Enttäuschung, wie es ihr gelingt, im Betrachter die Frage zu evozieren – powered by pathos –: „Was? Das soll Kunst sein?“ Es ist keine Kunst, denn diese Frage stellen die Künstler mit dem Werk selbst. Eine Kunst, die sich nicht von vorneherein als Abfall, als ephemere Flickschusterei oder als betrügerische Bedienung des Kunstmarkts ausweist, ist auch keine, denn die wesentliche Charakteristik ist die Sichtbarkeit von Hässlichem, Unwahrem, Beliebigem, Fragmentiertem. Indem man das zu erkennen gibt, ist man denknotwendig auf das Gegenteil dessen bezogen. Zu der von Reck angesprochenen Inkorporationsproblematik ist zu vermerken, dass es nicht erst die Theologie des 4. Jahrhunderts nach Christi Geburt gewesen ist, die das Problem der Inkorporation im Hinblick auf die christliche Gotteslehre hervorgebracht hat. Unter den Diätetikern war immer schon klar, dass Inkarnation als unser prinzipielles Weltverhältnis zu begreifen ist. Wenn man die Welt nicht in Gestalt von Nahrungsmitteln inkarniert, also in eigenes Fleisch und Blut verwandelt, dann geht man sprichwörtlich vor die Hunde. Leben ist schlichtweg bedingt durch Inkarnation. Daraus ist durch Ableitung von den Diätetikern der Antike im 4. Jahrhundert erst ein theologisches Problem gemacht worden. Das verdankt sich einer ganz banalen Einsicht in den Zwang zur eigenen Inkarnation, sich selbst durch Essen am nackten Leben zu erhalten. Die Theologie verlagerte diese Problematik auf den Logos: „Am Anfang war das Wort und das Wort ward Fleisch“. Auf der genetischen Ebene dieses Modells kommt nichts anderes zu Stande als der genetische Aussagencode: „Verkörpere Dich!“ Mittels einer Inkarnation gelingt dieser Befehl zur Inkarnation, dem entweder auf der natürlichen Ebene oder auf künstlichem Wege der Verkörperung nachzukommen ist. Im sozialen Alltagsleben heute ist man ununterbrochen gezwungen, in Abfolgen nacheinander diverse Rollen zu verkörpern, um die Inkarnation zu garantieren. Um den weiteren Lebensprozess zu ermöglichen, ist man gezwungen, sich ständig auf das zu beziehen, was man eigentlich nicht ist. Indem man symbolisch repräsentiert, repräsentiert man das Nicht-Anwesende, die Abwesenheit, das Tote, das rein Gedankliche, das bloß Virtuelle, oder, wie Ulrich Reck es nannte, das „Techno-Imaginäre“. Um überhaupt symbolisch repräsentieren zu können, greift man zurück auf den alten Trinitätsgedanken von Inkarnation, Inkorporation und symbolischer Repräsentation. Im übrigen ist durch Shiva in der Trinitätskonstruktion der Hindu-Philosophie die Dekonstruktion sogar eingeschlossen. So hat sich der Atomwissenschaftler Oppenheimer mit seiner „Trinity“-Bezeichnung beim Bombenbau auf die hinduistische Trinität bezogen, nicht auf die christliche. Den Bezug auf die Zerstörung herzustellen, den die Bombe wie die Dekonstruktion einfordern, ist für das Denken und das Leben eine notwendige Bedingung, auch im Hinblick auf die Generativität und die Gesetzmäßigkeiten der Ökologie. Um das zerstörerische Potential greiflicher zu fassen, sind Rahmen und Referenz diejenigen Stichworte, die uns in der gegenwärtigen Situation zu beschäftigen haben, um auf Problemstellungen mit Bezug auf die angestellten systematischen und historischen Überlegungen zu reagieren. Auf einen überaus gelungenen Aufsatz von Ernst Pöppel zu diesem Thema sei verwiesen. Der Referenzrahmen, den die politisch-soziale, ökonomische und militärische Macht darstellt, ist im Kern bestimmt von der Letztbegründung der Entscheidung: Kopf ab, oder nicht? Die Frage nach der Reversibilität und der Irreversibilität im Bereich menschlicher Handlungen führt schließlich zu dem, was ich die 'Eichung am Ernstfall' nenne. Alle anderen Fragen der Anschaulichkeit, der Evidenzkritik und der Repräsentation werden am Ende nur dann bedeutsam, wenn sie am Ernstfall geeicht werden – als kulturelle Phänomene wie auch als anthropologische, die aber nur kulturell vorgetragen werden können. Komplizierter ist die Ausgangslage, wenn man berücksichtigt, dass die humanistische Tradition seit dem 15. Jahrhundert die Eichung der Kultur am Ernstfall des 'Kopf-ab!' verbietet. In dem Augenblick erhalten alle systematischen und historischen Überlegungen eine völlig andere Einfärbung. Anders als bei den fundamentalistischen Terroristen, für die die Aktionsmöglichkeit im Hinblick auf die Eineindeutigkeit eines Prophetenwortes und die geforderte Durchsetzung eines Planes entscheidend ist, zählt für uns die Reaktionsmöglichkeit. Diese orientiert sich an der Unzulässigkeit der als Terror empfundenen Durchsetzungs- und Erzwingungsstrategien des Absoluten und der Eineindeutigkeit, die man wegen derer Konsequenzen nicht zulassen kann. Folglich gilt es zu bestimmen, wie man diese Systeme am verbotenen Ernstfall eicht. Angesichts der Dringlichkeit ungelöster Probleme vergisst man Religion, Kultur, Sprache besser schleunigst, denn in Zukunft gibt es nur die Art von Verbindlichkeit, die wir selbst als unlösbares Problem in Gestalt des Strahlenmülls schaffen. In der Erzeugung von Gott und Müll ist die Verbindlichkeit für unsere Gesellschaft auf Dauer begründet und deshalb auch nicht subjektiven Erörterungen ausgesetzt, sondern ganz aus den Folgen menschlichen Handelns erzeugt in Form des atomar strahlenden Mülls. Wie wird am verbotenen Ernstfall geeicht, d. h. welche Dominanzhierarchien werden eigentlich noch garantiert? In Anlehnung an das neurophysiologische Grundwissen ist von einer Kooperation der Körperzentren auszugehen, deren Grundlage ein permanenter Dominanzwechsel ist. Früher hat man nach der Zentrale, nach dem absoluten Geist oder Fürst im Hirn gefahndet, der das Gesamte orientiert, bis die Relativisten korrigierend einngriffen und darstellten, dass es überhaupt auf ein Chaos von Kontingenzen hinauslaufen würde, wenn nicht eine gewisse Praktikabilität in die Abläufe steuernd eingriffe. Durch trial and error-Annahmen selektiert, wird das positive Resultat immerzu verstärkt und geht in die Funktionslogik des Gehirns ein. Beide Ansätze hatten nicht recht, denn der heutige Stand zeigt, dass die Kooperation über das corpus callosum, über die Brücke zwischen den beiden Hemisphären des Gehirns verläuft. Man verdankt diese Einsicht Roger Sperry, der 1962 Schnitte in das corpus callosum von Epilepsiekranken gemacht hat. Eine Ethikkomission gab es damals noch nicht, so dass man solch Eingriffe noch wagen konnte. Popper und Eccles haben die Erkenntnisse mit „The Self and its Brain“ 1977 aufgegriffen, indem der Poopersche Falsifikationsstrang und der neuronale Strang von Sperry zusammengeflochten wurden. Dominanzhierarchien bedeuten, dass das Gehirn durch die ihm inhärenten Funktionslogiken im Stande ist, Prozesse auf drei verschieden Ebenen nebeneinander ablaufen zu lassen. Das Gehirn bewältig seine Aufgaben mittels Prozessierung auf der elektrischen, physiologischen und biochemischen Ebene. Dieser Art gelingt es immerzu, den beständigen Umbau von Dominanzhierarchien zu betreiben und damit den Grundstock einer neurophysiologische begründeten Anthropologie zu bilden. Als Beispiel hierfür ist auch der Bundesminister für Verkehr zu nennen, der den Auftrag gab, analog zur neurophysiologischen Begründung und Verfahrensweise des Gehirns eine Arbeit des Verkehrsministeriums darzustellen, welche die Situation der Infrastruktur und des Verkehrs untersucht. In Bezug auf den Wechsel der Dominanzhierachien hätte das zur Folge, dass der gesamte Verkehr unter dem Gesichtspunkt derjenigen LKW-Fahrer untersucht werden könnte, die die Dominanz des Lastwagenverkehrs bestreiten. Wenn man den gesamten Verkehr unter der Dominanz der Radfahrer oder der Fußgänger darstellte, wäre ein Wechsel der Dominanzhierachien in Analogie zu dem geschehen, was sich im Gehirn vollzieht. Dort wird das Problem entschieden, welcher dieser dominanten Gesichtspunkte wesentlich wird für die Lebensfunktion des Systems selbst. Um noch einmal auf das Beispiel des von Jaspers entwickelten Diagramms „Figuration des Seins“ in „Von der Wahrheit“ zurückzukommen, müsste man betonen, dass es ein Trugschluss wäre zu meinen, dass man die Philosophie in ein Schema bannen könne. Statt dessen wäre durch die Bilder aus dem Kunst- und Wissenschaftskomplex gesondert zu lernen, dass sie ausschließlich brauchbar sind, wenn man das Problematische an ihnen als das Interessante würdigen kann. Brauchbar sind sie erst im Hinblick auf ihre Falschheit, auf ihre durchschauten Täuschungsqualitäten, Ambivalenzen und Ambiguitäten, aber nie als Repräsentation eines Sachverhaltes, auf den man in irgendeiner Weise reflektiert. Diese erkenntnistheoretische Vorgabe zwingt uns, der Tradition der Gnosis Aufmerksamkeit zu widmen. Das Geheimnisvolle an der Karriere der Gnosis in der Moderne wurde nicht durch ein paar leidenschaftlich von antiken Militärbräuchen angehauchte Philosophen oder verrückt gewordenen Konservative à la Giorgio Agamben, Eric Voegelin oder Carl Schmitt erzwungen, sondern weil von Anfang an Gnosis nichts anderes darstellt als die Orientierung auf die Welt durch die Tatsache, dass das, was uns Orientierung gibt, immer nur als falsch oder vorläufig erscheint. Der Bezug auf das Andere ist insgesamt nichts anderes als ein Bezug auf die Denknotwendigkeiten des Anderen. Gnostische Verfahren operieren mit der Falschheit und Scheinhaftigkeit der Welt, mit der Lüge und der Fremdheit, nicht weil sie selbst je etwas dagegen setzen könnten, was wahr oder ewig wäre, sondern weil sie damit den Prozess der Herausbildung von Begriffen aus der Struktur des Logos erzwungen haben. Ohne Sprachlichkeit wäre das Denken nie gezwungen, sich von der Bildung des kognitiven Leistungsbegriffs „falsch“ auf den der Wahrheit zu beziehen, vom Unvollendeten auf das Vollendete oder vom Hässlichen auf das Schöne. Diese duale Entgegensetzung ist wichtig für alle gnostischen Verfahren. Der Logos hat eine Struktur, die in der sprachlichen Grammatik verankert ist. Wenn man das Kernstück aller Überlegungen zu der Problematik des Verhältnisses von Bild und Sprache angeben möchte, dann sind die Emanationen und Konsequenzen aus einer falschen Anwendung heraus zu begreifen, die aus Bild und Sprache hervorgehen. In Bezug auf Bild und Sprache hat man ein generelles Versagen einzusehen, was die schier endlose Reihe von Verfahren betrifft, mit deren Hilfe ein wie auch immer gearteter Gehalt übertragen werden soll; letztlich scheitert man immer. Vor dem gnostischen Hintergrund des Operierens wird deutlich, dass man eben nicht versteht oder nicht sieht, dass aber zugleich für den Logos gilt, dass er selbst noch in die Schreibprogramme und Referenzsysteme für Maschinen und Computer eingelesen wird, die unter dieser Voraussetzung eine unglaubliche Produktivität erreichen. Der höchste Ausdruck für die Brauchbarkeit der Annahme ist, dass diese Leistung auf die Maschine übertragen werden kann.

Reck: Bemüht man sich zu beschreiben, was eigentlich Bildkritik heißt, was Kritik der Bilder und was Kritik durch Bilder im Sinne von Inkorporation heißt, und sich fragt, was hierzu die Kunst und die Kunstgeschichte leisten, so gelangt man zu der Erörterung dessen, was das Leistungsprofil und der Zweck einer universalen Bildwissenschaft sein könnte. Was bisher gemacht wurde, hat sehr viel mit einer ästhetischen Kritik zu tun, oder mit einer Ästhetik im Sinne der Differenzbeleuchtung von Hintergrundsannahmen eines Modells gegenüber seinen Ausdrucksweisen und Artikulationsformen, ganz gleich in welcher Sparte oder worum es thematisch im einzelnen geht. Das ist der technische und inhaltliche Begriff der differenztheoretischen Ästhetik, den ich mit Bazon Brock teile. Brock war zu Beginn der 1960er Jahre ein zentraler Erneuerer der Ästhetikdebatte mit der plausibel begründeten und exemplifizierten Forderung, 'Ästhetik' nicht mehr nur als sinnliche Anschauung zu betrachten oder im Hinblick auf das, was man in der Produktgestaltung „Anmutung“ nennt. Statt Ästhetik als Sensualität oder als Gestaltwirkung aufzufassen, hat Ästhetik als Differenzdenken mit der Konstruktion eines zusätzlichen dritten oder 'medialen' Modells zu tun. Stellt man sich die Frage, wie man Wissenschaftsentwürfe als etwas beschreiben kann, was vor Hintergrundsannahmen abläuft, die selber nicht alle gleicherweise durchsichtig gemacht werden können, so wird Ästhetik im weitesten Sinne zu einer Konstruktionsbeschreibung und Konstruktionskritik von Symbolsystemen.

Brock: Besser man fasst das heute unter dem Gesichtspunkt „Evidenzkritik“ zusammen.

Reck: Gut: Evidenzkritik. Ohnehin sind die Künste als die Organe eines Arbeitens mit und für Evidenzkritik zu sehen. Man muss nicht von den Stilen ausgehen, um Kunstgeschichte als ein Formwissen zu verstehen. Ohnehin verfügt man nicht über eine philosophische Erklärungstheorie des Bildes als solches, und im übrigen auch noch nicht über eine neurologische, was nicht als Kritik an der empirischen Aufgabe der heutigen, allerdings bis zu Willkür und Fälschung angeheizten Gehirnforschung verstanden werden soll. Man vermag dennoch in der Gehirnforschung immer noch nicht zu erklären, wie es im zu beobachtenden Apparat zugeht. Zwar weiß man von den synaptischen Strukturen und auch von den oberen Schichten der emergenten Selbstorganisation, den Makrostrukturen des Gehirns und der intrinsischen Organisation der Austauschebenen sehr viel. In diesen Bereichen werden bedeutende Fortschritte gemacht, aber bisher ist noch nicht klar, wie sich diese Prozesse, die man beobachtet, mit der Bedeutung dessen verbinden lassen, was im Gehirn prozessiert und in lebendig empfundenen Folgen von Relevanzbildungen und Wertungen bedeutsam und wirksam wird. Man muss hier wohl doch wieder bedeutend geduldiger werden und vor allem vermeiden, Philosophie in die unerklärten empirischen Fragen einzumischen. Mein Vorschlag zielt auf die Erörterung von Systemen, die sich zwar historisch entwickelt haben, die aber nicht Stilkonzepte sind, sondern so etwas wie Paradigmen. Man wendet sich der Beschreibung von Systemen zu, in denen sich Bilder auf in ihnen inkorporierte Referenzsyteme beziehen, die sie mitbeschreiben, die also nicht einfach dargelegt sind als Textbeschreibungen oder niedergelegt sind als Programme. So kommt man letztlich zu funktionalen Beschreibungen, wie sie in einem zeichentheoretischen Symbolismus gegeben sind. Dieser ist im Mittelalter vor der eigentlichen Kunst anzusetzen, und erscheint in der Gestalt der auf religiöse Unterweisung ausgerichteten Gebrauchskunst. Wenn man sagt, Kunst existiert vorher nicht, meint man für gewöhnlich, dass das eine Abwertung sei. Aus meiner Sicht geht es, wenn schon, eher um eine Aufwertung, die sich auf alles das bezieht, was zeichenhafte Ausdrucksweisen sind, die sich in ein religiöses oder symbolisches System einbetten lassen. Diese Vorgänge sind als Voraussetzung zu berücksichtigen, wenn es um die Technisierung oder die Mathematisierung des Bildraumes geht. Sie sind mit vielem genealogisch in Verbindung zu bringen, nicht nur mit Fortschritten in der Optik oder in der Geometrie, nicht nur mit verlagerten Interessen der Künstler, sondern auch mit einem Kampf um einen gewollten höheren sozialen Status. Das Arbeiten mit einem homogenen, infinitesimalen, leeren Raum, der durch drei Vektoren beschrieben werden kann, bedeutet eine vollkommene Demoralisierung des Bildraumes, weil jeder Gegenstand, den man konstruieren und in den Bildraum stellen kann, demselben Verfahren unterliegt, ganz gleich, wie er in einem zweiten externen Schritt bewertet wird. Das Interessante dabei ist, dass, wenn man nun zwei Systeme historisch indiziert – das Mittelalter und die frühe Renaissance –, es sich so verhält, dass das zweite System das erste nicht auflöst. Man realisiert genauer, dass es Überlagerungen, Hybridbildungen und Reaktivierungen des früheren Systems durch das spätere gibt. Dieses nutzt bestimmte Differenzmöglichkeiten des früheren. Genauso funktioniert das mit anderen Referenzsystemen, die den Bildraum moralisch entleeren. Die Virtuosität der Illusionskunst steigert sich bis hin zum Trompe- l’Œil, diesem Zeigen eines Prinzips, das dieses Prinzip in der Desillusionierung nicht auflöst, sondern es vorführt. Eine andere Möglichkeit setzt mit dem Manierismus ein, wo es die Verzerrungen und Verdrehungen sind, die als Meta-Inzenierungen eines bestimmten schon situierten Stils dienen. Dort kommen natürlich auch die gerade von Künstlern zeitgenössisch heftig angestrebten subjektiven Wertigkeiten ins Spiel. Diese werden in einem weiteren Referenzsystem realisiert, z.B. im expressiv-surrealen Referenzsystem. Dadurch werden verschiedene Stile gemixt, die ansonsten voneinander unterschieden werden, was meiner Meinung nach überhaupt keine Rolle spielt, da je nach individuellen oder gruppenspezifischen Prioritäten immer wieder neue Werte behauptet und in die Bildstruktur eingeführt werden können. Im übrigen führt das im 20. Jahrhundert dazu, dass sich wieder ein viel größeres Interesse für die symbolisch-zeichentheoretische Dimension der Künste artikuliert, jenseits von akademischer Routine und der Rhetorik der Illusionen auf der Ebene des Darstellens und des Dargestellten. Die theoretisch bedeutsame Frage ist tatsächlich: Wie kann die Kunst wieder symbolisch und expressiv werden, wenn man einerseits den Verlust des religiösen Suprasystems bedauert, andererseits jedoch die Emanzipation der Kunst befürwortet und namentlich auch, dass sie autonom wird und dazu tendiert, individuell oder sogar idiosynkratisch zu werden. Die Folge für diese Systeme ist, dass nicht mehr per se von dritter Seite noch Anschluss gefunden werden kann, so dass die Frage nach dem Bildlichen in der Kunstgeschichte und in den Künsten neu gestellt werden muss. Das vierte, semiotisch-konzeptionelle Referenzsystem beispielsweise leistet nichts anderes als das Infragestellen des Infragegestellten selber: Was produziert Yves Klein, der von den Bildern einerseits sagt, sie seien unsichtbar, andererseits an dessen Stelle den Ausstellungsraum, die Spur oder das Dokument rückt, die dann noch übrig bleiben? Wie sind synthetische Erfahrungen durch die Kunst möglich? Es sind nicht nur analytische Kommentare zu einem selbstreferentiellen System möglich, sondern auch eine Verlagerung der Frage auf die Reflexion des gesamten genealogischen Prozesses der Künste bis zu diesem Zeitpunkt. In diesen Referenzsystemen inkorporiert und überlagert sich sehr vieles. Dennoch ist es möglich, von einem semiotischen Referenzsystem zu einem symbolischen zu wechseln. Überhaupt existieren dieses Referenzsysteme nicht in reiner Form und vor allem ist kein Fortschritt mit ihrer Entwicklungsabfolge als solcher verbunden. Es handelt sich vielmehr um eine typologische Abfolge, die zu permanenten Recodierungen führt. Weder die Kunstgeschichte noch die Ästhetik haben diesen Vorschlag aufgegriffen.

Der Kunstgeschichte liegt es zu fern, die Ästhetik bewertet es als bloß kontextuelle oder arbiträre Bedignung. Dank der Theorie der Referenzsysteme ist es nun aber möglich, auf die Ontologie der Bilder zu verzichten und die Fragestellung weiter zu treiben im Hinblick auf die Herausforderung der Skepsis: Wie weit kann man den Enttäuschungsprozess der Moderne in einer wirksamen Weise mit der Kunst verbinden? Das wäre zu koppeln an die Frage nach der politischen Ikonographie der Bilder. Politische Ikonographie bedeuet nichts anderes, als das Phänomen zu untersuchen, dass man den Menschen deutlich sagen muss, was ihre Sinne glauben sollen, wenn man Bilder in Umlauf setzt. Dass in diesem Zusammenhang Dysfunktionalitäten eine Rolle spielen, zeigt das Beispiel der US-amerikanischen Regierung, die Colin Powell im Frühjahr 2002 veranlasste, Computer-Simulationen als photographisch-ikonische Beweisbehauptungen vorzuführen, bei denen sogleich zu sehen war, dass jeder Student im ersten Semester so etwas herstellen kann. Die Amerikaner sagten, dass es solche Lager und Waffen (eben: 'solche', nicht 'diese') nicht nur gebe, sondern dass man diese auf den Bildern auch identisch repräsentiert sehen könne. Dieses Zeigen der Bilder wurde als eine Beweisführung dafür verstanden, dass tatsächlich existiert, was im Bild gezeigt wurde.

Brock: Tony Blair hat sich letzten Freitag damit entschuldigt, dass die Objekte auf den Bildern genau so aussahen, wie sie ausgesehen hätten, wenn sie es gewesen wären. Das ist ungeheuer raffiniert und ganz folgerichtig.

Reck: Bildtheoretisch allemal.

Brock: Tony Blairs Not war zu sagen, dass wenn es denn so gewesen wäre, hätten sie so ausgesehen. Drücke mal mit einem Bild diesen Konjunktiv aus!

Reck: Das bedeutet aber auch, so etwas als politische Ikonographie durchzusetzen. In diesem Fall liegt eine kritische Dysfunktionalität vor, die mit Rückkopplungen technisch avancierter Medien zusammenhängt. Immer mehr Leute verstehen, dass das digitale Produzieren von Bildern in einem andern Schema verläuft. Jedes digital hergestellte Bild ist a priori nicht mehr in einer Referenz zu etwas Authentischem zu verstehen. Weshalb auch die technische Möglichkeit, dass man Negativfilme digital herstellt und auf 'authentischem' Zelluloid ausdruckt, vor Gericht nicht mehr als Beweismittel zugelassen wird. Immer mehr Leute verstehen das, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht nur Objekte des medizinischen Apparates sind, sondern auch dessen einschränkungslos professionalisierte Beobachter. Es reichen Dysfunktionen im Knie, um eine Computertomographie bei der Untersuchung kennen zu lernen und sich zu fragen, nach welchen Gesichtspunkten das Bild generiert wird, das dem Arz dann einschlägiges zeigt. Was ist das denn für eine Art von Bild und wie reagieren Menschen darauf? Natürlich verstehen wir sofort, dass hier nicht mehr auf naive oder bisherige Weise photographiert wird. Es handelt es sich um eine massenmediale Rückkopplung, die hier ihren Ort hat. Auf diesem Hintergrund kann man die Frage oder Evokation des iconic turn angemessen behandeln. Die Theorie behauptet, dass wir eine Universalwissenschaft gegenüber den Bildphänomenen nicht nur der Kunst, sondern aller Bilder benötigen. Andere Bilder, 'Nicht-Kunst' genügen einem anderen Gebrauch, wie z. B. die Photographie. Sie ist als etwas eigenständiges zu sehen. Ob so etwas Kunst ist, hängt nicht von dem Medium, der Materialität oder der Ebene ab, in der es realisiert ist. Die Register der historisch interessanten Photographie sind reichhaltig und umfassen z. B. die medizin-historische und die dokumantarisch-ethnographische Photographie. Die visuelle Kultur ist ein breites Feld, von dem die Kunst ein kleiner Teil dessen ist, was als Gesamtheit der Bilder produziert und in Umlauf gebracht und gehalten wird. Was für eine Bildwissenschaft brauchen wir, wie ist ihre Universalität beschaffen und was machen die Kunsthistoriker damit? Das wäre ein Spezialthema, das man mit den Kunsthistorikern erörtert. Das einschlägige Beispiel von Bazon Brock lautete ja: Wieso ist die Linie von links unten nach rechts oben diejenige, mit der ein Erfolg versprechender Ertragswinkel dargestellt wird? Es entspricht per analogiam nicht zufälligerweise der Organisation der Himmelsleiter, die immer von links unten nach rechts oben verläuft. Dies folgt einem barocken Schema, wohingegen der Weltensturz, das apokalyptische Prinzip des Zusammenbrechens eine andere Richtung im Bild gefunden hat. Der Arzt Jean-Martin Charcot hat seine Hysterie-Ikonographie als Identifikationsarbeit auf dem Hintergrund eines ganz genauen Studiums von konvulsivischen Gesten entwickelt, die in der Kunst und in der Kunstgeschichte besonders im Barock-Zeitalter dargestellt wurden. Über die Hysterie-Darstellungen von verquälten Körpern hat er als Mediziner auf Grund von Gemälden, die solche konvulsivischen Prinzipien von Körperverformungen darstellen, vorrangig bei Rembrandt und Rubens, zu einem Krankheitsbild gefunden. Charcot benutzte das Medium dargestellter Körper als ein Archiv für seine medizinische Klassifikation. Ein zweites Beispiel ist die Bildrhetorik der Werbung, welche die Kunst als eine Ressource von Bildideen verwendet. Wie ist es da noch möglich, die Enttäuschung der Kunst durch die Kunst selber zu betreiben? Die Kunst lehrt uns, mit Enttäuschungen umzugehen, indem sie vehement, zweilen gar verzweifelt ihre Materialbasis universalisiert. Es handelt sich um eine Enttäuschung mittels immer neuer Materialitäten und erweiterter Dimensionen, die ihrerseits wieder auf Enttäuschungen hinwirken, sich also auf einer Meta-Ebene artikulieren. Die kritische Schulung dessen, was „Bildkritik“ meint, wird durch massenmediale Rückkopplung verstärkt, so dass die Skepsis und das Misstrauen wachsen. Daher sind die Menschen, zumindest in Europa und unter Bedingungen post-fundamentalistischer, also vorbehaltlos säkularisierter Gesellschaft, nicht mehr so verführbar durch Bildparolen wie noch vor wenigen Jahrzehnten in einer Phase vor der Schwelle zur ikonophilen Mobilisierung von Terror-Bereitschaft, wobei man sich natürlich angesichts der aktuellen Revokation des Religiösen als angeblich notwendiges Fundament des Politischen, zumal gar des 'Staatlichen', fragen kann, ob selbst für solche Regionen und Typen des zivilisierten Lebens dieser Zustand ein stabil erreichter oder nicht doch nur ein reversibles Interregnum ist. Der evidenzkritische Appell an die Menschen jedenfalls besagt, dass sie sich nicht ohne weiteres in ein Bildhaftes einfügen sollen, das den eigenen Körper, z. B. im Sinne eines militärischen Körpers, formen möchte. An diesem Punkt vollzieht sich so etwas wie eine massenmediale oder kulturindustrielle Aufklärung, die nicht auf einer Intention oder einer erzieherischen Absicht beruht. Begreift man die Ästhetik als ein Modell der Differenz, so ist Bildkritik als ein Feld zu betrachten, auf dem sich diese Relation erötern läßt. Folglich gehört die Bildkritik in erster Linie nicht der Kunstgeschichte an. Der Wahrnehmungspsychologe J. J. Gibson hat vor etlichen Jahren bereits eine Bildwissenschaft nach dem Vorbild des Aufbaus der Sprachwissenschaft vorgeschlagen. Als Psychologe wurde er zu Beginn der 1940er Jahre, als die USA sich mit der Idee befaßten, in den Zweiten Weltkrieg eintreten zu müssen, mit der Entwicklung eines visuellen Trainings in Simulationsfeldern für Kampfpiloten beauftragt. Er hat herausgefunden, dass man mit typologischen Verkürzungen und Vereinfachungn die Piloten schulen kann, ohne heikle Flugtests mit realen Maschinen durchführen zu müssen. Man verfügte damals nämlich noch nicht über einen leistungsfähigen digitalen Simulationsraum, sondern arbeitete mit mechanischen Apparaten (Umgebungsraumstimulierungen) und mittels Diagrammen, in denen die entscheidenden Faktoren typisiert verdeutlicht und herausgestrichen wurden: Lernen über Abstraktionen. Um eine Erklärung für solche Leistungsfähigkeiten und abstraktive Phänomene zu erzielen, trat er damals schon für eine universale Bildwissenschaft ein. Dafür kann man auch eine damit kombinierbare Historische Anthropologie beziehen. Wie kann man das verstehen, was soll unter Anthropologie verstanden werden? Zunächst und einfach all das, was für Menschen von Belang ist, weil und insofern sie es, von ihrer Evolution motiviert, sich als Artefakte selbst (auf)gebaut haben. Anthropologie ist als die Verständigung über das nicht von Menschen selber Hergestellte, aber zu ihrer Evolution Notwendige zu verstehen. Plessner hat es auf das Kürzel gebracht, dass der Mensch von Natur aus unnatürlich sei, weshalb uns die Formen der Pervertierung oder des Zerfalls methodisch interessieren, dort etwa, wo das Prinzip der Generierung und der Strukturierung sichtbar wird. Dort, wo sich die Unnatürlichkeit als Vorwurf und als Handlungsorientierung nach Maximen ergibt, läuft immer eine entscheidende Differenz mit. Anthropologisch gegeben und unüberbietbar wichtig ist nicht, was uns unmittelbar als Menschen entspricht, entscheidend sind die Perspektiven und Leistungen einer permanenten Transformation der natürlichen Existenzbedingungen im Rahmen der Gesetze der Natur. Alles, was der Mensch macht und zu seiner Natur rechnet, gelangt erst durch diese Transformation zu seiner Kenntnis. 1988 haben wir, auch unter Beteiligung von Bazon Brock, die bekannte Ausstellung über Imitationen und das Imitieren auf den verschiedensten Feldern aufgebaut. „Imitationen zwischen Nachahmungen und Modell. Von der Lust am Falschen“ standen zur Überlegung und im Titel, wobei es nicht zuletzt um die Notwendigkeit der Illustration von Artefaktleistungen bis hin zur künstlichen Intelligenz ging. Künstliche Intelligenz, behaupteten wir damals, sei die soziale Teilung der Arbeit, das eben, was nicht evolutionär dem Individuum vorgegeben ist, sondern für dieses nur wirklich werde als ein ihm Anderes, Jenseitiges, als ein typenbildendes Artefakt mit der Fähigkeit zur medialen, metaphorischen oder genetisch-algorithmischen Übertragung von Erfahrungen. Um eine Historische Anthropologie geht es, weil bestimmte Problemstellungen dieser Transformation nur im historischen Kontext artikulierbar werden können. Deshalb erübrigt sich auch eine essentialistische Definition. Man tut gut daran, die Anthropologie im historischen Verlauf mitsamt ihren Verfallsprozessen zu bedenken. In der Kunst wäre eine historisch-anthropologische Dimension das, was man mit Manierismus verbindet, also Steigerungen von Darstellungen, die sich mit Darstellungsprinzipien beschäftigen, so dass man Einblick in den Transformationsprozeß, seine strukturierenden, generativen Prinzipien gewinnt. In Bezug auf die historische Anthropologie der Medien war der Vorschlag vor zehn Jahren, solches unter dem Stichwort der inszenierten Imagination mitzudenken. Dort ging es um die Frage des Verhältnisses von Repräsentation und Inkorporation. Es gibt eine Sphäre der Inkorporationen, die sich im Medialen besser verstehen lässt als andernorts, wenn man akzeptiert, dass Medien der Inkorporationen nicht Instanzen von Sinn sind, sondern eine Artikulation von Programmen. Das Mediale wäre dann die Konstruktion der Welt als eines „Dazwischen“, was wiederum eine kulturelle Welt, die Natur oder eine Mediosphäre sein kann. Wenn man die medialen Formen der Inszenierung akzeptiert, die im übrigen anschlussfähig sind an Formen der rhetorischen Inszenierung von Darstellungsprozessen, dann ist dieses Dazwischenstehende das, was die Artikulation ermöglicht und zugleich eine Differenz markiert. Je besser eine Steigerungsfähigkeit im Medialen funktioniert, umso eher hat man Einsichtsfähigkeiten in das, was früher noch nicht mit Medien beschrieben worden ist. Francis Bacon, der naturprozessuale Tatbestände in „Advancement of Learning“ 1605 als Variation und Irrtum denkt, liefert eine Überlegung, die zeigt, dass auf dieser Ebene jede durch Natur oder als humanes Artefakt erzeugte Monstrosität eine ontologische Berechtigung neben allen anderen, gegebenen oder erzeugten besitzt. Insofern müssen alle von Menschen artifiziell hergestellten Transformationen, inklusive aller Monstrositäten, als natürliche und leistungsfähige, jedenfalls als existenzberechtigte Entwürfe gewürdigt werden. Mittels einer historischen Anthropologie würde man heute entsprechend zu einer anderen Einschätzung des Mediums Television als üblich gelangen und vermuten, dass Menschen nur noch ein Konzept ihrer selbst entwerfen können, wenn es zu einer medialen Inszenierung dieses 'Selbst' von Außen kommt. Die philosophische Thematik des 'Ich' scheint auf dieser Ebene des Massenmediums eine Mediosphäre zu werden, in der operative Eingriffe am Körper, Stilisierungen der Persönlichkeit oder Beschwörungen von Startum anzutreffen sind im Dienste der Suggestion, nur noch lebendig zu sein, indem, wenn und solange man durch eine Videokamera beobachtet wird: videographiertes Leben als Substitution des Vitalen durch das Mediale ist durchaus ein Schlüssel für das Verständnis der gegenwärtigen Lage. Heute geschehen nämlich auch die Verbrechen im Lichte der Öffentlichkeit, d. h. es wird die permanente Transformation an einem selbst vor aller Augen eingeübt. Der Körper, der Leib und die Seele sind Objekte einer Mediosphäre und Rohstoff einer neuartigen Artefaktwissenschaft als einer Entwurfstechnik der medial vermittelten Anthropologie. Deshalb funktioniert eine Bildkritik im Verweis auf Inkorporation ausschließlich, wenn man akzeptiert, dass dafür eine historische Anthropologie der Medien zuständig ist, die nicht nur oder gar in erster Linie ein Wahnsinn, eine Dysfunktionalität, eine Krankheit, eine Pathologie, eine Verirrung wäre. Die größte Lüge, die von den Pädagogen stets einer medialen Wahrheit des Artifiziellen vorgezogen wird, ist, dass man hilflos und unidirektorial manipuliert würde durch Medien. Bei den Schülern, die für den Amoklauf zu den Gewehren greifen, handelt es sich gewiss um Personen, die Computerspiele treiben und Fernsehen schauen – wie so viele, ja wohl die meisten anderen 'Subjekte' in der technisch standardisierten Weltsynchrongesellschaft. Die Lüge von der einlinigen medialen Manipulation von Unterworfenen ('Subjekten' eben) unterbietet jedoch permanent den Stand der medialen Selbsttransformation des Menschen, auch wenn sich das zweifellos in Manifestationen äußert, für die auch mir kein internes Verständnis zur Verfügung steht. In Bezug auf eine historische Anthropologie der Medien stellt Bildkritik hier den Bezug zur Körperlichkeit her. Bildkritik ist als eine kritische Ikonographie des Politischen zu verstehen, die untersucht, wie die Rhetorik der Persuasionen zustandekommt. Was trägt die Skepsis der Kunst dazu bei, frage ich Bazon Brock? Ist die Kunst in der Lage, die Skepsis mitzutragen oder stellt sie bloß ein Subsystem dar, das nach eigenen selbstgenügsamen Regeln funktioniert? Wenn die Kunst solche Wirkung überhaupt nicht mehr hat, dann bräuchte man für eine universale Bildkritik andere Instanzen – welche wären das? Der iconic turn müsste in der Folge an einer anderen Stelle veranschlagt werden, um zu den Ergebnissen zu kommen, von denen Bazon Brock ausgeht, und die in der Betonung der naturwissenschaftlichen Effektivität der Neurophysiologie begründet sind. Der Kunstanspruch lautet dann wohl, mittels transformationeller Handlungen etwas zu verkörpern, zu dem man sich noch zusätzlich in Differenz setzen kann, als ästhetisch differenziert Handelnder. Das Interesse sollte allgemein stärker auf die mediale Selbstkritik zielen, auf die Arten, Weisen und Möglichkeiten der Steigerung der Beobachtung. Im Hinblick auf diese mediale Selbstkritik sind meine Erwartungen allerdings in letzter Zeit vehement skeptischer geworden.

Brock: Sollst du aber nicht! Du musst dich nicht widerlegt fühlen, bloß weil so wenige Leute dafür Interesse zeigen. Da musst du durchhalten.

Reck: Das versuche ich mit Anstand – und hartnäckig dazu.

Brock: Der eigentliche iconic turn besteht darin, dass heute vor Gericht niemandem mehr das Argument abgenommen wird, dass er durch Bilder getäuscht worden sei. Selbst in der Rechtssprechung geht man davon aus, dass jeder, der mit Photographie, Film, Fernsehen aufgewachsen ist, nicht mehr vor Gericht einklagen kann, dass zwischen dem im Reiseprospekt abgebildeten Hotel mit Sandstrand und dem real von ihm wahrgenommenen Hotel vor Ort eine einklagbare Differenz besteht. Diese Differenz nun will der Kläger in Form der Erstattung seiner Reisekosten anerkannt bekommen. Jeder Richter mutet aber heute einem Mensch, der mit Photos aufgewachsen ist, zu, dass er den iconic turn persönlich nachvollziehen kann. Der besteht darin, dass man sich nicht mehr naiv mit Hilfe einer Täuschbarkeit durch Bilder herausreden kann. Man muss zumindest soviel Erkenntnis der Unterscheidbarkeit aus der Kunst mitgebracht haben, dass man zur Evidenzkritik fähig ist. Wenn man heute vor Gericht versucht einzuklagen, z. B. dass der Schönheitschirurg einem für die Zeit nach der Operation einen entsprechenden Hintern, Brust oder Schenkel versprochen und vor der Operation ein bestimmtes Bild in Aussicht gestellt hat, dann braucht man sich über das Resultat nicht zu wundern. Denn es existiert eine signifikante Differenz zwischen dem beworbenen Bild und der veroperierten Person, woraufhin der Patient seine Kosten zurückerstattet und obenauf noch eine Entschädigung als Schmerzensgeld für die zugemutete Selbsttäuschung wünscht. Darauf reagieren die Richter mit Verweis auf den iconic turn entschieden ablehnend. Denn sie haben im Umgang mit Bildern das Entscheidende verstanden, dass unter dem Gesichtspunkt des Schulfaches Kunsterziehung ein jeder Schüler bereits zu einer solchen Evidenzkritik angeleitet und befähigt wird. In den 60er Jahren überlegten sich die Kunstpädagogen, ob sie das Fach nicht „Medienkritik“ nennen sollten, womit nichts gewonnen gewesen wäre, denn nur innerhalb der Kunst lässt sich die Kritik an der Evidenz als ein Resultat in der Bildwerdung selbst darstellen. Ausschließlich in der Kunst lässt sich das Bild in seiner Selbstreferentialität und mitunter auch in seinem Selbstwiderspruch und seiner Selbstaufhebung darstellen. Gegenwärtig ist dieser Zusammenhang nicht nur mit dem Terminus iconic turn benannt, sondern zugleich juristisch verbindlich. Die zu diskutierende Fragestellung wird in jedem Bildungs- oder Kultusministerium aufgegriffen, wenn intern entschieden werden soll, ob ein neu zu errichtender Lehrstuhl denn nun unter dem Titel Ästhetik, Kunstgeschichte, Bildwissenschaften, Medienanthropologie oder Kunstkritik ausgeschrieben werden soll. Jeder, der sich verführen lässt, unter dem Titel Medienwissenschaften als Professor anzutreten, muss mit der Zeit einsehen, dass sein Bemühen ohne den Bezug auf die Kunst vergeblich sein wird. Sobald der Bezug zur Kunst in der Medienkritik oder Medienanthropologie ausfällt, geht der Betreffende zu Grunde. Denn nur die Kunst handelt von Evidenzkritik als und im Bild selbst. Als 1819 der erste kunstgeschichtliche Lehrstuhl eingerichtet wurde, hatte die etablierte Leitwissenschaft 'Ästhetik' bereits unglaubliche Einsichten in die evolutionsgeschichtliche Hervorbringung unserer Logik, im Sinne des Logos, erbracht. Durch Georg Friedrich Meier und Alexander Gottlieb Baumgarten ist die Bedeutung der cognitiones minores betont worden, die immer schon in der aisthesis vorgegebene Geprägtheit unserer Anschauungen durch Begriffe, die von der Evolution in unseren Erkenntnis- und Wahrnehmungsapparat implantiert wurden. Dieses Moment hat Kant sträflich vernachlässigt. Die Kunsthistoriker verfolgen dagegen einen völlig anderen Ansatz, indem sie der Aufgabe nachgehen, einen überlieferten Kulturbestand in eine bisher unerschlossene chronologische und zeitgeschichtliche Ordnung zu bringen, Familienverwandtschaften oder regionale Bestimmungen eines Artefakts herauszuarbeiten. Um ein Fragment, Bruchstück oder Trümmerteil, das am Ende nicht einmal authentisch überliefert ist, einzuordnen, entwickelt der Kunsthistoriker eine Typologie. Als ein Beispiel für eine Typologie, die das Wort-Bild-Verhältnis beleuchtet, sind das Alte und das Neue Testament zu nennen, dass auch im entscheidenden Maße auf die Evidenzerzeugung in Bild und Wort Rückgriff nimmt. Das Übersetzungsverhältnis von Bild und Wort beschäftigt den typologisch vorgehenden Kunsthistoriker dahingehend, dass er in der Beschäftigung mit dem Bild feststellt, wie der Künstler Fuß- oder Fingernägel eigentümlich herstellt. Anhand von tabellarischen Übersichten dieser Darstellung vergleicht der Kunsthistoriker dann dieses Exemplar mit den Beständen der Geschichte der Malerei. In einer ungeheuren Leistung von nur 150jähriger Arbeit haben es Kunsthistoriker geschafft, den gesamten Kunstbestand der Malerei zu erfassen. Daraufhin gerieten sie in eine zeitpolitische Legitimitätskrise, da sie ihre Existenz nun neu begründen mussten. Das zwang sie, sich von dem typologischen Verfahren abzulösen und zu der generellen Frage nach Bildlichkeit überzugehen. Aber anstatt zu sagen, dass das Problem der Bildlichkeit bereits von der alten Ästhetik bei Hamann und Herder, Meier und Baumgarten abgehandelt sei, hat man in den 1960er Jahren, als es um die weitere Finanzierung von Kunstgeschichtslehrstühlen ging, die Ästhetik noch mal neu erfunden. Aus dieser Entwicklung entsprangen allgemeine bildwissenschaftliche Erörterungen, die es deshalb überhaupt nicht allgemein geben kann, da ein Bild nicht allgemein vorgegeben ist. Es muss erst dessen Referenzrahmen bestimmt werden. Das Wuchern und Wabern von Begründungsnöten in den Ausschreibungs- und Besetzungsgremien für kunstgeschichtliche, ästhetische oder mediengeschichtliche Lehrstühle hat gezeigt, dass buchstäblich nichts dabei herauskommt und man auch heute nicht weiter ist, als es durch die alte Vorgabe des Leib-Seele-Verhältnisses bereits ausgedrückt war. Dieses wiederum ist entscheidend für das Bild-Text-Verhältnis, wobei Leiblichkeit so mit Bildlichkeit korrespondiert wie Seele mit Wort. Was Neurophysiologen heute im Hinblick auf eine neuronale Ästhetik unternehmen, ist genau die Bestätigung der Überlegungen zum Leib-Seele-Problem. Wie das Gehirn sich auf den eigenen Körper als Referenzsystem bezieht, sieht man, wenn es sich an den Reaktionen kontrolliert, die es selbst in seinem eigenen Körper erzeugt. Wie kann das Gehirn überhaupt eine überlebensstrategisch taugliche Beziehung des Organismus auf die Welt hin einnehmen, wenn das Referenzsystem sein eigener Körper ist? Die Frage, wie man mit der Schrift operieren kann, wenn die Verkörperung als Vergegenständlichung im Bild erzwungen wird, führt dazu, dass man sich die immer weiter gehende folgenlose Differenzierung im Hinblick auf die Vorgehensweise in den Bildwissenschaften, Kunstgeschichten, Ästhetiken und Medientheorien eingestehen muss. Diese Differenzierung bringt solange nichts und ist ein wissenschaftspolitischer Zirkus, wie sie dem eigentlichen Problem aus dem Wege geht. Im Grunde bleiben letzlich zwei Positionen übrig, von denen die Kunst als etablierte Evidenz-, Erzwingungs - und Fundamentalismuskritik die eine ist. Wenn man sich nicht mehr auf die Wahrheit, Gutheit und Schönheit kapriziert, dafür aber die Falsifikationsvorbehalte geltend macht und auf die Wahrscheinlichkeit, die Angemessenheit und die Billigkeit zurückgreift, dann muss man sich einen Relativismusvorwurf gefallen lassen. Andererseits verlöre man aber die Möglichkeit, sich überhaupt auf die Gesetze der sprachlichen Grammatik, auf die Struktur des Logos, auf die Wahrheit Bezug zu nehmen. Jeder Wissenschaftler, der sich anders als über Wahrscheinlichkeit auf Wahrheit bezieht, ist ein Idiot, ein Terrorist oder ein magischer Wissenschaftler. Genau das wirft Serenus Zeitblom seinem Freund Leverkühn in Thomas Manns „Dr. Faustus“ vor, dass dessen System danach angetan sei, „die menschliche Vernunft in Magie aufzulösen.“ Indem man lernt, mit der Wahrscheinlichkeit zu rechnen und im Hinblick auf das Prozedere und Operieren Angemessenheit und Billigkeit hinzunimmt, bezieht man sich auf die angemessenen Größen, um die Wahrheit, nicht nur unter wissenschaftlichen, sondern auch unter alltäglichen Bedingungen, nicht aus dem Auge zu verlieren. Wenn ein Politiker heute seine Verderbnis in Maximen gießt und zum Besten gibt, dass er keiner Statistik traue, die er nicht selbst gefälscht habe, dann kommt in dieser Aussage eine schlichte Einsicht zu Tage, die sich an den Gesichtspunkten der Falsifikationsmöglichkeit und des Falschen orientiert. Auch ein Richter sagt heute für gewöhnlich, dass wenn man sich von jemanden mit einem billigen Rolex-Imitat, also einem Fake, betrügen lässt, oder Unkenntnis über die Schädlichkeit des Rauchens vorschützt, um Schadensersatz zu verlangen, man nicht vor Gericht sondern in eine Anstalt gehöre. Denn jede Ware erscheint nur in der Gestalt des Fakes und ist per se ein Fake. Nach Marx trägt die Ware schon den Stempel ihrer Falschheit in sich, da sie eine Art von Fetisch ist, bei dem Gebrauchswert und Tauschwert auseinanderfallen. Dieser merkwürdig hybride Status eines Dinges als Ware, ist bedingt durch seine Verweisstruktur. In ihrer Eigenschaft, immer nur der Verweis auf etwas anderes zu sein, ist die Ware Zeichen. Ein Fake wiederum ist auch in den antiken Vorgaben ein besonders deutliches Zeichen für die Falschheit der Behauptung, die es selbst repräsentiert. Die Bildwissenschaft begutachtet das Fake nicht als einen Bereich der Kriminalität oder der Erkenntnisohnmacht. Vielmehr ist für sie das Gegenteil ist der leitende Fall. Kriminelle, Fakes und Fakers stellen gleichsam Erkenntnisfragen in den Raum, so wie jede Werbeagentur als eine Art von Evidenzbüro jedermann klar macht, dass, was verkauft werden soll, Dreck ist, dass die Slogans und Beschriftungen nicht mit dem Produkt übereinstimmen können. Wenn Erscheinung und Wesen übereinstimmen würden, würde es sich nicht um eine Ware, sondern um etwas Göttliches, ja Gott selbst handeln – dies wäre schlicht unbezahlbar. Da die Werbeleute aber nicht Götter, sondern Erkenntnis dieser Differenz zwischen dem angebotenen Zeichengefüge und der Substanz des Produktes verkaufen, wird im Alltag jedem zugemutet, die scheinbare Identität dieser beiden Aspekte zu hinterfragen. Dies ist der iconic turn, und wer es immer noch nicht begriffen hat, soll diejenigen Theologen bemühen, die Autorität genug haben, um das Tun des „Als Ob“ für jedermann zumutbar erscheinen zu lassen. Im Maße der Aufgeklärtheit eines Menschen ist er nämlich permanent gezwungen, theologisches Denken einzuüben, um realitätstauglich zu bleiben. Ohne Herausarbeitung der theologischen Grundfragen, die im Alten und Neuen Testament gestellt werden, begreift man auch nicht, dass die Wirklichkeit eben das ist, was sich unserem Einfluss entzieht. Hat man dagegen die Erkenntnis, also Gnosis, dass es niemals gelingen wird, einen Plan 1:1 zu realisieren, dann ist man sowohl reif für die Welt als auch für die Kunst. Setzt man sich mit moderner Malerei auseinander oder hängt sie sich gar ins Zimmer, bekundet man die Stärke und Fähigkeit, sich mit etwas zu beschäftigen, das, analog zur Wirklichkeit, dem rationalen Kalkül nicht mehr entspricht und schier nicht zum Aushalten ist. Gleichwohl gibt man damit zu erkennen, dass man realitätstauglich ist, sich solchen außerordentlichen Zumutungen zu stellen.