Buch Sehsucht

Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung

Sehsucht, Bild: Hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD. Göttingen: Steidl, 1995..
Sehsucht, Bild: Hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD. Göttingen: Steidl, 1995..

Schriftenreihe Forum, Bd. 4,
hrsg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland; Red.: Ursula Brandes

Erschienen
1994

Herausgeber
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

Verlag
Steidl

Erscheinungsort
Göttingen, Deutschland

ISBN
978-3-88243-350-0

Umfang
256 S.; Ill.; 22 cm

Seite 67 im Original

Supervision und Miniatur

1. Rundblick, Durchblick, Überblick,

Wir wollen eine Tatsache gern konstatieren: Das Panorama ist eine historische Erfindung. Aber der panoramatische Blick? Seit Menschen, allgemeinen Annahmen zufolge, in afrikanischen Savannen sich zum ersten Mal aufrichteten, um stehend das Terrain zu rekognoszieren, haben sie um sich geblickt. Die Beweglichkeit ihres Kopfes reichte nicht hin, mit den beiden parallel bewegten Augen das 360-Grad-Umfeld abzusuchen nach Feinden, Futter und Kumpanen. Die rotierende Bewegung um die Körperachse schloß die Sehhorizonte zusammen – wenn nicht zu einem Panorama, wozu dann?

Die Aufrichtung aus der Vierbeinigkeit dürfte neben der Freisetzung der vorderen Extremitäten zur Differenzierung des Handgebrauchs eben den evolutionären Gewinn gebracht haben, mit erhobenem Haupt stets auch den Überblick aufs gesamte Lebensterrain in die eigenen Bewegungsformen und Bewegungsrichtungen einzubeziehen. Der Überblick ließ sich steigern durch Wahl erhöhter Standorte; daß solche Erhöhung nicht nur metaphorisch die bessere Übersicht nach sich zog, belegen alle rituellen Exponierungen, die des Anführers, des Redners, des Priesters, des Feldherrn. Erhöhungen im Terrain wurden zu weithin sichtbaren Orten, an denen sich der Überblick als Übersicht auswies; sei es bei der Anlage einer Akropolis, sei es bei der Wahl eines Burgbergs mit Burgfried oder eines Feldherrnhügels. Stets wurden die herausragenden Orte zu ausgezeichneten Orten, indem man sie baukünstlerisch optimierte durch die Errichtung von Exponierpodesten oder von Turmwerken, deren Gestalt sich weitgehend aus der Art ergab, wie man sie begehen, besteigen, befahren und versorgen konnte respektive mit welchen technischen Mitteln sie zu errichten waren.

Der durch seine Höhe ausgezeichnete Ort signalisierte auch, daß sich an ihm zentrale Funktionen des sozialen Lebens konzentrierten. Exponierung dieser Art war den Mächtigen vorbehalten, die ihre Erhöhung weithin sichtbar machten und sie gleichzeitig aus der Plazierung an dem ausgezeichneten Ort ableiteten.

Um diese Einheit von Übersicht und Erhöhung, von Besetzung markanter Punkte und Kontrolle, von faktischer Exponierung und gesteigerten Handlungspotential ging es bei den Sicherungen des panoramischen Blicks auch dann noch, als der funktionsgeleitete Überblick zur schönen Aussicht wurde – einer Umwandlung des Kontrollblicks und des Suchblicks in den selbstgenügsamen schweifenden Blick.

Horizonterfahrungen waren mit der Aufrichtung des Menschen unmittelbar verbunden. Die Weite des Horizonts und damit die Macht des Blicks steigerten sich mit der Erhöhung des Blickenden bis zu dem Punkt, wo die Grenzen der Horizontwahrnehmung des natürlichen Auges erschöpft waren. Die Bewaffnung des Auges mit optischen Horizonterweiterern konnte diese Grenze zwar noch hinausschieben; aber schon den Seefahrern des 15. Jahrhunderts wurde klar, daß die Erweiterung des Blicks, über den wie auch immer weiteren Horizont hinaus, nicht mehr vom Auge geleistet werden konnte, sondern von einer modellhaften Vorstellung horizontloser Welt, deren bestimmbare Verfassung nicht mehr sichtbar, sondern denkbar war.

Die Augen leisteten nunmehr einen Kontrollblick auf die Modelle und Instrumente, mit denen die Positionen des Menschen vor den grenzenlosen Horizonten bestimmt werden konnten. Aus dem Überblick wurde die Supervision, aus der Einheit von Übersicht und funktionaler Erhöhung wurde die Totalitätserfahrung von Endlosigkeit und Unendlichkeit, von Gedanken und Welterfassung, von Sehen und Vorstellung. Das Entscheidende: ohne Supervision, also ohne Vorstellung und modellhafte Instrumentierung von Welt als Totalität, lassen sich Ansprüche auf Führung, Orientierung und Erkenntnis nicht legitimieren. – Noch heute ist im englischen »supervisor« (Aufsichtsführender) diese Erfahrung aufbewahrt.

In der Entwicklung solcher Supervisionen spielt der panoramische Blick eine entscheidende Rolle als umfassender Blick vom fixierten Standpunkt in die Welt und aus der Ortlosigkeit auf die Welt als Modell einer Totalität. Der panoramische Blick bestätigt in einem seine utopische Dimension (die Überschreitung aller sichtbaren Grenzen in die gedachte Ganzheit) und seine weltbildende Dimension (die immer notwendige Eingrenzung der Welt in Horizonte, die Einrahmung des Blickes, seine Fixierung auf die konkreten Bestandteile des Ganzen).

Jeder Besucher eines Panoramas macht diese Erfahrung: Er steht zwar im Prospekt eines 360-Grad-Horizonts, erfaßt aber doch nie mehr als einen begrenzten Anschnitt der jeweils gerade von den Augen fixierten Einzelheiten der panoramischen Darstellung. Das Panorama als Ganzheit ist nur in der Supervision zu erfahren, mit der sich der Betrachter aus dem Panorama herausdenkt, allerdings um den Preis, die Einzelheiten der Darstellung nicht mehr konkret wahrnehmen zu können.

2. Überschreiten, Verkleinern, Vergrößern

Die Frage, wie sich die Wahrnehmung einer konkreten Einzelheit eines Bildes der Welt zu deren jeweiliger Gesamtansicht verhält, ist in einer gewissen Tradition unserer Kunst- und Kulturgeschichte schon früh erörtert worden. Es ging dabei um die Bildung eines Kontinuums der Blicke, wobei dieses Kontinuum selbst dann diskret blieb, wenn die einzelnen Elemente der bildlichen Darstellung nicht ausdrücklich voneinander abgegrenzt wurden.

Ein Beispiel dafür: der Teppich von Bayeux. Die 70 Meter lange Bildstickerei, in der die Eroberung Englands durch die Normannen erzählt wird, konnte sowohl als Rollenbild wie als lineare Wandbehängung vorgezeigt werden. Formal ist er sogar rapportfähig, könnte also in der 360-Grad-Hängung als geschlossenes Panorama gelesen werden. Im Unterschied zu den tatsächlichen Panoramen verknüpft die diskreten einzelnen Darstellungen aber nicht ein geschlossener Horizont, sondern die durchgängige Standlinie.

Das mag nach den Wahrnehmungsgegebenheiten des 11. Jahrhunderts nur eine Konvention sein, in der die räumliche Tiefenstaffelung bedeutungsperspektivisch dargeboten wird. Ein Charakteristikum des Panoramas ist aber bereits erfüllt: Der Betrachter befindet sich in immer gleicher Distanz zur bildlichen Erzählung und ihren Elementen; diese Distanz wird durch die Lesbarkeit der immer gleich großen Inskriptionen bestimmt. Allerdings ist der Betrachter des Teppichs noch gezwungen, sich an dem Bildstreifen entlang zu bewegen, weil in keinem denkbaren Präsentationsraum bei 70 Bildmetern ein Standpunkt fixiert werden kann, von dem aus alle Teile der Bilderzählung dem unbewaffneten Auge des Betrachters gleichermaßen erfaßbar wären. Diese Einschränkung gilt bis zu Giottos Ausmalung der Scrovegni-Kapelle im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts auch für alle Bemalungen der Innenwände von Sakral- und Profanräumen. Die relative Kleinheit der Scrovegni-Kapelle ermöglichte es dem in der Mitte des Raumes stehenden Betrachter, die einzelnen Bildfelder der kontinuierlichen Erzählung des Marienlebens gleichermaßen wahrzunehmen. Aber auch bei Giotto ist die Kontinuität der Wahrnehmung eines einheitlich geschlossenen Horizonts nicht gegeben, wenigstens nicht augenfällig. Das diskrete Kontinuum panoramischer Umsicht wird allerdings durch die Erzählung ausgebildet, die die Legenda aurea (Giottos Kontext) vorgibt. Die Diskretheit der bildlichen Darstellung in der Kontinuität ihrer räumlichen Abfolge ergab sich für Giotto wie für alle Bilderzähler bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts aus den prinzipiellen Differenzen zwischen wortsprachlicher und bildsprachlicher Erzählung.

Michael Baxandall hat diese Probleme der Malerei für das 14. und 15. Jahr-hundert systematisch untersucht. Er kam zu dem Resultat, daß unabhängig von technischem Können, stilistischer Entwicklung und Bildkonzeptionen alle Künstler mehr oder weniger sich der Einsicht beugen mußten, daß eine noch so extensive Aneinanderreihung einzelner bildlicher Erzählungen nicht zu einer Darstellung des Kontextes, also des in sich abgeschlossenen Kontinuums, führen würde; noch so viele aneinandergereihte Bilder würden kein Ganzes ergeben, wenn nicht im Einzelbild die verweisende Darstellung der Welt als räumliches und zeitliches Kontinuum gelänge. Bildsprachlich ist die geschlossene Kette nur im Ornament zu erreichen, dessen Einheiten auf ihrem Rapport, also auf ihre Anschlußähigkeit ausgelegt sind. Deswegen verläuft, so Baxandall, die Darstellung der Welt als Einheit vom 13. zum 15. Jahrhundert immer mehr von der bloßen situativen räumlichen Aneinanderreihung von Einzelbildern zu einer Differenzierung des einzelnen Tafelbildes. Die Entwicklung von Zentral- und Luftperspektive bot dazu die notwendigen Voraussetzungen, die die räumliche und zeitliche Einheit der Welt ermöglichten, indem sie den Betrachterstandpunkt in die Bildräume aufnahmen, also das einzelne Bild sowohl um den Standort des Betrachters einerseits und die Horizonterfassung der Bildjenseitigkeit andererseits erweiterten.

Diese Fensterfunktion des Bildes wurde noch gesteigert, indem die religiösen, mythologischen oder literarischen Kontexte der Bilderzählung durch Allegorisierung und Symbolisierung verkürzt werden konnten, so daß der Betrachter den Verweis auf den Gesamtkontext aus ihrer punktuellen bildsprachlichen Fixierung jederzeit erschließen konnte. Fazit: Der Blick des Betrachters wurde panoramisch, indem die einzelnen Tafelbilder durch ihre gesteigerte Binnendifferenzierung eine kontinuierliche Bewegung der Augen erzwangen. Der Blick schweifte suchend durch die bildliche Darstellung vom Standort des Betrachters aus, an dem sich Nähe- und Ferne-, Oben- und Unten-, Links- und Rechtsorientierungen prinzipiell festmachen ließen. Die nicht sichtbaren, aber in der Vorstellung ergänzbaren Elemente der Bilderzähung ließen jedes Bild als Verweis auf die Gesamterfassung der einen Ereigniswelt verstehbar werden.

Das galt für alle Genres ab dem 16. Jahrhundert (Portrait, Historien, Stilleben, Landschaften et cetera), obwohl zum Beispiel Darstellungen der Heilsgeschichte oder der Weltbildarchitektur einen besonderen Anspruch auf Weltbildpräsentanz begründen konnte. Auch die Darstellung erdferner Himmelsräume unter Einbeziehung des freien Schwebens, Taumelns und Stürzens hat diese Ansprüche auf Vergegenwärtigung der Welt als räumliche und Ereigniseinheit nicht aufgegeben, da in der Schwerelosigkeit, im Wahrnehmungsraum jenseits der Kontrolle durch die Schwerkraft, ist diese Leistung des Einzelbildes aufgelöst worden. Allerdings bietet der Weltraum ohnehin keine Möglichkeit mehr, überhaupt noch paronamisch zu sehen.

Auch eine zweite Traditionskette panoramischer Totalitätswahrnehmung führt zur Aufhebung der diskreten Kontinuen. Von der Peutingerschen Weltkarte über die Plandarstellungen der Restauratio romae und der Imago mundi des 15. Jahrhunderts bis zu den Stadtansichten Merians führen alle Versuche, die Welt im kontinuierlich schweifenden Überblick zu erfassen, zur Aufhebung der panoramischen Bildreihung. Lewis Carrol und Jorge Luis Borges haben dafür in luciden Erzählungen die Begründung gegeben.

Tatsächlich wäre nämlich die panoramische Bildschleife als Repräsentation einer Totalität nur möglich, wenn die Welt als Ganzes in einer 1:1-Darstellung dargeboten würde. Aber eine Landkarte zu betrachten, die 1:1 das Land abbildet, das man mit Hilfe dieser Karte in panoramischer Allansicht erfassen soll, kann nur zu einer Verdoppelung in der Welt führen, ohne sie indessen je dieses Blicks ansichtig werden zu lassen. Nach den Bemühungen von Alberti und Luca Pacioli war für jede Darstellung der Welt als Totalität ein für allemal klar, daß nur durch mathematisch begründete Projektion der Ganzheit (auf ein Modell) der panoramische Blick befriedigt werden könne, wenn er aus der Wahrnehmung der äußeren Welt in die innere Vorstellung und die gedankliche Begriffsbildung überführt werde. Modelle bieten seit dem 16. Jahrhundert Panoramen der kontinuierlichen Erfassung eines Gesamtzusammenhangs, nicht in nuce, also nicht aus dem, was die Ganzheit zusammenhält, sondern in der progressiven Miniaturisierung. Von da ab wird jedes Panorama, das die Welt nicht auf den sichtbaren Horizont ihres Betrachters begrenzt, zur Miniatur, auf die sich schon die Kinder einüben in ihren Spielzeugwelten. Es ist deswegen nicht verwunderlich, daß die historische Erfindung der Panoramen der Sphäre der Modelle zugerechnet wurde, also der Jahrmarktswelt, den Tivolis und den Schauparks.

Das Panorama ist die Schnittstelle zwischen Supervision (der bloß vorstellbaren und gedanklich repräsentierbaren Totalität) und der Miniaturisierung (der modellhaften Reduktion einer Totalitätserfassung). Was das Panorama als historische Bildgattung so interessant macht, ist diese Gleichzeitigkeit von Ausweitung und Reduktion, von Kontinuität des Blicks und Diskretheit der einzelnen Wahrnehmung, von intendierter Ansicht des Ganzen und faktischer Beschränkung auf den geschlossenen Horizont.

In der historischen Bildgattung Panorama vollzieht der Betrachter, obwohl auf einen Standplatz fixiert, selber eine zugleich diskrete und kontinuierliche Bewegung, die ihn aus der Supervision in die geschlossene Raum- und Zeitwahrnehmung umzusteigen zwingt. Die historische Bildgattung Panorama erhält ihre Attraktivität daraus, daß sie den Betrachter der Welt zugleich zum Gulliver und zum Däumling macht. Sie vermittelt dem Betrachter die Möglichkeit, zugleich Bestandteil eines Gesamtzusammenhangs zu sein in je notwendig beschränkten Welten, diese Welt aber gleichzeitig von außen betrachten zu können, als bilde er sie durch seinen Blick erst selbst. Die Bildgattung Panorama bietet dem panoramischen Blick die Bestätigung, daß jede Totalität durch ihre Wahrnehmung konstituiert wird und daß dieser wahrnehmende Blick gleichzeitig nur so lange aufrechterhalten werden kann, wie er auf sich selbst zurückführt.

Die Faszination entspringt dem Geheimnis aller zyklischen, in sich selbst zurückkehrenden Prozesse, aller Wiederholungen. Das Panorama stellt den kindlichen wie den spekulativen und wissenschaftlichen Konfrontationen mit diesem Geheimnis eine Sylvesterfrage: Auf welche Weise führt die in sich selbst zurückkehrende Wiederholung des Immergleichen am gleichen Ort der Welt zu einer Bewegung, die diesen Ort und die wiederholten Ereignisse überschreitet? Antwort mit Goethe, der keinen Spaziergang absolvierte, ohne die bedachte Möglichkeit, den Kreis zum Ausgangspunkt der Bewegung zu schließen: Von der Ansicht der Sandkörner am Meeresstrand bis zu der Wahrnehmung der kosmischen Sternennebel bleibt der panoramische Blick ins Innere des Betrachters.

siehe auch: