Ausstellungskatalog Welche Dinge braucht der Mensch?

Hintergründe, Folgen und Perspektiven der heutigen Alltagskultur

Welche Dinge braucht der Mensch?, Bild: Hrsg. von Dagmar Steffen. Gießen: Anabas, 1995.
Welche Dinge braucht der Mensch?, Bild: Hrsg. von Dagmar Steffen. Gießen: Anabas, 1995.

Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung; hrsg. im Auftr. des Deutschen Werkbundes Hessen von Dagmar Steffen

Erschienen
1994

Herausgeber
Steffen, Dagmar

Verlag
Anabas Verlag

Erscheinungsort
Gießen, Deutschland

ISBN
978-3-87038-275-9

Umfang
235 S., [79] Bl.: zahlr. Ill.; 24 cm

Einband
Broschiert

Seite 27 im Original

Vergegenständlichungszwang –

Zwischen Ethik und Logik der Aneignung

Immer noch wird wie selbstverständlich angenommen, »die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen zielt auf die Befriedigung von Bedürfnissen«. Dabei dürfte doch längst klar sein, daß Bedürfnisse prinzipiell offene Größen sind, die durch Erfüllung nicht gelöscht werden können (bestenfalls zeitweilig stillgestellt werden können). Was man als Befriedigung von Bedürfnissen bezeichnet, ist nur eine Objektivierung von Bedürfnissen, die durch die Art, wie sie in Erscheinung treten, selbst nicht aufgehoben werden können. Bedürfnisse lassen sich als Bezugsrahmen von Lebensformen fassen; sie werden gestaltet, zur Sprache gebracht, aber nicht befriedigt. Die Aneignung eines Produktes erfüllt sich nicht, indem man es in seine Verfügung bringt, sondern indem man es gebraucht. Selbst Produkte, die wesentlich durch ihre technische Funktionalität bestimmt sind und denen eine Gebrauchsanleitung beiliegt, werden dennoch von Individuen je unterschiedlich in ihrer Alltagswelt oder eben in dem Bezugsrahmen ihrer Lebensformen positioniert. Das tun nicht nur Menschen, die dem Beispiel von Künstlern folgen, Kontexte der Produkte über die Gebrauchsanleitung hinweg zu verändern. Schon die alltägliche Erfahrung mit Individuen, die Auto fahren, bestätigt, daß die Objekte trotz aller technischen Funktionalität dem Aneignungsvermögen der Individuen ausgesetzt sind und von der Art und Weise, wie sie genutzt werden, überformt werden können (das Auto als Waffe).

Am unmittelbarsten machen uns das Kinder klar durch ihren sehr unterschiedlichen Umgang mit standardisiertem Spielzeug. Gerade hochdefinierte Spielsachen vermögen die Aneignungsaktivitäten der Kinder aus sich heraus nicht zu erfüllen; deswegen definiert sie erst die kindliche Phantasie und Erlebnisfähigkeit je nach Spielsituation, Spielmotivation und Spielform um. Daraus haben Entwerfer zu Recht immer wieder den Schluß gezogen, Spielzeug möglichst nicht zu hoch zu definieren, denn ein Spielzeug wird nicht in erster Linie durch seine materiale Gestalt, seine Funktionslogik und Integrierbarkeit in Ensembles von Spielsachen attraktiv, sondern durch das Spiel selbst, also durch den Umgang mit ihnen.

Auch die Unterscheidung von Gebrauchswert und Symbolwert von Produkten läßt sich im Alltagsleben schwer durchhalten. Die als symbolisch angesehenen Gestaltanmutungen von Möbeln, ihre Stile, ihre »Gefälligkeit und Schönheit« sind ohne weiteres als Gebrauchswerte zu identifizieren, die den Umgang mit dem materialen Objekt weitgehender zu bestimmen vermögen als dessen unmittelbare Funktionstauglichkeit. Sitzen auf landläufig für unbequem gehaltenen Stühlen kann eine bewußtere Nutzung provozieren als das bequeme Sitzen, das keinen Anlaß bietet, das Möbel überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn durch dessen Gestaltung das Bedürfnis »Wohnen« zum Thema werden zu lassen. Genau darauf aber kommt es an.

Wir sind nicht in erster Linie gefordert, uns den Dingen oder sie uns zu unterwerfen, denn schlußendlich sind alle Dinge mehr oder weniger totes Zeug, solange wir sie nicht nutzen, um über sie kommunikative Beziehungen zu anderen Menschen (tot oder lebendig, anwesend oder abwesend) oder auch zu Geistern und Göttern aufzubauen. Denn alle Dinge, die wir aneignen oder herstellen, erhalten ihren erst aus und in der Beziehung zu anderen Menschen oder zu Lebewesen der anderen Art.

Deshalb kann Schönheit (als optimiertes Verhältnis von Vorstellung und Gestaltung) ein unmittelbarer Gebrauchswert sein, und andererseits können die physischen Operationen an und mit dem Objekt (z.B. dem Computer) erst seinen Gebrauch ermöglichen, wenn man es als Symbolgefüge zu verstehen bereit ist.

Die gängige Kritik der Warenästhetik läuft deshalb ins Leere; der kritisch gemeinte Einwand, Produkte seien »schlecht«, weil sie unsere Bedürfnisse nicht tatsächlich befriedigten, und der Einwand, der Gebrauchswert schlechter Produkte würde absatzstrategisch durch vorgetäuschten Symbolwert (etwa als Statusindikator) überspielt, treffen nicht zu. Richtig ist an der Kritik der Warenästhetik, daß die Bedeutung von Produkten nicht in ihnen steckt wie ein Keks in einer Schachtel; – daß also Aneignung nicht mit dem Kauf der Produkte geleistet wird, sondern mit ihrem Gebrauch. Daraus eine Schlußfolgerung: So wie es, inzwischen völlig selbstverständlich, eine Produkthaftung der Hersteller gibt, sollte es auch eine Produkthaftung der Konsumenten geben; denn die ökologisch oder insgesamt volkswirtschaftlich und sozial nicht akzeptierbaren Folgen des Massengüterkreislaufs sind heute zum überwiegenden Teil von den Konsumformen bedingt und nicht von der bloßen Tatsache der Herstellung von Produkten.

Wie in den Künsten hat sich auch in der Warenwelt herausgestellt, daß die Rezeption, der Gebrauch, die Aneignung von Produkten nicht ein bloßes passives Aufnehmen und Hinnehmen darstellt; auch sind die Formen der Rezeption nicht nur denen der Produktion parallel und gleichwertig. Rezeption, Konsum sind eigenständige Formen der Produktion, z.B. der Produktion von Müll. Da nicht bestritten werden kann, daß über Kunstkritik und Produktkritik die Hersteller der Waren in gewissem Umfang dazu angehalten werden konnten, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen, bleibt die Hoffnung, daß es gelingen wird, die Rezipienten und Konsumenten zu professionalisieren, so daß ihnen Verantwortung für ihr Tun in höherem Maße zumutbar ist, als das bisher das Strafrecht verlangt.

Alle diese Überlegungen gehen von der gut begründeten Annahme aus, daß es Menschen nicht schlechtweg möglich ist, auf Herstellung und Aneignung von Produkten weitgehend zu verzichten, um Ressourcen zu schonen. Abgesehen von volkswirtschaftlichen Argumentationen gilt nämlich für Herstellung und Aneignung, daß Menschen für die soziale Kommunikation unter Vergegenständlichungszwang stehen. Unsere je autonomen oder autopoietischen Bewußtseinsmaschinen – unsere individuellen Weltbildapparate des gesamten zentralen Nervensystems mit Einschluß der Großhirnrinde, können sich aufeinander nur beziehen, indem sie in ihrer Außenwelt materiale Vergegenständlichungen als Analogien zu ihren interpsychischen Aktivitäten schaffen.

Diese vielgescholtenen Verdinglichungen von Bewußtsein sind völlig unumgehbar, es sei denn, die Individuen verzichten unter hohem Lebensrisiko auf soziale Kommunikation, um sich nach dem Beispiel von Yogis nur noch auf die Kommunikation ihres Bewußtseins mit dem eigenen Organismus zu beschränken. Wir nennen die materialen Äquivalente für Denken, Vorstellen und Fühlen »Sprachen«, unabhängig davon, ob wir uns der Worte, der Bilder, der gestischen und mimischen Zeichengebung oder des Gebrauchs von realen Objekten bedienen. Soziale Kommunikation zwischen den autonomen Bewußtseinen kann nur über derartige Vergegenständlichungen aufgebaut werden.

Es ist eine Frage der Kommunikationsökonomie, wie weitgehend die Vergegenständlichungen von Bewußtsein eines materiellen Trägermediums bedürfen. Aber auch der »bloße« Gebrauch von symbolischer Repräsentation ist auf irgendeinen materiellen Träger angewiesen. Da die soziale Kommunikation ihrerseits auf Vergegenständlichung des Lebensprinzips von »Natur« angewiesen ist, kann auch die Beziehung des sozialen Körpers auf die Natur nur über Vergegenständlichungen von deren Hervorbringungslogik, der Naturgesetze, in Gestalt von Instrumenten und Maschinen etc. aufgebaut werden.

Wieviel Dinge braucht der Mensch? So viele, wie ihm zur Entwicklung sozialer Kommunikation abverlangt werden. Da sich die soziale Kommunikation nicht auf das Nachbarschwätzchen über dem Gartenzaun reduzieren läßt, sondern zwischen Ausbildung und Altersvorsorge, zwischen Herstellen und Konsumieren der Waren, zwischen Lebensentwurf und Krankenhausaufenthalt, zwischen ubiquitärer Mobilität und Bedürfnis nach dem Zu-Hause-Sein und dergleichen mehr sich einer Vielzahl von Vergegenständlichungsformen und Kontexten gewachsen zeigen muß, wird selbst die Produktaskese einzelner durch die extensiveren und intensiveren Nutzungen anderer zu kompensieren bleiben. Es sei denn, allen Menschen würde (von einer bisher nicht denkbaren Autorität) ein einheitliches Kommunikationskontingent zugewiesen, also zum Beispiel: daß man während seines Lebens nur 500.000 km verreisen, nicht länger als 10 Wochen krank sein, nicht mehr als 2 Kinder gebären oder adoptieren, nicht mehr als 2 Autos, 2 Wohnungseinrichtungen etc. anschaffen und verbrauchen dürfe. Für den Rest gilt dann unser eherner guter Grundsatz der Erzieher, die ihrerseits, wie schon der Name sagt, keiner Erziehung bedürfen: »Wer zwei Anzüge hat, gebe dem einen ab, der nur einen hat, damit auch er zwei habe.«


Literatur
Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung, Arbeitsbiographie eines Generalisten, hrsg. von Karla Fohrbeck, Köln 1977, S. 416 ff, 437 ff, 458 ff, 501 ff

Bazon Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, Die Gottsucherbande, Schriften 1978-1986, hrsg. von Nicola von Velsen, Köln 1986, S. 460 ff

siehe auch: