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III. Einstieg
Im Oktober 1993 fand, organisiert von Olaf Breidbach, Bazon Brock und Detlef B. Linke, in Bonn das Symposion 'Neuronale Ästhetik - Hirnbilder und Menschenbilder', statt. Olaf Breidbach faßt die ausgearbeiteten Thesen zusammen.
Mit den Möglichkeiten der neuen Medien scheinen sich die Dimensionen unseres Wahrnehmens zu verschieben. In die Realität eines Hyper- oder Cyberspace gesetzt, scheint die maschinell produzierte Bildrealität ein Eigenleben zu gewinnen, das weit über ein bloßes Abbilden hinaus weist. Schaffen diese Bildrealitäten eines artificial life aber wirklich eine neue Wirklichkeit oder bleiben auch diese Bilder letztlich nur ein Reflex einer Wirklichkeitserfahrung, die sich in den animatorischen Qualitäten der neuen Medien nurmehr verfangen aber nicht verankert hat? Wo wären die Kriterien zu finden, in die das Wahrgenommene zu ordnen wäre?
Es ist nötig, das Instrumentarium zu entwickeln, in dem uns die so entstehenden neuen 'Bilder' der Welt handhabbar werden. Wo finden sich solche Kriterien? Es schien naheliegend, die Gesetze des Wahrnehmens in einer Analysis der Welt im Hirn zu studieren und hier die - in den Registraturen der Physiologie objektivierte - Realität der Wahrnehmung dingfest zu machen. Analysieren wir die Funktionalität des Hirns, so finden wir, daß die Einzelelemente in diesem Gewebe erst in ihren Interaktionen die Qualitäten generieren, in denen die Reaktionen des Hirngewebes zu verstehen sind. Welche analytischen Mittel stehen uns aber bereit, diese Interaktionsschichtungen zu begreifen? Stellen wir sie nur dar, bilden wir sie nur ab, so gelangen wir zu keinem Resultat. Es sitzt auch niemand in unserem Schädelkasten, der sich die durch die Reaktionen der Einzelemente entstehenden Erregungslandschaften einfach nur anschaut. Das Hirn generiert sich in der Wechselwirkung seiner Elemente eine Kategorialität, die es nachzufassen gilt. Die Anschauung des Modells ist hier nur ein Mittel, diese 'Kategorien' zu entdecken, die sich in dem Wechselwirkungsgefüge der neuronalen Elemente generieren.
Zunächst stehen wir damit aber vor einem Dilemma: Wollen wir die Vielfalt der Reaktionen in ihrem Wechselwirkungsgefüge erfassen, bleibt uns allein der Weg, die komplexen Wirkgefüge im Modell zu veranschaulichen. Wir stehen damit wieder vor Bildern, vor den Modellen dieser Einzelwissenschaft, die ihrerseits selbst nach Kriterien sucht, die ihr verfügbaren Abbilder des Wahrnehmens zu kategorialisieren. Die Geisteswissenschaftler und die Künstler, die auszogen, um bei den Neurowissenschaften die Kategorien zu finden, unter die ihre in ihrer Historizität oft strittigen Aussagengefüge zu ordnen seien, diese Suchenden finden nun an ihrem Ziel die Anschauung, von der sie selbst - wenn auch in einer anderen medialen Dimension - ausgegangen waren. Damit ist das Problem benannt. Wir reden nicht mehr nur in Bildern, wir gehen mit den Bildern um, umgeben uns mit einem Bildraum - einer medial vermittelten Realität -, die in ihrer Abbildung, in den Vereinfachungen und Entdimensionierungen des in ihr konstituierten Erfahrungsraumes Erklärungswege eröffnen soll. Findet sich damit Leonardo, der gegenüber der sequentiell operierenden Ratio den Supremat des eine Totalität illustrierenden Bildes zu verfechten suchte, nun - vielleicht endlich - doch gerechtfertigt?
Welches sind nun die Kriterien, die die Neurowissenschaften der Ästhetik zu einer Kategorialisierung von Wahrnehmungsprozessen offerieren kann? Sind - ihr zufolge - Kategorien als Filterfunktionen zu verstehen, die sich den Aktivitätsspektren einzelner komplex oder hyperkomplex verschalteten Einzelneuronen zuordnen lassen? Der Neurobiologe Ad Aertsen von der Universität Bochum zeigte auf, daß wir dann, wenn wir die Analyse der Hirnfunktionen auf die Untersuchung von Antwortcharakteristika einzelner Nervenzellen reduzieren, nur zu einem sehr oberflächlichen Bild neuronaler Informationsverarbeitungen gelangen können. Nicht die Einzelstimme eines Neurons, sondern vielmehr erst die in einem komplexen Raum-Zeitmuster zu fassende Aktivität ganzer Neuronenpopulationen sieht er mit Wahrnehmungsereignissen korreliert. Das Hirn generiert demnach keine Solo-Performances bestimmter, kleinräumig zu fassender Areale. Das Hirn 'formuliert' vielmehr schon in Arealen, die direkt an sensorische Eingangsregionen verkoppelt sind, komplexe Harmonien, die erst in ihrer - zum Teil sehr komplexen - Textur erkennen lassen, wie dies Gewebe bestimmte Erregungseingänge wichtet. Diese Gewichtung hängt - dies konnte schon George Freeman in seiner Untersuchung der Geruchswahrnehmung der Säugetiere zeigen - ganz wesentlich von der Grundaktivierung des Nervengewebes ab, in die eine, gegebenenfalls extern getriggerte, Erregung der Neuronen eingegeben wird. In Modellsimulationen konnte Olaf Breidbach die Bedeutung der Binnenaktivierung eines neuronalen Netzes darstellen. Er zeigte, daß schon in einem einfach strukturierten, künstlichen neuronalen Netz 'Wahrnehmungsprozesse' nicht einfach abgebildet werden. In einem neuronalen Netz überlagert sich eine Eingangserregung immer der momentanen Erregungs-Binnencharakteristik des Systems. Implementiert man in ein solch einfaches System einfache, lokale Lernregeln, so kann schon ein artifizielles System über entsprechende interne Erregungsabgleichungen derartige Wichtungsfunktionen verstärken oder auch neu aufbauen. Schon einfache neuronale Netze können sich also selbst 'organisieren'.
Bildgebende Verfahren können in der Medizin aber auch direkt analytisch, das heißt im Sprachgebrauch des Mediziners diagnostisch, eingebunden werden. Hierbei kann eine neue Methode neue Verständnishorizonte für die Reaktion eines Organs erschließen. Hans Jürgen Biersack von der Klinik für Nuklearmedizin der Universität Bonn stellte eine ganze Reihe dieser Visualisierungsverfahren gegenüber. Die verschiedenen Techniken generieren Bilder, die in der computerisierten Maniküre - über komplexe Algorithmen und den daraus gezogenen Farbkodierungen - zwar Bildwelten entstehen lassen, aber doch nur Aspekte des Abgebildeten zeigen. Die Versuche der Verbildlichung bleiben ein Tasten, das nur dann, wenn dieses Tasten richtig interpretiert, das heißt vor unserem bisherigen Gesamtkenntnisstand - nicht nur von diesen modernen Methoden, sondern im Blick auf all das, was wir derzeit vom Hirn wissen -, zur Orientierung in dieser Realität helfen kann. Für die Medizin ergeben sich mit diesen Bildgebungsverfahren hierbei direkt praktische Probleme. Was macht der Arzt, so fragte Marjus Gatzen, Internist an der Frankfurter Universitätsklinik, wenn mit den neuen Bildgebungsverfahren das 'Grundrauschen' in den Organisationsprozessen des Gewebes in den Blick der ärztlichen Diagnose gerät? Haben wir in Konsequenz die Normalität weiter zu definieren oder weitet sich vielmehr unser Begriff der Krankheit aus?
Treffen wir in der Analytik unseres Methodenrepertoires an Grenzen unserer Sprachfindung oder kann uns die Untersuchung unserer Sprachfindung selbst die Richtlinien an die Hand geben, unser Bild über uns selbst zu erweitern? Steckt schon in dem Bild eine Semantik, die unser Sehen bestimmt, oder steckt - wie Wolfram Köck vom LUMIS Institut in Siegen ausführte - erst in den Strukturen der Bildfindung eine Semantik verborgen, über die die Sprache selbst als Teilbereich einer Verbildlichung zu begreifen und in die Anschauung zu überführen ist? Veranschaulichen könnte sich diese Semantik auch in dem Resultat einer solchen Verbildlichung, im Modell. Kann es das Modell leisten, dies Verbildlichen über sich hinaus zu führen und somit zumindestens die Schemen einer Kontur von Anschauungskategorien zu erarbeiten? Die Grenzen der Logifizierung sind - so Christoph Lischka von der GMD, St. Augustin - auch die Grenzen der modelltheoretischen Implementierung. Abbildbar im Modell bleibt, seiner Auffassung nach, nur das logisch Strukturierte. Steckt damit das Bild der Medien hinter der Analysis zurück?
Die Bildwelten der virtuellen Realitäten, die Gerhard Schmitt von der ETH Zürich präsentierte, schienen zunächst Gegenteiliges zu belegen. Die sensorische Qualität einer Animation, die den Betrachter in ein nahezu real erscheinendes Umfeld einer doch künstlichen Welt versetzt, spielt mit Suggestivität, doch variiert sie im Grunde sehr einfache Muster. Die komplexen Visualisierungsmöglichkeiten, die im Grunde doch recht einfache Operationen darstellen, verdecken die Simplizität der Strategien, über die etwa ein noch nicht gebautes Haus auch in Einzelheiten seiner Innenarchitektur darstellbar wird.
Die Suggestion, schon in der Bildrealität das Darzustellende zu finden, ist ein zentrales Problem im Umgang mit den Neuen Medien. Michael Klein vom Institut für Neue Medien an der Städelschule in Frankfurt blieb - trotz prononcierter Kritik an der Verflachung einer sich an den Bildschirm bindenden Wahrnehmung in der virtuellen Realität - im 'Leben' der artifiziellen Strukturen des Modells gefangen. Eine Reflexion dieser Realität in der Wahrnehmung kann nur durch Entfremdung, durch Zurschaustellung des Wahrnehmens selbst, durch die Verpackung oder Isolation des Belanglosen, durch die Inszenierung des Details transparent gemacht werden. Erst in dem Moment - so M. Heller vom Museum für Gestaltung, Zürich, und auch Fehr vom Osthaus-Museum Hagen -, in dem die Wahrnehmung sich selbst in ihren Verbildlichungstraditionen begreift, kann sich die Bildrealität gegen die Realität setzen und in der so gefundenen Differenz ein kritisches Potential erwachsen. Ist also ein Bildersturm nötig? Oder ist die Negation des Bildes nur ein letzter Versuch des Rational-Diskursiven, sich gegenüber den Bildwelten zu behaupten?
Ist der damit initiierte Glaubenskrieg des analytischen Denkens, den Bazon Brock thematisierte, mehr als ein Revival von Denkorthodoxien? Der kunstgeschichtliche Rekurs auf ikonographische Elemente im Bilderfassen und das Aufbrechen metaphorisch beladener Bildwelten zeigt eine Wiederkehr von Formeln, eine Reexplikation, in der das Neue letzthin doch traditionell erscheint.
Das Bild bleibt Abbild. Die Realität verfügt über die Bilder, die Bildwelten sind Reflex, sie illustrieren Wahrnehmungsprozesse und Wahrnehmungsnormierungen. Können wir demnach nicht aus der Geschichte des 'Bildsehens' - so Karl Clausberg von der Universität Lüneburg - systematische Perspektiven gewinnen, über die kategoriale Strukturen des Wahrnehmens zu identifizieren wären? Auch das medial vermittelte Bild trifft nicht in völlig neue Sphären hinein, sondern in solche, die schon durch unsere Art des Sehens vorstrukturiert erscheinen. Auch das Modell der Welt bleibt im Reflex des Alten. Entsprechend können wir hoffen, auch aus einer Analyse der Geschichte unseres Sehens Strukturen unseres Wahrnehmens zu erfassen.