Buch Recht, Geist und Kunst.

Liber amicorum für Rüdiger Volhard.

Erschienen
1995

Herausgeber
Reichert, Klaus | Schiedermair, Manfred

Verlag
Nomos Verlag

Erscheinungsort
Baden-Baden, Deutschland

ISBN
3789043729

Umfang
455 Seiten

Einband
gebunden

Zum Vorwurf des Eurozentrismus

Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß der Vorwurf des Eurozentrismus völlig übersieht, wie stark in Europa und Nordamerika jene Auseinandersetzungen geführt wurden und geführt werden, die man heute als typisch für die Auseinandersetzung von afrikanischen, asiatischen, orientalischen Kulturen mit den europäisch geprägten hält. Ein wesentliches Merkmal europäisch geprägter Kulturen ist ihre Orientierung auf Modernität. Wenn wir – und das ist wohl einem Kulturwissenschaftler erlaubt – das Modernitätspostulat der Einfachheit halber auf die Wissenschaften und Künste eingeschränkt betrachten, kann man nicht leugnen, daß in den westlichen Kulturen der Kampf um die jeweils moderne Position mindestens so stark gewesen ist, wie er heute in den Auseinandersetzungen zwischen "dem Westen" und dem Nicht-Westen zu sein scheint.

Der Einspruch von Religionsgemeinschaften gegen die Modernitätspostulate in Künsten und Wissenschaften hat die europäische Geschichte entscheidend geprägt. Staatliche Autorität hat sich in Europa gegen solche Modernität bis hin zur Verfolgung von Modernisten gesteigert. Ja, innerhalb der Künste und Wissenschaften bestand seit Jahrhunderten und besteht auch heute der querelle des anciennes et des modernes fort, wenn sich auch im Laufe der Zeit weitgehend veränderte, was mit Traditionalismus und Modernismus jeweils gemeint war. Aber wir können sagen: Die europäischen Modernisten orientierten sich alle auf globale Probleme, die Traditionalisten auf regionale. Die entscheidende Ausprägung solcher Modernität haben wir seit dem l8. Jahrhundert in der Bildung des Begriffs Zivilisation zu sehen. Sie ist per se universell oder interkulturell, weil sie sich auf die Probleme konzentriert, die sich durch die Beziehungen der vielen regionalen Kulturen ergeben. Zivilisation ist deshalb Kulturen übergreifend gedacht und dementsprechend auf Überwindung der zerstörerischen/kriegerischen Ausprägung kultureller Differenzen durch Setzung von Standards (wie z.B. Menschenrechte), die gegenüber allen Einzelkulturen zur Geltung gebracht werden müssen, ausgerichtet.
Wenn heute dem Westen vorgeworfen wird, vor allem seine Kultur global durchsetzen zu wollen, vernachlässigt dieser Vorwurf die Tatsache, daß sich europäische Kulturtraditionalisten in Deutschland, in Frankreich, in England, in Rußland, in Polen so stark gegen den Aufbau einer übergreifenden Zivilisation gewehrt haben, daß sie im Namen der Autonomie ihrer Kulturen gegeneinander blutige Kriege führten.
Der Kampf der Gewerkschaften um zivilisatorische Standards wie Sozialversicherungen, angemessene Entlohnung und wirtschaftliche wie politische Mitbestimmung wurde und wird in Europa als sozialistischer Universalismus in die Schranken gefordert, wie die Standardisierung von Verwaltung und Konfliktmanagement in Institutionen der postulierten Vereinigung Europas als Kulturen zerstörender Vereinheitlichungszwang empfunden wird.

Wegen der auch in Europa durchschlagenden Konfrontation von universaler Zivilisation und regionalen Kulturen ist der Vorwurf des eurozentristischen Strebens nach Suprematie, nach Vorherrschaft in der Welt, haltlos.