Buch Geld, Musik, Mythos, Macht.

Geisteswissenschaft im Dialog.

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von Horst Fuhrmann (Vorwort), Thomas Kempf (Vorwort)

Erschienen
1995

Herausgeber
Konferenz der Deutschen Akademiender Wissenschaften,

Erscheinungsort
Mainz, Deutschland

ISBN
3805318057

Umfang
241 Seiten

Einband
gebundene Ausgabe

Ergreift die Flucht!

Was uns die Sprayer mit ihren Menetekeln sagen wollen, ist: Ergreift die Flucht! Es geht nicht um den Schrecken allein, sondern um das Initiieren einer Bewegung, weg: in Richtung des Fluchtpunkts der Geschichte.

Dieser Begriff ist natürlich der Kunstgeschichte entnommen und meint nicht nur den Zielpunkt des Flüchtens und Weglaufens. Der Fluchtpunkt ist vielmehr auch der Punkt in einem gegebenen Wahrnehmungsfeld, auf den hin sich die entscheidenden Linien des gesamten Bildaufbaus orientieren. Es ist der Orientierungspunkt, der Fixpunkt. Genau das bezeichnet auch die geschichtliche Erfahrung, bzw. das, was wir meinen, wenn wir von Geschichte sprechen und in ihr Dialoge unter Toten führen.

Reden wir so über Graffiti, gehen wir weit über die Erörterungen hinaus, die etwa Cohn-Bendit führt, wenn er sagt, den Kids müßte doch erlaubt sein, sich die Stadt anzueignen, wie sie wollen. Er versteht das Sprayen damit als eine Art Jugendstreich, aus Lust die Wände zu beschmieren. Das ist ebenso kurz gefaßt wie der Rückverweis auf alte zivilisatorische Anstrengungen, wie sie im Streit zwischen Dürr und Elias thematisiert werden: Bei Graffiti geht es um mehr als das Durchbrechen alter Tischzuchten, um mehr als um den Verstoß gegen normative Verhaltensvorschriften für Menschen in Gesellschaft.

Die von mir hier versuchte Skizzierung des Problems dürfte auch fruchtbarer sein als die Überlegungen von Verhaltensforschern, die meinen, es handele sich bei diesen Sprayern um eine Art Analogie zur tierischen Territorialmarkierung – Sprayer würden ihre Logos setzen, um ihre Territorien oder die ihrer Gruppen oder Gangs zu signalisieren. Dies trifft nur den rein heraldischen Gebrauch. Sie übertrifft auch die von Kriminologen bevorzugte Lesart, die immer noch die Erinnerung an das Zinkenrotwelsch in diese Graffiti hineinlesen und unter Zuhilfenahme von Polizeipsychologen die abstrusesten Aussagen über die Befindlichkeit der Kids machen, die sich indes dabei nur ins Fäustchen lachen, oder, wie das New Yorker Richterbeispiel zeigt, überlegen, wie man mit Justizbehörden Katz und Maus spielt.
Das sind Erklärungen, die wir heute bestenfalls im Bereich der Unterhaltung goutieren können, die aber das Phänomen nicht begreifen.

Denn schließlich kommt es darauf an zu erkennen, was uns an diesem Phänomen eigentlich zu interessieren hat. Die Graffiti leiten - ähnlich wie das Haupt der Medusa – eine Abwendung erzwingende Bewegung zur Flucht ein.

Wer in der aktuellen Lebensgegenwart keinen Anlaß zum Fliehen hat, braucht die Geschichte nicht. Und wer einer schreckenerregenden, furchterregenden Unbekanntheit begegnet, die Quelle der Furcht aber nicht zerstören oder verdrängen will, dem bleibt gar nichts anderes als die Flucht zum Bekannten. Das ist schließlich das Fruchtbarste, was jede Art von Avantgarde-Tätigkeit erreichen kann. Die Graffiti-Artikulationen sind eine Avantgarde des sozialen Verhaltens. Sie sind unzugänglich, unbekannt etc., und wir ergreifen vor ihnen aus einleuchtenden Gründen den Weg zurück zu dem, was uns bekannt erscheint.
Mit anderen Worten, hier erfüllt sich die Avantgarde tatsächlich, wenn sie das fremde, neue, undurchdringliche Unbekannte ist, durch das man sich die Tradition und Geschichte neu orientiert, so daß uns die Geschichte selber wieder als ein Lebensraum, die Tradition selber als eine Gegenwart erscheint. Die Geschichte ist gegenwärtig, denn sonst hätte sie uns für die Zukunft nichts zu sagen. Also verdanken wir der Reaktion auch auf die Graffiti die ständige Vergegenwärtigung der Geschichte unter einem perspektivischen Gesichtspunkt.

Bisher hat noch niemand aus der Zukunft berichten können, wenn er nicht von historischen Zukünften sprach, also als Geschichtsschreiber. Deswegen bleibt es bei der Disziplin der Geschichte. Und je weiter zurück wir die Freiheit entwickeln, Geschichte zu schreiben und zu erzählen, desto weiter trägt uns diese Perspektive im Fluchtpunkt. Denken Sie daran, wenn Sie die nächsten Graffiti sehen, die nächsten Vermummten, die nächsten Radaubrüder etc.: denken Sie daran, was Sie denen an Selbstkonfrontation verdanken.