Vortrag / Rede “Ästhetischer Terrorismus zwischen Kunstreligion und Säkularisierung. Wagners Untergangspathos als Erlösungseuphorie”

Begleitprogramm zur Opernaufführung “Tristan und Isolde” von Richard Wagner | Goethe-Institut Zagreb

Termin
11.02.2005

Veranstaltungsort
Zagreb, Jugoslavien

Manuskript

Wagners „Tristan und Isolde“
im Kroatischen Nationaltheater

Das Thema scheint mit einer gewissen Auffälligkeit oder Mutwilligkeit formuliert zu sein: Ästhetischer Terrorismus zwischen Kunstreligion und Säkularisierung – Untergangspathos und Erlösungseuphorie bei Wagner. Aber das ist nicht mutwillig gewählt, sondern ist eine Reaktion auf ein ihnen allen bekanntes Ereignis, das nämlich ein Komponist, ein Deutscher, der sich in der Nachfolge Wagners sieht, nämlich Karl-Heinz Stockhausen, am 11. September 2001 nach dem Anschlag auf das World Trade Center, in Hamburg gerade eine Aufführung einstudierend, sich in etwa so äußerte: „Dies ist eine bewundernswerte Aktion eines hundertfünfzigjährigen Programms, der Ausübung von ästhetischen Terrorismus.“ Und er bezog sich dabei ausdrücklich auf Wagner. Warum? Weil Wagner natürlich des öfteren - vor allen Dingen in Briefen an seinen Freund Theo Uhlich - über seine Neigung gesprochen hat, etwa in Paris gegen Meyerbeer und gegen die damit verbundene „Musik-Hurerei“ - ich zitiere nur, es ist nicht mein Begriff – anzutreten. Und zwar nicht nur mit etwas ästhetischem Terrorismus, sondern mit dem Bekenntnis, dass er mit keiner anderen revolutionären Veränderung der gegebenen Kulturverhältnisse rechne, als mit einer solchen, die mit dem Brande von Paris beginnen würde. „Brand“ ist natürlich eine Metapher, die nicht nur im Hinblick auf das Ende der „Götterdämmerung“ Karriere gemacht hat, sondern viel früher schon in den vorchristlichen, parallel zur jüdischen Erzählung entwickelten großen Mythologien, etwa im Zweistromland. Er kommt aber sogar bei den Hethitern, im alten Ägypten schon vor. Wir ersetzen ihn heute durch den Begriff des „Weltenbrands“. Der war immer verbunden mit dem Gedanken einer großen Klärung, die wir in der Übersetzung des griechischen Worts finden: „hygieia“ ist das Wort, das wir verwenden, wenn wir von Hygiene sprechen. Es geht also um eine große hygienische Reinigung der Welt von den Bestandteilen der Evolution, die sich im Sinne eines ganz offensichtlichen Plans der Welt, - dem Plan des Schöpfergottes, also jüdisch-christlich gedacht – vollzieht. Oder im Sinne anderer Religionen, die der Evolutionslogik unserer heutigen Naturwissenschaften näher standen, wie die griechischen, die überhaupt keine Schöpfergötter kannten, sondern eben das, was wir mit „Evolution“ bezeichnen, immer schon als Zentrum ihrer Mythologien sahen. Oder sei es im Sinne einer buddhistischen Ansicht, die natürlich für Wagner besonders bedeutende Parallelen bereithält, da er sich wie fast die gesamte Elite des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger doch als Buddhist deklariert hat. Das ist kein Widerspruch zu den vielen mythologischen Ausflügen, die er in andere Kulturen unternommen hat, unter anderem auch in die Urversion der Nibelungen-Sage, in die drei skandinavischen Grundfassungen, auch in die Fassung von 1202, aber auch in die christliche Theologie. Das ist kein Widerspruch, wie wir gleich herausarbeiten werden, wir, d. h. diejenigen, die sich mit diesem Thema seit Jahrzehnten befassen, um zu einer anderen Begründung des Interesses an diesem Problem zu kommen, als das bisher der Fall war.

Bisher hat man diese Fragestellung nur immer im Hinblick auf die Problematik erörtert, ob diese Metaphern, zu denen „Anarchieterrorismus“, „Reinigung“, „Hygiene“, „Weltbrand“ gehören, ob das zum ideologischen Grundbestand etwa der nationalsozialistischen Definition gehörte, ob Wagner so etwas wie ein Vorläufer war, ein ideologischer Stichwortgeber. Man hat diese Fragen eigentlich nur im Hinblick auf das Interesses an der Kulturgeschichte, sagen wir zwischen 1850 und 1950/51 - also der Wiedereröffnung der Bayreuther Festspiele nach dem 2. Weltkrieg - erklärt. Das war zwar wichtig und die Antworten sind ziemlich eindeutig. Auch diejenigen, die sich sehr lange gesträubt haben, sind am Ende übrigens auch in Bayreuth offiziell zu dem Schluss gekommen, dass Wagner ein Antisemit war. Etwas, was er nun wirklich nicht alleine war, denn das gehörte zur Grundausstattung einer bestimmten Einstellung im 19. Jahrhundert, die in Frankreich übrigens viel stärker ausgeprägt war als etwa in Deutschland. Denken sie nur an die Dreyfuß-Affäre, zu der Emile Zola seinen Kommentar geschrieben hat: „J’acuse.“ Woran sich gleich die Frage anschließt: Warum, wenn in Frankreich der Antisemitismus viel stärker gewesen ist, dennoch in Deutschland genau das passierte, was dann ab 1941 mit der systematischen Ausrottung der Juden geschehen ist? Was heißt es, so etwas mit Hinweis auf die Wagnersche Begründung eines Weltbrand- oder Hygienemodells zu realisieren? Also bisher erörterte man es in Hinblick auf die Frage: War Wagner ein Antisemit oder war er es nicht, kann man eine Beziehung setzen zwischen dem Werk und den Ideologien? Hat er auf die Ideologien eigentlich wirken wollen, oder hatte er bestimmte Künstlerattitüden, die man ja als eine Art von Variante des Marketing sehen könnte oder auch als egomane Selbstbespiegelung oder was auch immer, was unter Künstlern ja ziemlich normal ist. Und die Antwort ist wie gesagt ziemlich eindeutig, aber die Antwort bedeutet nichts. Denn die Fragen, um die es dabei geht, sind die: Wie kann denn etwas auf dem Papier stehendes, im Atelier, auf der Bühne als musikalisches Werk oder literarisches Werk oder Malerei produziertes und propagiertes, eine solche Wirkung zeigen? Was ist überhaupt die Wirkung? Welchen Zusammenhang gibt es da überhaupt zwischen den Werkideen, den Werkplänen? Bei Wagner liegt eine sensationelle Einmaligkeit in der gesamten Kulturgeschichte vor, denn niemand hat wie er 1850/51 bereits den gesamten Werkplan inklusive des Abschlusses mit dem „Parsifal“ festgelegt und das dann systematisch realisiert. Es gibt keinen zweiten Künstler der gesamten Weltgeschichte, der so etwas als Werkplan tatsächlich durchgesetzt hat.

Wie immer man antwortet, es bleibt dann bei dem Problem selbst. Das Problem selbst besteht in der Frage: Was heißt eigentlich Wirkung erzielen? Was bedeutet es dann, dass eine Ideologie, ein Parteiprogramm, eine Verfassung, ein Theaterzyklus, eine mythologische Erzählung, ein literarisches Meisterwerk wie der „Faust“ eine solche Wirkung erzielen kann? Wir erfahren ja zum Beispiel jüngst - das hat ja nun jeder erfahren -, dass die parteiprogrammatische Begründung eines universalsozialistischen, dass die gegen das nationalsozialistische gerichtete Begründung des universalsozialistischen östlichen Weltreiches, „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ mit allen dazugehörigen Ländern, dass diese Begründung eines großen historischen Werkes, - wahrscheinlich das größte Werk der Weltgeschichte, das „Leninsche“Werk könnte man es nennen, an einer merkwürdigen Tatsache zu Grunde gegangen ist. Entweder hat man die „Leninsche“ – und da wieder gestützt auf Marx -, also die „Marx-Lenin-Engelsche“ theatralische oder propagandistische oder literarische oder philosophische oder soziologische Festlegung eines Programms zur Schaffung der Weltgemeinschaft sozialistischer-kommunistischer Ausrichtung – entweder hat man dieses Programm schmählich verraten und die UdSSR ist zusammengebrochen, weil sich keiner mehr, keiner der Funktionäre, der Machtträger wirklich noch dem Programm, dem eigentlichen Programm verpflichtet fühlte? Warum hat man sich nicht daran gehalten, wenn das ganze doch eine Verwirklichung dieser Utopie des Sozialismus gewesen ist? Oder die andere Frage: Man hat fundamentalistisch-dogmatisch-formal allzu sehr, nämlich wortwörtlich insistiert auf das Programm und ist folglich gescheitert daran, dass ein Programm prinzipiell – weder die Worte Jesu Christi können das bestreiten, noch das Werk von Wagner, noch die Verfassung, noch wie Herr Minister Höcherl 1963 sagt: „Verfassungsschützer können nicht ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“– scheitern muss. Man stellte also durch den Tod eines Werkes, den Untergang einer Vision, dem Ende ganzer Sozietäten, Weltreiche und Kulturgemeinschaften fest, dass das Wirkens einer programmatischen Äußerung, eines offenbarten, göttlichen Textes, einer Mission, einer Botschaft, einer Literatur in Hinblick auf diese zwei Möglichkeiten scheitern muss: Erstens durch wortwörtliche, fundamentalistisch-dogmatische Einforderung des eindeutigen Sinnes. Das kennen wir heute in Form des islamischen Fundamentalismus gegenüber dem Gotteswort, das fixiert ist und nun nicht verändert werden darf, aus Respekt vor der Autorität des Stifters und des Vermittlers Mohammed, so dass dann die Frage entsteht: Was heißt Wirkung dieses geoffenbarten Textes in seiner Heiligkeit, wenn er doch gerade durch das fundamentalistische Beharren auf der wortwörtlichen Übersetzung unfähig gemacht wird, die veränderte Welt jeweils noch auf diese historischen Vorgabe aus dem 7. Jahrhunderts zu beziehen? Oder umgekehrt: Was bedeutet es dann überhaupt noch Mohammedaner zu sein, wenn man doch dem Alkohol - wenn auch in Maßen, aber doch nach Belieben - zuspricht, wenn man doch Pornographie im Hotel sich zu Gemüte führt, natürlich nur bei Reisen in den Westen. Sie kennen diese Geschichte in Hinblick auf die zweite Konkurrenz zu dem 20. Jahrhundert-Projekten des Universalsozialismus: Der Nationalsozialismus ist ein Kommunismus gewesen, da ist die Meinung glaube ich aller weitgehend gesichert als eine im Konsens entwickelte Meinung. Das Dritte Reich ist als ein typisches Beispiel für eine fundamentalistische Erzwingung der absoluten Geltung eines Programms zu sehen, das in erster Linie aus der Äußerung von bestimmten Reizworten und Begriffen wie „Rasse“, „Reinrassigkeit“, „evolutionäre Bluthoheit“ oder „Das Leben ist ein Kampf“ usw. besteht, d. h. auf der wortwörtlichen Umsetzung eines solchen zum Dogma erhobenen Textes, dessen Bedeutung darin liegt, dass die fundamentalen Begriffe alle kontrafaktisch sind. Faktisch kann ihnen jeder Biologe sagen, dass der Begriff „Rasse“ oder gar „Rassereinheit“ in der Evolution keine Entsprechung findet. Es gibt keine „Rassen“, schon gar keine „Reinrassigen“, weil alles Mischformen sind. Also handelt es sich um ein Kontrafakt. Und dieses Kontrafakt ist mit dem Aufruf verbunden: Wer glaubt, kann erst recht gegen die Einsicht in die Realität, gegen den Druck der Wirklichkeit großes bewirken. Das ist die Kraft des Glaubens: Credo quia absurdum. Das ist die älteste theologische Formulierung für die Wirkung von etwas Gegebenem, Geschriebenem, Offenbartem: Credo quia absurdum. Ich glaube, gerade weil es nicht durch Verstandeskriterien einzuholen ist. Das nennt man Kontrafaktizität. Und da ist natürlich klar, wenn ich Begriffe wie „Rassereinheit“ oder wie „unverbrüchliche Treue“, wie „Evolution“ als feldexperimenteller Ausmendelung der Macht des Stärkeren, selbst wenn es am Ende die Russen sind, so ist dann Hitler ja schlüssig, wenn er am Ende sagt: „O.K., also die Deutschen haben verspielt, sie haben sich als die Schwächeren erwiesen und das war die hygienische Weltbrandtaufe, die ich ihnen zugemutet habe. Sie sind nicht im Feuer als Stahl gehärtet worden, sondern sie sind zerbrochen und damit müssen sie aus der Weltgeschichte abtreten.“ Beim Dritten Reich ist es klar, so der Konsens derer, die sich darauf einlassen. Ich sage nur ein Stichwort: Der erste, der es wirklich gut und systematisch durchgearbeitet hat und bis heute der beste Essayist in Deutschland ist, nämlich Joachim Fest, hat dieses Prinzip der Buchstäblichkeit, der Wortwörtlichkeit, des Begriffsglaubens begriffen. Da hören sie schon die deutsche, idealistische Tradition: Wenn die Wirklichkeit mit dem Begriff nicht übereinstimmt, umso schlimmer für die Wirklichkeit, hieß es im Jenaer Idealismus. Das also das Dritte Reich als nationalsozialistisches Konterangebot gegen den Universalsozialismus Lenins daran gescheitert ist, dass man tatsächlich darauf bestand, diese kontrafaktischen Konstruktionen wie „europäische Kulturidentität“, „Abendland“, „Rassereinheit“, „Bluthoheit“ usw. ohne Abstriche durchzusetzen, d. h. ohne Messung an den Realitäten. Je weiter die Realität davon abwich, was hier in Form von ideologischen Konstrukten vorlag, desto berechtigter fühlte man sich gegen die Wirklichkeit die Durchsetzung dieser abstrakten Konstrukte zu behaupten. Das kann nur in einer Katastrophe enden, für die Hitler völlig zu Recht als Grundmodell seine wagnersche Visionen, seine Vision Wagners verstanden hat. Denken wir nur an das Ende der „Götterdämmerung“. Sie müssen sich einmal vorstellen, was das eigentlich bedeutete - hier in der Gegend können sie sich das vorstellen, alle hier lebenden Kroaten können sich das vorstellen -, dass man sich nicht nur mit Wagner sondern mit „Hitlers Wagner“ als Stifter dieser kontrafaktischen Mythologie etwa auf die Nibelungen berief, obwohl von den Nibelungen nichts anderes berichtet wird, als deren Untergang. Das heißt das Ziel der ganzen Entwicklung war der Untergang! Können sie sich vorstellen, wie ein Volk, wie eine Nation, wie eine soziale Gruppe ein Leitbild entwickelt, in dem als höchste Erfüllung der eigenen Wege der Untergang steht? Ich sagte, das können sie sich hier sehr wohl vorstellen. Gucken sie nur mal nach Serbien: Da wird von der Schlacht Amselfeld 1389 an die nationale Identität begründet aus der - Niederlage. Aber da wird die Sache schon etwas gespenstisch, auch im Hinblick auf Wagner. Denn als Christen haben wir eine bestimmte Affinität zu solcher Begründung aus der Niederlage. Wir haben sogar den Gott gekreuzigt. Wir begründen alle unsere Auferstehungskonzepte, Etablierungskonzepte des Reiches Gottes, der Wiederkehr des Heilands mit seinem Kreuzestod. Und da beginnt nun die eigentliche konfliktreiche Auseinandersetzung. Es gibt keinen Konflikt mehr, ob Wagner Antisemit war oder nicht. Er war es genauso wie alle anderen im 19. Jahrhundert. Das ist alles beantwortet worden, wie Dr. Hartmut Zelinsky das Mitte der 1970er Jahre festgestellt hat. Alle stimmen darin überein, die Quellen sind einfach unleugbar, es ist auch nicht „Post-Fest“, von vorne nach hinten umgedreht: Erst mit der Erfahrung des Dritten Reiches habe man demnach Wagner interpretiert. Nein, Zelinsky hat sämtliche Quellen ausgegraben, in denen man in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hört, wie die Juden reagiert haben. Also nicht erst mit der Erfahrung des Holocaust, sondern aus der Zeit selbst ist das verständlich. Das ist alles völlig unstrittig, da kann niemand mehr dagegen antreten. Aber das Problem ist damit ja wirklich erst gestellt. Nämlich, wenn die kulturelle Wirkungsabsicht, die politische Wirkungsabsicht, die soziale Wirkungsabsicht in irgendeiner Weise nachdrücklich beglaubigt werden muss und dahinter nicht die Legitimation durch den Kulturheros, durch den Gott, durch Christus, wenn das nicht dahinter steckt, sondern die Beglaubigung eines Wirkungsanspruchs „Ich sage die Wahrheit!“ oder „Das ist das Ziel!“, die verbindlich gegeben werden muss, dann kann man doch verstehen, dass die größte Art der Verbindlichkeit, die jemand für seinen Aussagenanspruch erheben kann, die Bereitschaft ist, für diese seine eigene Aussage zu sterben.

Aus dieser Tatsache heraus hat man natürlich immer versucht zu sagen, dass die bedeutendsten Anmeldungen von Wirkungsansprüchen von Werken, von Texten, von Bildern, von Büchern, von Parteiprogrammatiken von dem gegeben werden, der bereit ist, sich zum Märtyrer seiner Überzeugungen machen zu lassen. Und das sehen sie heute wieder. Beim Märtyrerdasein von radikalen Moslems sind wir alle aufgeschmissen, denn wir können nicht nachvollziehen, wie jemand bereit sein könnte, sein Leben hinzugeben, um zu beglaubigen, dass das, was er glaubt und vertritt, unüberbietbar gerechtfertigt ist, nämlich durch die Bereitschaft zum Tode. Sie müssen sich mal vorstellen, was das jetzt etwa für die Verfasser solcher Wirkungsansprüche wie die Dichter, Komponisten, Maler, Parteiprogrammatiker und Philosophen bedeutet, wenn sie in der humanistischen Tradition – und das ist ja die Tradition des Westens -verboten bekommen, jemals wieder das eigene Leben als Pfand für die eigene Überzeugung einzusetzen. Da wird der Märtyrer dem Humanisten sagen: „Du bist zu feige, du stehst eigentlich doch nicht dahinter! Du rettest dich hinter eine zynische Bemerkung, du bist nur ein romantischer, doppelbödiger Phantast! Wenn es ernst wird, kneifst du.“ Und dann sagt der Humanist: „Nein, das ist nicht unsere Haltung gegenüber Attitüden der von der katholischen Kirche repräsentierten Gotteskindschaft, sondern es ist die christliche Religion selber. Es ist gewissermassen die jüdisch-christliche Einheit und in gewisser Weise sogar die jüdisch-christlich-mohammedanische Tradition, also die abrahamitischen Religionen, die dieses Opfer verbieten. Denn der Grundmythos des theologischen Verständnis der Hochreligionen ist: Bevor der Tod als letzte unüberbietbare Bestätigung eines Wirkungsanspruches ins Feld geführt wird, greift Gott greift selber ein als Abraham. Der Gehorsam gegenüber dem Gotteswort verhindert, dass Abraham seinen Sohn Isaak opfert. Von da ab ist der Opfertod zur Beglaubigung eines Wirkungsanspruchs nicht mehr erlaubt. Die ganze christlich-jüdische, christlich-islamische Tradition ist eigentlich eine Tradition zur Begründung von Wirkungsansprüchen ohne die Beglaubigung durch die Bereitschaft, ein Märtyrer zu sein. Deswegen hören sie überall, dass sehr viele islamische Theologen etwa an der Hochschule in Alexandria sagen: Der Märtyrertod, wie er von Islamisten praktiziert wird, ist unislamisch, wie man das vornehm ausdrückt. Es gibt auch „unamerikanische“ und „unjüdische“ - das wird jeden Tag produziert - und natürlich auch „undeutsche Haltungen“, - das war ein Wagner Wort. Denn er hat diese Art von Begründung eingeführt. Wenn tatsächlich der Tod, die Bereitschaft zu Sterben, keine Beglaubigung mehr für einen Wahrheitsanspruch ist, wenn zwei Physiker miteinander nicht im Hinblick auf ihren Geltungsanspruch diskutieren können, ohne dass der eine sagt, „Jetzt bringe ich mich - in der Überzeugung, dass meine physikalischen Theorien die richtigeren sind – um!“, dann wird das niemand in der Wissenschaftlergemeinschaft akzeptieren. Das hat auch niemand in der Humanistengemeinschaft akzeptiert, es hat auch niemand in der Nachfolge Abrahams akzeptiert. Nicht einmal mehr das Tieropfer wurde zugelassen. Und das ist diese grandiose Figur, die das universalisierte Judentum, also das Christentum - die Christen sind ja nichts anderes als eine universale jüdische Sekte – verkörpert. Mit der Kreuzigung Christi hat man den Beweis dafür angetreten, warum es nicht möglich ist, das Höchste zu beglaubigen durch das Endgültigste, nämlich den Tod. Weil das Ende immer schon hinter uns liegt. Das heißt die große Hoffnungsphantasie, die mit dem Christentum entwickelt wurde, natürlich mit Zielrichtung auf die orthodox-jüdische Auffassung, war: Ihr werdet nicht mehr bestimmt in eurem Handeln durch das Denken an das Ende, denn das Ende liegt mit dem Tod Christi am Kreuz schon hinter euch. Ihr habt euer Ende schon hinter euch. „Das Ende ist der Anfang“ lautet die kulturwissenschaftliche Dialektik und so die theologische Dialektik, die sich da entwickelte. Und da wird die Sache im Hinblick auf Wagner, im Hinblick auf die Ideologie des 19. Jahrhundert ungeheuer spannend, weil wichtig, weil nämlich ungeheuerlich zeitgenössisch.

Wir alle sind so schlechte Christen, was das auch immer heißen mag, dass wir doch pausenlos an unser individuelles Ende, an das Ende von Menschen, die wir lieben, an das Ende unserer Karriere, an das Ende unserer Planungen, an das Scheitern sozusagen aller unserer Vorhaben glauben und denken. Wir sind sogar so geschult, dass wir strategisch denken lernen, was uns die Militärs in Preußen zum ersten Mal weltgeschichtlich beigebracht haben, dass man mit dem Ende gerade dann rechnen muss, wenn man ein mächtiger Feldherr, ein mächtiger Unternehmer, ein großer König, der Führer eines großen Volkes ist. Das Rechnen mit dem Ende ist der Ausweis für die Fähigkeit, ohne die Legitimation eines Absolutum, eines Wahrheitsanspruchs, eines offenbarten Text, einer Delegation durch Gott auszukommen. Wer mit dem Ende rechnet, ist insofern ein Humanist, wie er nicht naiverweise behauptet: Hinter mir steht Gott, mich trägt der heilige Geist, ich habe ein unbesiegbares Heer! Sondern der Humanist sagt: Ich bin einer von vielen, dessen Vorhaben, Kalkulationen, Lebensplanungen, Werke jederzeit scheitern können. Großreiche können scheitern, Unternehmungen können scheitern, Familiendynastien können zusammenbrechen. Und ich bin ein intelligenter Mensch, der sich nicht mehr legitimiert durch die absolute Erzwingungsmacht der Wahrheit in Gestalt des absoluten Wortes Gottes. Wer also ein guter abrahamitischer Christ, Jude oder Moslem ist, rechnet mit dem Ende. Das Kalkül mit dem Ende, das Rechnen mit dem Ende wird mit dem griechischen Begriff der Gnosis bezeichnet. Es ist genau das, was in asiatischen Regionen mit Buddhismus gemeint ist. Die westliche Version des Rechnens mit dem Ende, die Gnosis, sagt nicht nur „on the long run“, also binnen 4,5 Milliarden Jahren ist auch unser Planetensystem erledigt. Nach 4,5 Milliarden Jahren bricht die Sonne aus mikrophysikalischen oder kleinteilig-physikalischen Begründungen in sich zusammen und wir verschwinden. Aber nicht nur wir, sondern das gesamte Sonnensystem, nach 14 Milliarden Jahren wird das gesamte Universum zusammenbrechen und es beginnt dann ... ? Also nicht nur „on the long run“ ist am Ende alles zu Nichts geworden, sondern auch auf die menschlichen Horizonte hin. Das ist die Notwendigkeit selber, unseren individuellen Tod zu akzeptieren. Denn ein intelligenter Mensch, der nicht die Erzwingungsstrategie des Absoluten verfolgt, wird sich sagen: Jeder Tag meines Lebens, jede Handlung, jede Beziehung, jedes Werk ist bedeutsam mit Blick auf das Ende. Nutze die Zeit, carpe diem. Wisse, dass du endlich bist. Und begründe dadurch dein heutiges Tun, deine heutige pathetische Orientierung auf das Gelingen; ein Gelingen im Scheitern natürlich. Ein Gelingen ist eigentlich das Kalkül auf ein Ende: Gnosis. Die Gnostiker und die Agnostiker stehen einander gegenüber und damit diejenigen, die gnothi se auton folgen: Erkenne dich selbst!“ steht im Delphischen Orakel. Diejenigen, die diese Selbsterkenntnis im Hinblick auf das unabweisliche Ende selbst erkennen, - das Ende des individuellen Lebens, das Ende des Reiches, das Ende der Kultur, das Ende der Epochen, das Ende der Weltzeitalter, das Ende des Kosmos selbst und natürlich Nietzsches Formulierung, das Ende der Götter, die also auch das Ende Gottes verstehen und von diesem Ende her das, was gerade passiert, mit der größten Bedeutung versehen können. Oder wie andere Psychologen sagen: Wenn wir nicht unter dem Druck der Erwartung unseres individuellen Endes stünden, wäre nichts von uns von Bedeutung, weder die größte Freude im Essen von 20 Tafeln Schokolade, noch der Spaziergang mit einer Frau oder noch der Aufbau einer Firma. Das wäre alles gleichgültig, weil es ohne den Zeithorizont, den begrenzten Endhorizont überhaupt nicht definierbar wäre.

Wagner hat jetzt diese Strategie der gnostischen Kalküle mit dem Ende gerade in das Kunstwerkschaffen von Artefakten eingebracht. Ein „Artefakt“ ist alles das, was von Menschen hervorgebracht wird und damit von der Natur abgesetzt ist. Kunstwerke sind besondere Arten der Entwicklung des Zusammenhangs von Gelingen im Aufbau, etwas aus sich heraus autonom wirkendes. Wir erörtern das Thema: Wie kommt es zu einer Wirkung von etwas? Wenn etwas als Werk eine Autonomie bekommt, gleichsam wie eine ganze Welt selbst, dann ist im Begriff der Autonomie das Absehen von der Notwendigkeit zu wirken gegeben. Wenn sie sich zum Beispiel als autonom verstünden, - was wir alle nicht können, selbst Herr Schröder kann sich nicht autonom verstehen, der erst recht nicht, also vielleicht kann sich noch ein kleines Pflänzchen hier im Abseits autonom sehen - wenn sie sich autonom setzen wollten, brauchten sie nicht mehr darauf zu achten, wie sie wirken. Weder wie sie auf Frauen wirken, noch aufs Bankkonto, noch für die Unsterblichkeit. Autonom sind sie erst, wenn sie die Frage der Wirkung gar nicht mehr stellen. Diesen Gedanken entwickelten die Großkünstler. Kunst gibt es erst seit dem 14. Jahrhundert, sagen wir ab Raffael, ab Dürer, - daher der Raffael-Deutsche, der Dürer-Deutsche. Dann entwickelte 100 Jahre später Rembrandt diese Version, dass wenn ich etwas aufbauen kann, was für sich Autonomie realisiert, die Frage der Wirksamkeit, des Zusammenhangs von Idee und Tat, von Vorstellung und Begriff, von Anschauung und Konkretion, gar nicht mehr zu stellen ist. Die Autonomie begründet diesen selbstgenügsamen Aspekt der Absichtslosigkeit und hat es nicht mehr nötig, sich bloß auf der Ebene einer erzeugten Echowirkung von außen definieren zu lassen. Wagner hat dieses Kalkül wahrscheinlich umgesetzt, alleine schon durch die Dimension der Werkaufbauten bedingt. Das sind einfach vom Umfang her und materiell gesehen die umfassendsten und nahezu konkurrenzlosen Werke, die auf genau diese Art von Autonomie des Werkes zielen, und zwar durch die Entwicklung einer, wie wir es empfinden, fast arroganten Überhebung über alles, was sozusagen Politisches, Soziales, konkrete Verhältnisse von Wirkung und Ursache, von „Ja“ und „Nein“, von Geben und Nehmen darstellt; inklusive dem Verhältnis zu Ludwig II., wo man glauben sollte, er hätte immer noch so eine Art von Schacherhaltung entwickelt, wie der Primitivmensch beim Opfern der Götter: Ich gebe dir die Hörner vom Rind und du schenkst mir ein paar gute Tage. Er ist ja ziemlich ridikül mit Ludwig umgegangen. Er hat ihm und übrigens allen anderen Menschen auch ziemliches zugemutet. Die waren natürlich gestützt auf den Genie-Glauben, den man in der Zeit analog zum christlichen Schöpfergott für solches Autonomie-Streben entwickelt hatte, und konnten das dadurch akzeptieren. Autonomie heißt: Erreiche einen Status für dein Werk durch innere logische Entfaltung und Entwicklung, die man Vollendung nennt, um dann die gesamte Bewegung, um die es da geht, im Werk selber fortzuführen. Strapaziere nicht mehr das Verhältnis von Werk und Gesellschaft, von Werk und Politik, von Werk und Kultur, sondern versuche innerhalb des Werkes selbst alle diese Themen zu organisieren. Das ist das, was Wagner eigentlich geleistet hat. Das bedeutete, alle Konflikte. um die es bei der nichtautonomen Relation zur Außenwelt, politisch, sozial, wissenschaftlich, theologisch ging, ins Werk selber aufzunehmen. Das ist nur ganz wenigen Leuten gelungen, Goethes „Faust“ ist das bekannteste Beispiel für ein solches Gelingen. Wir anderen, die wir das gar nicht erst nachvollziehen können, haben aber den Eindruck, dass niemand von uns in der Lage ist, überhaupt den Status dieser Vollendung in der Unübersehbarkeit zu erlangen. Es gibt niemanden, auch nicht geschulte Musiker, die von Wagner leitmotivisch angeleitet Gedächtnisstützen bekommen, haben es geschafft: Es kann niemand die Gestalt des Ganzen je erfassen. Das ist das Zeichen der Autonomie. Selbst wenn sie es buchstäblich nachbeten oder hersingen könnten, so könnten sie es trotzdem nicht als Gestalt eines Ganzen, eben eines autonomen Werkes, reproduzieren. Das ist eben der Ausdruck von Autonomie, wie auch die Welt selbst für uns als Ganzes nicht erfassbar ist oder der Gedanke Gottes oder der Schöpfung nicht erfassbar ist.

Wir denken aber jeweils daran, dass dieses Werk nur lebt aus dem Echo, das es aus der Außenwelt erzeugt wird. Und dafür gibt es natürlich auch gute Gründe. Wagner hat ja ständig nach außen wirken wollen. Er hat ja ständig eingegriffen in die Debatten und Auseinandersetzungen, so dass man wirklich meinen könnte: Eigentlich war der so arm dran wie ein Hollywood-Komponist, der sich nur dann für bedeutend hält und viel Geld kassieren kann, wenn er Masseneinschaltquoten beim Fernsehen oder bei der Verbreitung der Filme hat. Auf dieser Ebene ist „Wagner“ sozusagen gleich „Hollywood-Filmmusik“, weil nur durch das Echo, die diese Musik bekommt, eine Form der Bestätigung für den Komponistenstatus gegenwärtig ist. Aber meistens kennen wir die Hollywood-Komponisten gar nicht, obwohl die Musik nur aus dem Echo lebt, die sie erzeugt. Bei Wagner ist es genau umgekehrt. Es ist eine ziemliche Zumutung, sich dem auszusetzen. Wir tun das alle, mirakulöser Weise nicht aus Kulturbanausentum oder aus der Furcht vor Bezichtigung, Banausen zu sein. Wir tun es alle in der ungeheuren Erwartung irgendeines Moments, in dem uns etwas mehr aufginge, als wir in der Vorerwartung immer schon einbringen können. Und dieser Moment kommt nie. Das ist ja klar. Wir können auch die apokalyptische Vision noch so sehr fordern, wir können die Apokalypse durch das Abwerfen von Bomben, durch das Nähren von Bränden sogar einsetzen, aber die Einlassung in das Reich Gottes können wir nicht erzwingen. Also gilt das jüdische Verdikt: Glaube dich nicht berechtigt durch Gottes Treue und Gesetzestreue und Dienst an der Offenbarung erzwingen zu können, dass das Heil geschieht, dass das Heil in die Welt kommt. Wir haben natürlich das Gefühl, dass wir das mehr oder weniger in dem Raum der Kunst, der Oper tun könnten, aber wer ehrlich ist, muss klar sagen, dass ihm das nicht gelingt. Das gilt generell für alle Experten auf jedem Gebiet, ob es die Physiker sind oder Herr Levy als Uraufführungsdirigent und selbst Herr Furtwängler hat es noch erklärt: Je mehr jemand Experte für etwas wird mehr, desto wunderbarer erscheint einem das, desto unfaßlicher, unglaublicher erscheint einem das, und man greift dann zu allerlei Metaphoriken zurück, um zu erklären: Was ist denn da passiert? Ja -, der heilige Geist hat persönlich -, - die Musen haben geküßt, oder was auch immer. Wie macht man so etwas? Weil es so wenig aus dem Kalkül hervorgeht, gibt es Anleitungen. Es gibt Kompositionslehren, und die Zauberer zeigen einem heute auf der Bühne, vor der Fernsehkamera, wie sie es machen. Und wir wissen alle: Das ist ja bloß Zauberei. Zauberei heißt ein Kunststück der Blendung unserer Wahrnehmung, der Ausblendung unserer Wahrnehmung, die Prüfung unserer Wahrnehmung. Es geht alles mit rechten Dingen zu und wir haben pausenlos das Erlebnis: Hier findet ein Wunder statt. Die Kameras halten heute voll auf den Zauberer auf der Bühne. Früher hat man gedacht, wenn so etwas passiert, ist der Zauber des Zaubers zu Ende; keineswegs. Bei Wagner hat man jetzt voll draufgehalten, sozusagen mit der Optik der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Das Mirakel wird nur umso größer. Denn gerade wenn alle diese Aussagen des Wirkenwollens durch Echoerzeugung in Politik, wenn „Hitlers Wagner“ sozusagen jetzt auch umgekehrt als „Wagners Hitler“ vorausdefiniert wird, ist damit immer noch nicht verstehbar, was die Wirkung eigentlich ausmacht. Was ist denn das? Emphatische Übertragung? Fliegen da irgendwie kleine materielle Teilchen? Ist das wie bei einer Infektion mit Bazillen oder Viren, wie eine Schnupfeninfektion? Werden wir zu gläubigen Wagnerianern, weil uns so ein Virus anfällt? Was passiert da eigentlich? Gibt es da überhaupt irgendeinen materiellen Austausch? Die Antwort von den Neurologen und den Physiologen lautet natürlich nicht, dass da irgendetwas materiell ausgetauscht wird. Selbst die Vorstellung von hebräisch „Ruach,“ , oder griechisch „Pneuma“, oder christlich „Geist“, ist nur ein sprachlicher Verweis, ein Begriff, ein Name für eine Reihe von Aussagensätzen. Es findet eine parallele Operation zwischen den verschiedensten Hirnen, also den entscheidenden Produktionsstätten unseres Bewusstseins statt, und zwar auf drei Ebenen, die ich aber nicht auszuführen brauche.

Wirken heißt also in einer Art von Zwang zum Paralleloperieren hinein zu geraten. Wenn sie etwas dazu heute lesen wollen: Sloterdijks große Trinität der Blasen, „Sphären“ ist wohl die beste Aufarbeitung unter neurologischen, physiologischen, kulturgeschichtlichen, philosophischen Gesichtspunkten über diese merkwürdige Art der Kooperation in Hinblick auf etwas, was zugleich geschieht. Das Zugleich ist auch nicht fassbar, denn es spricht gegen unsere Erfahrung von Zeit als augustinschen Zeitstrang – aus der Vergangenheit, durch die Gegenwart in die Zukunft. Denn das Zugleich ist eben die Totalität des autonomen Werkes. Das Gelungene oder das Gesetzte des ein für alle mal Vorhandenen ist in diesem Anspruch der Autonomie verankert. Wenn selbst die Götter es nötig hatten, wenn der „Unbewegte Beweger“ im aristotelischen Sinne zum Beispiel oder der christliche Gott es nötig hatten, sich aus sich selbst heraus zu entfalten durch Schöpfung, also wenn selbst für Götter der Gedanke der Autonomie schwer erträglich ist, dann ist das natürlich in Hinblick auf menschliche Tätigkeit „das Ende“. Wie bei diesen Begründungen für die eigene Vorstellung von Gott ist die Definition des gnostischen Ende nicht einfach bloß ein Nichts. Auch bei der buddhistischen Vorstellung von Nirwana ist es nicht bloß ein Nichts, sondern es ist eine Erarbeitung, eine Haltung, die nicht mehr eines Echos aus Vorstellungen, Bildern, Träumen, Wünschen, Erinnerungen bedarf, um sich zu behaupten. Das gnostische Ende ist also nicht einfach im Sinne einer banale Auffassung von Zerstörung zu verstehen - damit da nichts mehr ist -, sondern die Erreichung eines Status, in dem „das Ende“ der Begriff für die Vollendung ist. Ende und Vollendung sind die uns eigentlich gebräuchlichsten Bestimmungen. Wenn ein Wuppertaler wie der verehrte Gustav Adolf Baum mit über 90 Jahren stirbt, sagt man: Ein vollendetes Leben. Ein Angebot zur Versöhnung mit dem Tod. Denn wenn man so gelebt hat wie der Stifter Gustav Adolf Baum, dann ist das Ende der Beweis der Vollendung. Und das stand auch in allen Zeitungen, dass, wenn so jemand stirbt, sich zeigt, dass man vom Ende in Hinblick auf die Vollendung sprechen kann. Das ist das gnostische Moment, das nennt man Erlösung. Dieser merkwürdige Begriff in unserer Ankündigung „Erlösung als Ende in der Vollendung“ – „Vollendung der Evolution“ oder „Vollendung der Irdentage“ oder „Vollendung der aufgegebenen Verpflichtung“ – Erlösung, nicht im Sinne einer bloßen Beendigung als Tod. Nicht im Sinne von Erlösung, die nur in einem Untergang bestehen kann, also physische Vernichtung. Wenn jemand einen „Faust“ geschrieben hat, oder den „Ring“ geschrieben hat, merken wir physisch tatsächlich nach vier Stunden intensiver Präsenz den Eindruck: Es ist jetzt zu Ende, ich kann auch nicht mehr, ich bin auch nicht mehr in der Lage, aber in und mit der Erfahrung von Vollendung. „Projekt der Vollendung als Ende“, das ist dann staunenswert. Im Sinne einer Huldigung mag man das persönlich ausdeuten, wie man will. Hier geht es um einen objektiven Tatbestand. Erlösung erreicht man nur durch das Beenden als Vollendung. Das gilt für die christliche Theologie, das gilt für die orthodox-jüdische Vorstellung, allerdings in einer sehr schwierigen Konstellation. Das gilt eigentlich für alle großen Philosophien, soweit sie die Verbindung zwischen kognitiven Operationen und naturevolutionären ins Kalkül ziehen und damit den Gedanken an eine Evolution, die sich selber als Entfaltung der Naturgesetze oder des Schöpfungsplans in Gang gesetzt hat.

Untergang ist also Untergehen in der Stillstellung. Stillstellung ist aber nicht die Stillstellung des „Kopf-ab“-Todes, sondern Untergang meint die Einwilligung ins Ende: Wir sind untrennbar und einig, wenn ihr zustimmt. Wenn ich zum Beispiel, nur um ihnen das lustbetont nahe zu bringen, ungeheuer gerne gerösteten Tintenfisch esse, dann bestelle ich mir noch eine Portion und dann noch eine, und dann bin ich bereit einzustimmen in den Verzicht: Danke, jetzt brauche ich mir das nicht mehr anzutun. Das ist sozusagen das Gefühl der Sattheit. Jetzt kann ich zustimmen in den Schluss, dies ist das Ende des Mahls. Solange ich denke: Nur aus Gewichtsgründen esse ich nicht, eigentlich will ich noch viel mehr, - solange ist das nicht erreicht. Ich stimme also selber in dieses Ende ein und habe dann das Gefühl: Dies war ein vollendetes Menü in einem kroatischen Restaurant. Aber die Erfahrung war gegen meine normale Tendenz, mir etwas nur zu verbieten, aus Gesundheitsgründen, aus sozialer Konvention, aus gewichts-hygienischen Gründen oder was auch immer. Jetzt bin ich bereit, so zu essen, bis ich selbst die Vollendung des Mahls im Ende erreichen kann. Das ist jetzt aber nur ein banales Beispiel um klarzumachen, worum es bei diesen Wagnerschen Motivbildern der Erlösung durch Untergang geht. Die Erreichung der Vollendung in einem Status, in dem nichts mehr von dem Antrieb bestimmt ist: Jetzt müsste ich hier noch etwas verbessern, und da müsste ich eigentlich noch etwas machen, und das stimmt eigentlich auch nicht so ganz - und eigentlich ist alles wieder verworfen. Noch mal - alles von vorne; und das geht dann so ein Leben lang. Wenn dagegen jemand wirklich ein vollendetes Mahl genossen hat, können sie ihm das schönste an der Nase vorbeitragen, er wird wie Napoleon sagen: „Pas digne de moi, Josephine.“ Das ist für jeden nachvollziehbar und ist die Konterstrategie der humanistischen Kulturtradition gegen die Naiv-Apokalyptiker, gegen die Zerstörungseuphoriker im platten Sinne der Gnostik. Wenn aller Geist im irdischen Fleisch, in der irdischen Materie, nur wie in einem Gefängnis aufgehalten ist, dann können sie nur durch das Zerschlagen dieser Objektwelt, dieser materiellen Welt, also durch den Verzicht auf den „Materialismus“ - so hieß das im 20. Jahrhundert - die Tat der Befreiung des Geistes leisten. Dann ist eben das Zerschlagen, das Zerstören, das Autodafé, das Verbrennen der Bücher, das Verbieten der Kunst etc. als die höchste Form der Befreiung aus den Fesseln der Materialisation, der Verkörperung, der Inkarnation. Das ist der gnostische Banal-Antrieb. Aber so dumm war nur jemand, der sich dann in Konkurrenz zu der griechischen, der jüdischen und der christlichen, später deistischen Auffassung mit Gnosis beschäftigt hat.

Also bedeuten Untergang, Zerstörung und Tod den Moment des eingestandenen Endes als Bestätigung der Vollendung im Sinne dieser Baumschen Beerdigungsdarstellung. Bei Gustav Adolf Baum gab es für niemanden auch nur eine Sekunde Anlass zu trauern, denn er war als 95-jähriger Kulturstifter Wuppertals, als Gründungssenator der Universität, als Begründer der Düsseldorfer IGEDO usw. das Beispiel für alle, die noch nicht so weit gekommen waren. Er war eine autonome Persönlichkeit, die nicht mehr nach Applaus, nicht nach mehr Echo, nach mehr Geld oder was immer schielen musste oder gierig war, sondern die zustimmte. Er ist der Repräsentant dieses eingestandenen Moments der Vollendung, d. h. er stimmte auch seinem eigenen Ende zu. Bei Wagner und anderen Großkünstlern, die sich wirklich in Analogie zum Schöpfergott, zum christlichen creatio ex nihilo und in dem kulturgeschichtlichen Motiv der Gnosis gesehen haben, lag dann doch soviel Intelligenz vor, daran zu zweifeln und dann eine systematische Entwurfslehre zu erstellen. Die hat dann der wahrscheinlich bedeutendste Schüler von Wagner, nämlich Schönberg, mit seiner Kompositionslehre gemacht, von der ab er genau die Wagnersche Position als Jude durchführte, wie das in der Folge eine ganze Reihe von Großkünstlern gemacht haben. „Groß“ heißt hier nicht etwa pathetische Akklamation, Geniekult etc., sondern „groß“ bedeutet, fähig zu der Übereinstimmung ins Ende. „Finis“ steht am Ende des Films. Bei Berlusconi heißt die gnostische Dimension „Fininvest“, denn die Firma von Berlusconi heißt „Fininvest“. Das ist das gesamte Humanistenprogramm in einem Wort, als Firmenzeichen. Aber hier in Jugoslawien wissen sie was Fininvest heißt. Das ist ja schon öfter versucht worden. Es hat nur nie den Zeitpunkt der Vollendung als Ende erreicht, immer nur das Ende, aber ohne Vollendung. Denn hinterher war die Misere größer als vorher. Es war überhaupt nichts vollendet, weder der Nationalismus noch sonstige Legitimationen, nichts war erreicht, im Gegenteil. Ungefähr so wie auch 1945 in Deutschland. „Groß“ heißt hier die Fähigkeit zur Erreichung des Ende als Finis, Ende des Films, Ende des Stückes. Thomas Mann schreibt seinen letzten Roman „Dr. Faustus“ und parallel dazu steht im Tagebuch geschrieben: Heute schreibe ich unter das Manuskript: „Ende“. Das ist ebenfalls als Erreichung der Vollendung zu sehen. Wer das kann, wer sozusagen das Beenden als ein Vollenden glaubhaft machen kann, der ist in diesem Sinne ein großer Künstler. Da mögen auch die Peinlichkeit im Hinblick auf die Anmaßung der christlichen Schöpferrolle oder andere Peinlichkeiten noch so penetrant sein, es ist in der Tat das, was uns in Hinblick auf das Denken mit dem Ende, das Rechnen mit dem Ende in sich zu einem Ziel führen soll und nicht bloß zu einer Deklaration von irgendwas. Und wer würde nicht mit dem Ende rechnen, denn dann wäre die ganze Welt unbedeutend und nichts würde für uns gelten,

Vollendung – Ende als Vollendung. Das Untergangspathos steht für die Bereitschaft, dafür alles aufzugeben, und zwar echt alles. Was gibt man auf, als Person? Man gibt die Liebe einer Frau auf, man gibt sein Vermögen auf, man gibt die Karriere, man gibt die Zustimmung der Öffentlichkeit, die Anerkennung etc., das gibt man auf. Wenn man 30 Kannen Kaffee trinkt oder Hasch raucht oder wie viele dieser Künstler Opium isst, dann gibt man auch die physische Gesundheit auf. Fast alle dieser Künstler im 20. Jahrhundert oder noch viel stärker im 19. Jahrhundert haben diesem Untergangspathos gefrönt, da sie alles aufgegeben haben, - das Leitbild war Baudelaire. Alles aufgeben, außer die Orientierung auf das Ende und wenn man sich auf das Ende hin orientiert, dann geben auch wir vieles auf. Es ist nicht mehr so wichtig, wie die Haarfrisur aussieht, es ist nicht mehr so wichtig, was in der Zeitung steht usw. - das ist zwar banal ausgedrückt, aber man versteht es dann besser.
Untergang heißt Verzicht auf jede Art der Bindung im sozialen, im kulturellen, auf jede Legitimation durch Kulturheroismus, beispielsweise: Ich bin gerechtfertigt, weil ich mit dieser Begründung den deutschen nationalistischen Kulturstaat auf seinen Höhepunkt geleite, oder was immer. Kulturelle Legitimation ist genauso wie die theologische, also Martyrium oder sonstiges Leiden, für das Schaffen nicht geeignet. Untergang heißt, sich befreien aus den Abhängigkeiten der eigenen Bedürfnisse, der eigenen Bequemlichkeiten, der eigenen Vorliebe, der eigenen Sehnsucht nach geliebt werden; Wagner kann davon wirklich ein Lied singen, was das hieß. Er hat sich täglich stundenlang mit diesen Fragen beschäftigt, jeder Frau sich an den Rock geworfen, hinter jedem Attraktor – nennt man das heute – der ihm begegnete, sofort angehängt. Aber, und das müssen sie sich merken, auch sie würden heute noch gerne Fisch essen gehen und mit der Frau flanieren. Wenn sie das aber umsetzen könnten in die Bewirkung des Endes als Vollendung, dann wird man ihnen hinterher eine Biographie widmen, die diesem merkwürdigen, rätselhaften Entstehen der Einheit von Ende und Vollendung gewidmet ist. Dieses Phänomen nennt man Säkularisierung. Denn Säkularisierung heißt nicht, wie die Leute heute glauben: Abschied von der Religion, Gott ist tot, das interessiert uns nicht mehr, Spiritualität und das alles ist absurder Unsinn – ganz im Gegenteil! Weil die Mächtigkeit des Kontrafaktischen, des Glaubens, an die Ausgedachtheiten – credo quia absurdum – weil das unüberbietbar ist. Niemand kann mit jemanden, der als Märtyrer sagt: Credo quia absurdum, ich glaube gerade, weil es all eure Vorstellungen, all eure Kalküle, alles übertrifft -, niemand kann mit dem rechnen, es ist unmöglich. Sie können nicht argumentieren mit jemanden, der sagt: Credo quia absurdum. Wer also das glaubt und das sein Gesetz wird, das sein Handeln normativ bestimmt, – Norm wird, der baut in diesem Sinne die Normativität des Kontrafaktischen auf! Wir kleinen Würstchen glauben nur an die Normativität des Faktischen und sagen dann: Wenn wir 20 Jahre über den Rasen gegangen sind, können wir auch 21 Jahre darübergehen. Das ist die Normativität des Faktischen. Die Normativität des Kontrafaktischen, das ist das, was die Kulturen bestimmt, auf jeder Ebene, gerade wenn die Kontrafakte so absurd sind wie „Rassereinheit“ oder „Gottesgehorsam“ oder was auch immer. Säkularisierung bedeutet nicht, das zu leugnen, die Kraft dieser kontrafaktischen Normativität, das Normativwerden des Wahnsinns zu leugnen: „Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Und durch die Methode wirkt es. Nicht das Leugnen dieser Kraft, sondern das Rechnen mit der Kraft bedeutet Säkularisierung . „Feuer und Schwert“ ist auch wieder nur eine Metapher beim Islam. Natürlich gab es auch „Feuer und Schwert“ bei Wagner im Sinne einer direkten Vorführung, aber mit Bühneninstrumentarium. Wenn man nicht säkularisierte, würde man ein Opfer dieser Art von Absicht des Wirkens, dieser Verbreitung des Glaubens, dieser Durchsetzung des unbezwingbaren Fanatismus der Absurditätsvorstellung, des Wahnsinns mit Methode. Säkular wurde die Welt seit 1802, vorbereitet durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert, die das, was bisher nur auf die religiösen Praktiken wirkt, - institualisiert mit Kirche oder nicht, denn der Islam hat keine Institution - und durch etwas Kontrafaktisches begründet wurde, innerweltlich zu begründen unternahm. Säkular heißt die Abbildung der Vorstellungen von Heilsgewißheiten auf das politische, gesellschaftliche, innerweltliche reale Leben. Das bedeutet, nicht mehr die Vorstellung von Ewigkeit oder Gottesbildern abzuleiten, sondern sie auf das Gegebene auf Erden zu beziehen. Was ist auf Erden gegeben, wenn wir die Vorstellung realisieren wollen? Nur das Erreichen der Vollendung, denn das ist die innerweltliche Entsprechung zu den theologischen Begründungen vom „Reich Gottes“. Ein Künstler, der ein Werk schafft, das innerweltlich Vollendung durch Beenden erreicht, hat das innerweltliche Äquivalent zu den früheren kontrafaktischen Annahmen über das Jenseits erreicht.
Säkularisierung spiegelt also im politischen, im sozialen, vornehmlich im künstlerischen alles das wieder, was vorher religiös definiert war. Wenn diese Säkularisierung der Religion eintritt, entsteht - beispielsweise in Hinblick auf das Kunstwerk als die höchste Strategie der Erreichung von Beendigung als Vollendung - die Kunstreligion. Die ist nicht mehr transzendent orientiert, sondern auf die Einheit von Ende und Vollendung orientiert, auf die innerweltliche Vorgabe des Ziels. Der Begriff der Kunstreligion stammt von Hegel, aus dessen berühmten Jenaer Periode und ist seit ungefähr 1802 in die Welt gesetzt worden. Dem begegnen sie ganz gut in Safranskis Schiller-Biographie; die ist auch so kurz, dass sie jeder gut lesen kann. Kunstreligion ist nicht nur die Rettung der Religion. Warum? Denn wenn die Religionen in der Durchsetzung der Normativität des Kontrafaktischen wirken, ist die Welt ohnehin zu Ende, da behalte ich nicht einmal mein Leben. Ich kann mein Bewusstsein nicht behalten, ich werde unterworfen. Wenn ich die Religion nicht nur in einem Sinne retten will, dass ich mich vor ihr rette, sondern dass, was die Religion geleistet hat, jetzt im realen Leben der Menschen, politisch, sozial etc. mit dem Motiv Beenden als Vollendung des Werkes erreichen will, dann muss ich die innerweltliche Erlösung durch erreichte Einheit, eben Übereinklang von Ende und Beenden, ausdrücken. Kunstreligion ist also die innerweltliche Repräsentation der Kraft. Der steht die kontrafaktische Annahme von Himmel, Gott und-weiß-der-Teufel-was der nach außen gerichteten Kraft entgegen, die es mit diesen Erzwingungseffekt von Feuer und Schwert soweit bringt, dass jeder dieser Auffassung zum Opfer fällt. Und da fragt man sich: Wieso bringt man seit Jahrtausenden ausgerechnet die Leute um, die man doch eigentlich überzeugen will? Wenn ich ihnen meine Liebe gestehen will und sie dabei zu Mus mache, wie das heute in jedem Bildzeitungskommentar als großes Unverständnis dargestellt wird, dann wird das schwer zu verstehen sein. Man hat sich vor 2000, 3000, 5000 Jahren gefragt, nicht nur im jüdischen Raum, sondern auch im ägyptischen und im hethitischen, im Zweistromland: Was macht es für einen Sinn, das haben zu wollen, was ein anderer hat, ihn mit Krieg zu überziehen, ihm das zu rauben, um dann im Krieg das kaputt zu machen, worum es eigentlich geht? Und jahrtausendelang haben die Menschen Krieg geführt im Zerdeppern der Dinge, um die es eigentlich ging. Was für ein Irrsinn! Bis man auf die Idee kam: Moment, da kann etwas nicht stimmen. Also der Vorwand, Krieg zu führen, um jemanden etwas wegzunehmen, das ist ein gutes menschliches Motiv, das versteht jeder. Aber das, was ich selber haben will, weil es der andere hat, kaputt zu machen, das kann überhaupt nicht mehr begründet werden. Da musste man eben umschalten auf eine andere Strategie, die hieß: Wer einen anderen mit Krieg überzieht, um ihn in die Sphäre seiner Machtübung einzubeziehen, ist für ihn verantwortlich. Plötzlich hat er die ganzen Kriegsgefangenen zu versorgen, hat die Bevölkerung zu ernähren, er hat für Ordnung im Territorium, das er erobert hat, zu sorgen. Er hat für den Wiederaufbau der Ruinen zu sorgen. Die Amerikaner haben das bei uns vorgemacht. An jeder Bombe steht dann: Sorry, was wir hier zerstören mussten, wird gleich wieder aufgebaut, unsere Versicherungsagenten sind schon unterwegs. Hier wurde das Abrahamsche Verbot des Erstfalls durchgesetzt. Ernstfall ist nur der Tod. Das ist für jedes Wesen der Ernstfall. Wenn Abraham die Opferung als Begründung der Beglaubigung verbietet, also den Tod, muss eine Gesellschaft ohne „Kopf-ab“-Endzeitdrohung auskommen. Wie macht man das? Wie kann man Verbindlichkeit durchsetzen, wenn es nicht mehr heißt: Wenn du nicht gehorchst – Kopf ab. Wenn du dich widersetzt, rebellierst etc., - Kopf ab! Gefängnis, Asozialität, Vernichtung – in welcher Hinsicht auch immer, wie macht man das? Das ist die entscheidende Frage für Kunstreligion. Man macht es durch Verpflichtung der Menschen, als Humanisten beispielsweise, mit deren Programm zur Erreichung des Grades der Vollendung, natürlich im Maße dessen, was sie selber beenden können. Wenn einer mit 18 stirbt, kann man ihm nicht eine Vollendung im Sinne einer siebzigjährigen Werkschaffensperiode abverlangen, im Rahmen dessen, was ihm geblieben ist oder geboten wurde oder erlaubt war oder zu Verfügung stand, zu einem Ende zu kommen.

Im übrigen ist das auch immer die Schwierigkeit bei Rednern, genau zu wissen, wann sie zu einem Ende kommen sollen, denn sie selber haben ein anderes Bild von der Vollendung der Darstellung eines Themas, als die Zuhörer. Und für einen Redner ist nichts so tödlich wie sich auf seine eigenen Vorstellungen zu orientieren, anstatt auf die seines Publikums. Es sei denn, er ist völlig autonom. Natürlich nehme ich einen Teil dieser Autonomieansprüche jetzt für mich in Anspruch, aber nur ein bißchen, es sind noch fünf Minuten. Säkularisierung heißt, dass die Versprechungen der kontrafaktischen Behauptung von Paradies und Ewigkeit, Reich Gottes, also alles das, was nur aus dem Glauben des Absurden begründet ist, ersetzt werden soll durch etwas jedem Menschen Einsichtiges, was er selber als Erfahrung mit sich bringt. Das kann die instinktive Bereitschaft sein, sein eigenes Leben zu vollenden, also einen biographischen Entwurf zu machen, auch ohne dazu aufgefordert zu werden bei der Anstellung in einer Firma: „Schreiben sie ihren Lebenslauf“. Biographiepflichtig zu sein war früher eine Angelegenheit von Feldherren, Staatengründern, Propheten etc. Heute ist das für jeden 18-Jährigen selbstverständlich. Wenn er Pförtner werden will, muss er einen handgeschriebenen Lebenslauf schreiben. Warum? Weil man von ihm wissen will: Bist du bereit, deine eigene Entwicklung in Gang zu setzen? Bist du bereit, dich zu verpflichten auf eine Entfaltung oderEntwurf hin, den wir verbindlich nehmen können? Das ist die Verbindlichkeit – in der Selbstfestlegung, in der Selbstorientierung. Bist du dazu bereit, dich auf das zu verpflichten, was die Demokratien eigentlich fördern, nämlich auf die Einsicht in die Unabdingbarkeit? Das ist der Begriff der Freiheit. Nämlich die Autonomiefähigkeit, das Unabdingbare zu akzeptieren und in der Akzeptanz dessen, was sowieso nicht zu ändern ist, einen Grad der Unabhängigkeit, der Freiheit von dem ständigen Lamento „Ich beklage, dass es nicht so und so ist“ zu erreichen, Freiheit von der Hiobiade, von dem permanenten sich Beschweren über das eigene Schicksal, also von der Opferrolle. Und das ist sozusagen der Höhepunkt der ganzen Betrachtungen von ästhetischem Terrorismus, also der Erzwingungsstrategien der Beglaubigung durch Tod oder Ernstfall, hin zur Säkularisierung. Denn die verbietet diese Bereitschaft des Todes im Sinne des Gottesdienstes seit Abraham und realisiert das Innerweltliche als Dienst am Nächsten, als Arbeit am Werk, als Entfaltung der eigenen Biographie, Unternehmen, Dynastien etc., ohne über das, was einem da zugemutet wird, sich jemals als Opfer oder als jemand zu beklagen, der seine Autonomie als Zustimmung zum Ende einer Vollendung nicht erreichen kann, denn das ist ein Opfer. Ich will das jetzt nicht ausführen, aber sie sollen sich nur einmal erinnern, was in Israel für eine Debatte geführt wird, im Hinblick auf die Frage: Warum ist im göttlichen Heilsplan so etwas wie der Holocaust überhaupt denkbar? Das Modell bei den Juden hieß: „Prüfung des Gesetzesgehorsams“, so dass die Orthodoxie in Israel sagte: Der Holocaust war eine Art von Prüfung der Juden durch Gott selbst. Das ist bei weitem nicht der Konsens aller Israelis oder aller Juden, aber das ist eine Auffassung, die eine 3000-jährige, ununterbrochene theologische Diskussion begründet hat. Oder z.B. die Deisten, die aus Verstandesgründen an die Existenz Gottes zu glauben meinen. Die Deisten sehen das Faktum der Gegebenheit in dem Begriff der Vollendung enthalten, was ein Art von Gottesbeweis ist, denn: Wäre es nicht vollendet, wenn es nicht gegeben wäre? Wir alle phantasieren über unser Werkschaffen, als Künstler, als Musiker und es ist großartig, was wir alles schaffen, aber leider ist es nicht gegeben. Der Vollendung fehlt die Existenz des Werkes, das wir dazu auf die Beine gestellt haben oder gerne hätten. Bei den Deisten sagt man: Ich bin aus Verstandesgründen gezwungen, die Existenz Gottes anzunehmen oder das Schöne, Gute und Wahre in verbindlicher Vorgabe zu akzeptieren, weil ich tagtäglich das Häßliche, das Fragmentierte, das Beschränkte, das Lügenhafte, das Betrügerische erfahre. Um das, was ich als häßlich, beschränkt, gelogen erfahre, qualifizieren zu können, muss ich denknotwendig auf das Gegenteil von „häßlich“, nämlich auf „schön“ reflektieren, auf das Gegenteil von gelogen, nämlich Wahrheit reflektieren. Und das Gegenteil von opportunistischer Auslegung der Regeln des sozialen Zusammenseins zwingt mich dann zur Entwicklung der Vorstellung des ethisch Guten. Es ist nirgends gegeben. Niemand kennt das. Keiner weiß, was die Wahrheit ist, keiner weiß, was die Ethik letztendlich begründet. Das konkrete Erleben des Beschränkten, Begrenzten, Kaputten, Fragmentierten, - wie in der Modernen Kunst, nur noch Trümmer - zwingt einen zur Entwicklung des Gedankens der Vollendung. Auf das Werk Wagners übertragen, ist der Gedanken der Vollendung eine Denknotwendigkeit. Wir können nicht vermeiden, das, was uns täglich zugemutet wird, zu qualifizieren, wenn wir auf das Gute, Wahre und Schöne oder auf den Gott nicht reflektieren. Gott ist, so die Deisten, eine Denknotwendigkeit. Das Gute, Wahre und Schöne diktiert nicht mehr ein Gott, ein König, ein Kaiser, ein Geschmacksausschuß, ein arbiter elegantiarum als ein Schiedsrichter des guten Geschmacks. Da ist niemand, der dieses Richteramt vollziehen kann. Weder im Fernsehen, noch in der Publizistik, es gibt dieses Amt nicht. Umso mächtiger wird der Gedanke des Guten, Wahren und Schönen gegen die postmoderne Behübschung des „Alles geht“. Alles geht nur, wenn es geht, und da kriegen wir bald gezeigt, dass es eben nicht geht. Alles geht nur, wenn es geht, sonst nicht. Gegen diese relativistische Beliebigkeitsfreiheit gerichtet ist die Notwendigkeit der harten Orientierung an der Normativität des gedanklich Unabweisbaren, so wie Kant das als Konsequenz der gedanklichen Operation in Hinblick auf bestimmte Urteilsleistungen, wie häßlich, krank, beschränkt, zerstört, ungelungen, misslungen usw. dargestellt hat.

Opfer zu sein, ist gegenwärtig für uns - hier in dieser Region und auch in anderen Weltregionen - der Status des Legitimierten. Wer sich als Opfer darstellen kann, hat Glaubwürdigkeit attestiert zu bekommen, wie der Märtyrer auch; das Opfer ist sozusagen nur ein unfreiwilliger Märtyrer. Wer also sagt, wir sind Opfer dieser und jener historischen Bewegungen oder sozialen Verhältnisse etc., will damit die am Anfang gestellte Frage nach dem Terror hören, nämlich: Wie legitimiere ich den höchsten Wahrheitsanspruch? Durch das Opfer meines eigenen Lebens! Im Zusammenhang des verbotenen Ernstfall sage ich, wenn ich mich als Opfer darstelle, dass das, was ich sage, fordere, feststelle etc. mit der höchsten Dignität versehen ist.

Und so gibt es eben heute auch einen Terrorismus aus dem Empfinden heraus, ein Opfer zu sein. Und der muslimische Terrorismus vom 11. September, mit dem Herr Stockhausen wieder an Wagners große Terrorismusdebatte anschloß, ist gerade nicht die Vollfüllung des offenbarten Wortes. Die Erzwingung der Buchstäblichkeit im islamischen Fundamentalismus dieser Terroristen ist gerade nicht Buchstäblichkeit der Orientierung auf das Koranwort, sondern die Inanspruchnahme einer Opferrolle. Alle diese Täter sind in der westlichen Zivilisation hoch integriert, haben im Westen studiert, gehören zu guten Familien, haben Ausbildung, Vermögen etc., haben alles gehabt, konstruierten für sich aber als Menschen aus dem ehemaligen imperialistischen Wirkungsbereich von Engländern, Franzosen, Spaniern und Holländern heraus die Opferrolle. Sie legitimieren den Terror durch das Faktum, dass sie sich als Opfer darstellen. Sie legitimieren sich gerade nicht aus dem fundamentalistischen Terror des buchstäblich und nur ein-eindeutig verständlichen und nicht auf eine andere Weise interpretierbaren Wort Gottes, sondern eben aus der Opferrolle. Und da kann man nur sagen, wir haben alle doch eine ziemliche Neigung und Tendenz, als Serben und Kroaten, als Westdeutsche und Ostdeutsche, zur Reklamation der Opferrolle. Die Debatte geht in der Bundesrepublik nun schon 10 Jahren, in der alles, was ausgehandelt wird, - politisch, sozial, in der Argumentation, im Diskurs - unter Verzicht auf den Ernstfall zerschlagen wird. Und wenn jemand am Diskurs teilnimmt und sagt „Ich bin aber ein Opfer“, lässt sich nichts mehr sagen. Dann hört die Argumentation auf und genau das ist eigentlich mit dem Terrorismus gemeint. Man terrorisiert sich wechselseitig mit der Überbietung im Opferstatus. Es ist geradezu eine Art von Olympiade um die Opferrollen entstanden. Hingegen haben die Israelis gesagt: Wir lassen uns nie mehr zu Opfer machen. Israels Gründungsdekret ist ein Zeichen dafür, dass man ein für alle mal nicht mehr Juden als Opfer sehen will. Wir verstehen uns nicht mehr als Opfer! Aus! Mit dieser Vorstellung ist Schluss! Deswegen gründen wir Israel, um endlich eine Möglichkeit zu haben, nicht mehr immer aus der Rolle des Opfers, von Pogromen, von Neid und was auch immer, uns zu definieren. Das ist eine enorme Leistung nach der Erfahrung des Holocaust, 1948 zu sagen: Jetzt ist Schluss mit der Definition der Opferrolle. Jetzt gehen wir selbstbewußt an die Definition unserer eigenen Handlungen mit der Konsequenz des Wirkens, des Durchsetzens, des Realisierens und allem, was daran hängt. Das ist eine enorme, höchst dankenswerte und wahrscheinlich die bedeutendste Gabe der Entstehung Israels an die christlich, islamische, aber auch jüdische Welt – in vielen Teilen wird das ja nicht akzeptiert. Nicht nur die orthodoxe Welt hat das nie akzeptiert. Gerade die jüdischen Orthodoxen haben sich nie in diesem Sinne als Opfer sehen wollen – die Orthodoxie braucht das nicht, die weiß das von vornherein. Aber wir haben alle die selben Erfahrungen in dieser Hinsicht. Wir werden ständig verführt dazu, die Medien fordern uns ununterbrochen auf und natürlich am meisten im Bereich der Kunst, wo heute die meisten Künstler sich ja schon als Opfer Wagners sehen und keine Opern mehr schreiben können oder keine Vollendungsstrategien mehr entwickeln können, weil sie arme Opfer einer solchen überlegenen Werkfähigkeit geworden sind. Einmal Goethes „Faust“ und nie wieder schreibt man etwas. Das ist natürlich ein Weg, wenn man das richtig macht, selber Autonomie zu gewinnen. Man ist nicht mehr getrieben aus bloßer Eitelkeit zu schöpfen und das Echo „großer Dichter, schöner Mensch, wunderbar, toll, wie sie heute gesungen haben“ zu erreichen. Das wünsche ich mir eigentlich für die Aufführung von „Tristan und Isolde“ in der hiesigen Stadt, in der ja und in der ganzen Umgebung diese Olympiade um Opferstatus noch heute international und wechselseitig durchgespielt wird, dass man da in der Realisierung eines Kunstwerks erfährt, wie man da genau auf diese Strategie des verkappten Ernstfalls verzichtet. Eigentlich sagt man als Opfer: „Du hast mich schon umgebracht. Ich habe mich nicht als Märtyrer töten lassen, sondern du hast mich schon umgebracht, ich bin schon sozusagen Zeuge im Sinne einer Beglaubigung des höchstens Wahrheitsanspruches, dadurch dass ich als Opfer, als Sündenbock, als Lamm mich zur Verfügung stelle.“ Wenn man das hier macht und dann sieht man diese Wettbewerben um die wechselseitige Überbietung in der Unabweisbarkeit des eigenen Arguments - „Unsere Opfer waren noch größerer als eure Opfer, ihr hattet nicht so viele wie wir oder nicht so grausame und nicht so radikale“-, wenn man sich aus dieser vollständig absurden, zerstörerischen Logik befreit und sich nun gemeinsam auf Markierungen der Fähigkeit zum Ende, auch zum Ende der Feindschaften, zum Ende des kontrafaktischen Rassismus einlässt, - ob im Baltikum oder hier in Ex-Jugoslawien, da und dort von kulturellen Identitäten zu sprechen, ist schon ziemlich kontrafaktisch. Das Ende dieser Art von Kontrafaktizität, der nationalen Identität, des Opferstatus usw., um sich an der Markierung der möglichen Vollendung, der innerweltlichen Durcharbeitung eines Projekts, - das mag der Fortschritt sein, das mag die Entwicklung sein, das mag die Befreiung der Menschheit von Leiden sein, das mag die Gewährung von Existenzsubsidien für jedermann sein – um sich an ein Vollendungsprojekt zu begeben. Der Name für diese Vollendungsprojekte hieß im 19. Jahrhundert „Fortschritt“. Das Kunstwerk der Zukunft, das Wagner ab 1851 systematisch entwickelte, war nicht nur historisch eine Art von Mix der verschiedenen Gattungen, sondern als Kunstwerk der Zukunft verhieß es ein Einlassen auf den Fortschritt innerhalb der Strategien der Vollendung, inkl. der Strategien der Entwicklung von Autonomie durch Bereitschaft zum Ende. An eine solche Inszenierung hier anzuknüpfen, an das ungeheuer schwierige Werk Wagners und an die Wirkungsgeschichte Wagners, an die Geschichte des Echos der wagnerschen Konzeption, Musiken, Ideologien, Antisemitismus etc., gerade in Hinblick auf diese Art von Wirkung, ist eine Verpflichtung auf Vollendung zu erreichen. So schwer es für sie auch sein mag, als Regisseure, als Sänger tatsächlich selbst zuzustimmen: Jetzt habe ich etwas vollendetes getan. Sie werden nie zufrieden sein, die Sänger werden immer den Eindruck haben: Es war noch lange nicht das, was man … Aber in Maßen dessen, was es uns ermöglicht, am Ende der viereinhalb Stunden zu sagen: Es war gut so, es ist tatsächlich zum Ende gekommen. Da haben wir dann einen Eindruck von Vollendung, auch durch die physische Ermattung, auch – das gehört ja zur menschlichen Existenz dazu – durch den Hunger, der ausgebrochen ist oder des Bedürfnis nach Schokolade essen oder eben gebratenen Oktopus. Dann hat man etwas kapiert von der gnostischen innerweltlichen Erlösung, dem Pathos der Erlösung durch die Orientierung auf das Ende als Vollendung. Und das ist die ganze Botschaft.

Vielen Dank fürs Zuhören.