Buch Heilsversprechen

Norber Bolz u.a. [Hg.]: Heilsversprechen, Bild: München: Fink, 1998..
Norber Bolz u.a. [Hg.]: Heilsversprechen, Bild: München: Fink, 1998..

Nach einem Wort von Friedrich Schlegel ist der Historiker ein rückwärtsgewandter Prophet; in der Zukunft vermag er nichts anderes zu sehen als in der Vergangenheit: Leid und Trümmer. Wer mehr von der Geschichte erwartete – Glück etwa und Fortschritt –, hat sich einem Heilsversprechen anzuvertrauen, dessen Herkunft gnostischer oder theologischer Natur ist. Ein «stolzes Stück Aufklärung» nennt Norbert Bolz – Mitherausgeber des anzuzeigenden Sammelbandes – jene Einsicht, dass gerade das Gelingen des aufklärerischen Heilsplans die Erde «ins Licht triumphalen Unglücks» taucht. Aber hat die historische Desavouierung der grossen Heilsversprechen das Thema obsolet gemacht? Eben gerade nicht. Wir alle wollen – wider besseres Wissen – noch immer erlöst werden; grundloses Hoffen auf Heil gehört zum Inventar alltäglichster Widervernunft. – Vor etwas mehr als einem Jahr hat die Philosophische Fakultät der niederländischen Universität Utrecht dem Thema «Heilsversprechen» ein Symposium gewidmet. Die Beiträge von Gernot Böhme (Philosophie und Esoterik: Konkurrenten um die geistige Orientierung der Zukunft), Christoph Menke (Heros ex machina: Souveränität, Repräsentation und Botho Strauss' Ithaka), Willem van Reijen (Der Messias und der letzte Gott. Heilsversprechen bei Benjamin und Heidegger) u. a. sind hier nachzulesen.

Erschienen
1997

Herausgeber
Bolz, Norbert | van Reijen, Willem

Verlag
Fink (Wilhelm)

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3770532287

Umfang
236 Seiten

Einband
Broschiert

Seite 221 im Original

Heilsversprechen starker Männer der Wissenschaft und Künste im Narrenspiegel

Gemeinhin wird betont, die moderne Wissenschaft unterscheide sich von ihrer Vorgängerin, der (christlichen) Theologie dadurch, daß sie die Gegebenheiten des menschlichen Daseins, seiner Positivität als Natur, aus der Evolution eben dieser Natur heraus zu bestimmen und womöglich zu optimieren in der Lage sei – anstatt sie unter Hinweis auf das offenbarte Ziel der Evolution annehmbar werden zu lassen. Daß die positiven Wissenschaften zahlreiche Strategien der Optimierung entwickelt haben, ist unübersehbar. Fraglich blieb und bleibt, unter welchem Gesichtspunkt der Einsatz dieser Strategien gelenkt, kontrolliert, also verantwortet werden kann.

Alle Antworten auf diese Frage betonen die Abhängigkeit der Zielsetzungen von Zeithorizonten, den kurz-, mittel- oder langfristigen Orientierungen. Was auf kurzfristige Sicht durchaus sinnvoll begründet zu scheinen vermag, kann sich mittel- und erst recht langfristig als unhaltbar erweisen. In der Umkehrung gilt das nicht. Die Orientierung auf den fernsten Zeithorizont ist nicht zu widerlegen durch die Unmöglichkeit, diese Orientierung in kurz- und mittelfristigen Strategien auszuformulieren.

Die positiven Wissenschaften operieren nur in kurz-, höchstens mittelfristigen Zeitdimensionen – sie verstehen den ungeheuren Zeithorizont der Evolution von Natur als Ewigkeit, also als problemlos; die faktische Vorhandenheit der Natur wird zur Positivität eben durch die fraglose Gegebenheit der Natur. Daraus wird der vielgeschmähte Konservativismus der positiven Wissenschaften verständlich. Die positiven Wissenschaften sind nicht die Nachfolger der Theologie, sondern ihre moderne Erscheinungsform. Ihren jeweiligen Heroen (von Kepler über Pascal, Newton, die Enzyklopädisten bis zu Einstein, Heisenberg und Kollegen) wurde das Wissenschafttreiben zur Theologie, sobald sie die kurz- und mittelfristigen Zeithorizonte überschritten. Die Theologen selbst (und die von ihnen auf den Weg gebrachten Künstler) hatten zuvor schon versucht, Theologie und Künste als positive Wissenschaften zu etablieren, indem sie empirisch Evidenzen für ihre Orientierung auf den Zeithorizont der Ewigkeit, zumindest aber der zeitenthobenen Dauer erarbeiteten. Auch ihnen ging es um Optimierungsstrategien für das menschliche Dasein. Spinoza bilanzierte die Begründungen für ihre Positivität der Theologie und der Künste als Wissenschaften in der Formulierung „deus sive natura“, das heißt, vor den Zeithorizonten der Evolution (also der Schöpfungsgeschichte) und der Eschatologie läuft es auf dasselbe hinaus, ob man Naturforschung oder Gottesforschung betreibt.

So ungefähr konstatieren es auch Heisenberg und Kollegen, die deswegen als Autoritäten gleichermaßen von Naturwissenschaftlern wie Theologen in Anspruch genommen werden. Häufig vergessen allerdings jene, die ihre theologischen Gewißheiten mit Verweis auf die positiven Wissenschaften rechtfertigen, die Grundvoraussetzung dafür: die Eliminierung des langfristigen Zeithorizonts aus der Evolution und der Eschatologie. Zu welchen desaströsen Konsequenzen hingegen die Vereinheitlichung kurz-, mittel- und langfristiger Perspektiven führt (empirisch etwa durch das Verfahren der Hochrechnung scheinbar ermöglicht), läßt sich an der Durchsetzung vieler neuzeitlicher wissenschaftlicher Großprojekte erfahren, bei deren Rechtfertigung man nicht umhin kam, die strategische Einheit von Natur- und Gottesforschung zu beschwören, ohne sich – wie gesagt – an deren moderne positive Begründungen zu halten. Da sich diese Gelegenheiten häufen, entsteht bei Zeitgenossen der Eindruck einer Wiederkehr „finsterer“ mittelalterlicher Entgegensetzung von wissenschaftlichem und theologischem Denken, dessen Fronten ganz anders verlaufen, als es die Fundamentalismusdebatte suggeriert. Deshalb läßt sich etwa die jüdische Orthodoxie mit ihrem strikten Verbot, die Ankunft des Messias je in irdischen Zeithorizonten zu denken – und seien sie noch so ferne – ohne weiteres den positiven Wissenschaften vermitteln, während die säkularisierten Juden mit ihrer strikten Entgegensetzung von wissenschaftlichem und theologischem Argumentieren eigentümlich unmodern wirken.

Trinity

Anfang der achtziger Jahre eröffnete Reagans damaliger Innenminister Adams den Aufrüstungsgegnern eine neue Sicht auf die Waffen, vor denen man sich entsetzte. Adams führte aus, atomar bestückte Langstreckenraketen seien kein Teufelszeug, sondern Instrumente der Heilsgeschichte. ja, es stimme, so Adams, daß diese Waffen die Welt der Menschen auslöschen können – die apokalyptischen Szenarios seien sehr realistisch. Aber, müßten wir nicht als gute Christen die Apokalypse mit anderen Augen sehen, denn uns sei verheißen, daß die Apokalypse der Wiederkehr Christi und unserem Einzug ins Reich Gottes vorausgehe? Der gute Christ habe die Apokalypse nicht zu fürchten, sondern freudig zu erwarten, damit sich das Heilsgeschehen vollenden könne.

Diese wahrhafte Umwertung unseres Schreckens in hoffnungsfrohe Erwartung ist nicht Ausdruck privaten Irrsinns einer Randfigur des westlichen Machtzentrums der achtziger Jahre. Die Verknüpfung von heilsgeschichtlichen Konzepten mit der Entwicklung fortschrittlicher Technologien haben viele Protagonisten der Modernität betont. Auch wenn man zugesteht, daß diese Protagonisten die Heilsgeschichte säkularisiert verstanden, also auf die Welt der Menschen eingeschränkt, so gehört doch zur Welt der Menschen gerade das Phantasieren über die außermenschliche Welt. Deshalb sollte man besser Säkularisierung durch technische Evolution so verstehen, daß der menschliche Geist sich selber die Rolle der geoffenbarten göttlichen oder naturevolutionären Kräfte vorbehält. Säkularisierung bezeichnet so zutreffender, daß Menschen sich selber das Wirkungspotential der Natur oder der Götter aneignen. In diesem Sinne ist es eben nicht als Dummheit oder Blasphemie zu werten, wenn Robert Oppenheimer, der Vater der Atombombe, sein großes Projekt „Trinity“ nannte. Dieser Code-Name für den ersten Atombombentest in New Mexico am 16. Juli 1945 wurde nicht willkürlich gewählt. Die Oppenheimer-Biographen weisen darauf hin, der Meister sei Sanskrit-Kenner gewesen und habe das Hindu-Konzept der Dreieinigkeit von Brahma, Vishnu und Shiva gewählt, um die Einheit von Schöpfung, Bewahrung und Zerstörung in seinem Projekt zu betonen. Oppenheimer hätte auch das christliche Konzept der Dreifaltigkeit bemühen können. Die Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist war ja seit dem Mittelalter in der sich erfüllenden Einheit der drei Weltzeitalter gedacht worden: der alttestamentarischen Zeit unerbittlicher Gesetzesexekution, dem neutestamentarischen Zeitalter der Hoffnung auf Gnade und dem kommenden Zeitalter des Geistes, der sich nicht mehr in Schöpfung und Natur zu vergegenständlichen habe. Eine zeitgemäße Version dieses dritten Reiches der Trinität war Oppenheimer durch die quantenphysikalischen Spekulationen vertraut: das „Verhalten“ der kleinsten postulierten physikalischen Wirkungspotentiale war als die höchste Demonstration von Freiheit des Geistes zu verstehen. In der Explosion der Bombe realisierte sich die Trinität von Gesetzmäßigkeit, vergegenständlichender Materialisation als Natur und deren Aufhebung im reinen Geist des Quantelns.

Von den Begründungen, die der Erfinder kriegstauglichen Giftgases für sein erschreckendes Tun gab, bis zu den Selbstrechtfertigungen des Erfinders der Neutronenbombe war allen Titanen der Wissenschaften und ihrer Anwendung im Militärischen, Politischen, Ökonomischen und Sozialen gemeinsam, daß sie sich als Mittler eines Geschehens sahen, durch welches Visionen und Offenbarungen des Weltlaufs verwirklicht würden. Sie erfüllten eine Mission, der sich gewachsen zu zeigen übermenschliche Kräfte notwendig sind, eine Begabung mit „göttlicher“ Inspiration und eine psychologische Stabilität, die nur kalt und unmenschlich nennen könne, wer sich noch nicht aus den allzu menschlichen Ängsten befreit habe.

Seit Wissenschaft nicht mehr im privaten Studiolo betrieben werden konnte, sondern auf gesellschaftliche Subsidien (Geld, Arbeitskollektive, Infrastrukturen) angewiesen ist, bedarf sie der Begründung ihrer Vorhaben, weil mit Blick auf die zu erwartenden Resultate die Entscheidung über Förderung der Projekte gefällt wird. In die wissenschaftliche Arbeit geht also immer schon die Legitimierung, im Namen der Gesellschaft zu arbeiten, ein. Die früher durch reines, interessenloses Erkenntnisstreben begründete Arbeit wird zum Auftrag, für die es keine Einschränkungen als die der Machbarkeit gibt. Was mit den zugestandenen Mitteln machbar ist, ist auch gerechtfertigt.

Damit erübrige sich jedes Lamentieren über die Moral der Wissenschaftler, über ihre Weltanschauungen und Zielsetzungen. Das Erschrecken über wissenschaftliche Großtaten und ihre Anwendung ließe sich also richtigerweise aus der Konfrontation der Gesellschaft, (die die Wissenschaftler legitimiert, weil sie sie arbeitsfähig erhält), mit ihren eigenen Zielsetzungen und Weltbildern gewichten. Das Entsetzen scheint also eher auszugehen von dem Eingeständnis, die Kulturen und ihren Gesellschaften inhärenten Steuerungslogiken nicht beherrschen zu können, also der geheimnisvollen „Selbstorganisation der Systeme“ blind ausgeliefert zu sein. Gerade diese Erfahrung aber erzwingt ja die verwegensten Konstruktionen heilsgeschichtlicher oder naturevolutionärer Ausrichtung des Weltgeschehens und der kulturellen Dynamiken. Im missionarischen Eifer der Wissenschaftler kommt also nicht subjektivistischer Mutwille von Un- und Übermenschen zur Geltung. Vielmehr unterstellen sich auch die herausragendsten Wissenschaftler jenen Visionen des zielgerichteten Selbstlaufs von Natur und Kulturen, mit denen jedermann der Ohnmachtserfahrung begegnet, die Logiken der Entwicklung nicht beherrschen zu können. Am Ende raisonieren die Titanen des Geistes wie Allerweltsmenschen: dies und jenes mißliche Resultat ihrer Arbeit habe man nicht vorhersehen können und schon gar nicht gewollt. Die Wirklichkeit erweise sich eben als solche, weil sie von unseren Visionen und gut gemeinten Absichten völlig unbeeindruckbar bleibt. Daraus läßt sich umgekehrt schließen, wie hoch der Verlust an Realitätserfahrung bei all denen ist, die durch ihre realisierten Projekte zu verstehen geben, die Wirklichkeit sei ein bloßes Konstrukt unseres Willens und unserer Vorstellungen. Über den Grad des Wirklichkeitsverlusts der amerikanischen Gesellschaft (also auch ihrer Wissenschaftler) zur Zeit der Entwicklung von Atom- und Wasserstoffbomben und ihrer Anwendung geben die ganz ernst gemeinten Handbücher zum Schutz vor freigesetzter Atomenergie Auskunft. Das Entsetzen über die Empfehlungen, sich vor Strahlungsenergie und fallout durch über den Kopf gehaltene Handtaschen zu schützen, ist wohl noch größer als über das Faktum atomarer Explosionen selber — auch wenn bei heutigen Vorführungen von Zivilschutzfilmen der fünfziger Jahre das Publikum sich höchlich zu amüsieren scheint. Derartige Reaktionen vor dem angeblich Unfaßbaren werden psychomechanisch erzeugt. Sie besagen jedenfalls nicht, daß das Publikum unfähig bliebe, durch das peinigende Lachen jemals das scheinbar Unfaßliche sehr klar zu fassen. Völlig irrig ist die Annahme, dergleichen Publikumsreaktionen blieben in der Faszination vor dem Erschreckenden, in Gafferattitüden stecken. Eine „Ästhetik des Erschreckens“ zu beschwören verkennt, welche kognitiven Leistungen bereits mit der ästhetischen Dimension der Wahrnehmung vorgegeben werden: nämlich, die sich bis zur Panik verselbständigenden Fluchtimpulse und die Bewertung der Situation, sich ihrer Wiederholung auf jeden Fall entziehen zu sollen. Also dürfen wir getrost konstatieren, daß es dem Publikum nicht auf Überwältigung durch das Schreckliche ankommt. Es erkennt, wie unangemessen (in Naivität oder Gedankenlosigkeit) so gut wie jedermann, erst recht aber die Experten der Schadensvermeidung, vor dem von ihnen selbst ausgelösten Ereignis reagieren. Wenn die Herrscher der Kriegsmaschine Atomtests auf dem Bikini-Atoll mit einem Festessen feierten, dessen Dessert in Gestalt einer Atompilztorte gereicht wurde, verliert jeder Beobachter das Vertrauen in die Macht der Mächtigen, also in ihre Attitüde, selber die Ereignisse zu beherrschen, anstatt von ihnen, wie jedermann, beherrscht zu werden. Die angeblichen Titanen werden als Kindsköpfe sichtbar, und jeder weiß, welchen unwägbaren Impulsen die folgen. Als Kindskopf beschrieb der militärische Projektleiter den Chef Oppenheimer in einer Botschaft über den erfolgreichen Trinity-Test an die in Potsdam versammelten Truman-Mitarbeiter: „Der Doktor Oppenheimer kam grade enthusiasmiert und höchst zufrieden darüber vom Versuchsgelände zurück, daß ‚little boy‘ (die Atomwaffe) genauso ein strammes Bürschchen ist wie ,his big brother‘ (die lokal fixierte Atomexplosion). Das Strahlen in seinen Augen war schon von weitem sichtbar, und seine Freudenjauchzer konnte man kilometerweit hören.“

„Beide, die Männer der Wissenschaft und der Kunst, leben stets am Rande des Geheimnisses, sind ganz von ihm umgeben. Beide haben als Maß ihrer Schöpfung stets mit der Harmonisierung des Neuen und Gewohnten zu tun gehabt, mit dem Gleichgewicht zwischen Neuheit und Synthese mit der Bemühung, im totalen Chaos wenigstens teilweise Ordnung zu schaffen“, ließ Dr. Oppenheimer die Zuhörer seiner „speeches“ wissen. Eltern kennen diese Beschwichtigungsangebote aus dem Kinderzimmer, wenn Junior mitteilt, er habe in dem von ihm angerichteten Chaos immerhin den Plattenspieler in Ordnung gehalten.

Gibt es andere Möglichkeiten, das Schreckliche zu bewältigen – etwa jene, mit der Künstler seit dem achtzehnten Jahrhundert auf die Konfrontation des ohnmächtigen Menschen mit der unbeherrschbaren Eigendynamik der Natur reagierten: der Verwandlung des Schrecklichen ins Erhabene? Die Maler der stürzenden Alpenkatarakte, der Gletscherwüsten, der tobenden See und der Vulkanausbrüche positionierten die kleinen Menschen vor den überwältigenden Naturereignissen in der Distanz des Beobachters, wie Dramatiker die Zuschauer vor der Bühne und die Wanderaussteller wilder Tiere ihre Klientel vor Schutzgittern plazierten. Einerseits wurde den Observierenden versichert, nicht in den Strudel des vorgeführten Geschehens hineingerissen zu werden; andererseits wurden gerade durch die Mächtigkeit des Vorgeführten Zweifel an den Sicherheitsvorkehrungen begründet. Das Gefühl der Erhabenheit, der eigenen Erhabenheit der Menschen, stellte sich ein, sobald sie sich bewußt wurden, beobachtend dem Entsetzlichen standzuhalten, die natürliche Reaktion paniktreibender Angst zu beherrschen, ohne das Bedrohliche mit schönen Bildern bannender Ordnung zu überdecken. Letzteres Verfahren gehört zu den ältesten Techniken, die Konfrontation des Menschen mit übermenschlichen Kräften auszuhalten: man umschrieb die Furien des Weltlaufs, der Natur, des Schicksals (die Erinnyen) als die wohlmeinenden, mit den Menschen pfleglich umgehenden Kräfte stabiler Ordnungen (als die Eudämoniden), die guten Geister des happy end.

Wie gehen heutige Künstler mit dergleichen Zumutungen um? Dafür ein Hinweis auf ein jüngstes Projekt der deutschen Künstlerin Martha Laugs, das unter dem Titel „technically sweet“ im Sommer 1996 vom Städtischen Museum Mülheim an der Ruhr ausgestellt wurde. Laugs zeigte rund hundert unterschiedliche Bildträger mit „wunderbaren Ansichten“ von oberirdischen Atom- und Wasserstoffbombenexplosionen der vierziger und fünfziger Jahre. Einige der Photovorlagen wurden von thailändischen Auftragsmalern in der Manier hergestellt, mit der sie für Touristen Souvenirbildchen produzieren, nämlich mit besonderer Betonung der Touristenattitüden, sich zur Beglaubigung des eigenen Augenscheins ins Bild integrieren zu lassen: z. B. als fröhliche Strandgänger und Surfer, die ein spektakuläres Ereignis am Meereshorizont geboten bekommen. Ein weiteres Motiv wurde von einem Bundeswehrangehörigen in eine Gobelinstickerei übersetzt, andere Motive wurden auf Lithosteine übertragen, von denen keine Drucke hergestellt wurden; vielmehr wurden die Lithosteine selbst ausgestellt, als stammten sie etwa aus Hiroshimas Straßenpflasterung, in die sich der Atomblitz eingeschrieben hatte. Andere Arbeiten gaben Malereien von Künstlern des siebzehnten Jahrhunderts wieder, sogenannte Galeriestücke, in deren historische Bestände Martha Laugs einige ihrer Atompilzmalereien integrierte.

Auf den ersten Blick scheint auch Martha Laugs auf die angedeutete Technik zu verweisen, mit der man herkömmlich den Schrecken bannt, seine Verwandlung ins Erhabene. Aber sie tut das, um gerade zu zeigen, daß sich die Aura des Erhabenen nicht mehr erzeugen läßt. Dank der betont banalen Machart der Bilder erscheint es nicht mehr glaubhaft, daß uns hier angeboten werde, die Furien des Verschwindens, des Auslöschens menschlichen Lebens mit überzeugenden Beschwörungsformeln in Garantien für ein schließlich gutes Ende zu verwandeln. Die Gemälde lassen keinerlei Gefühle schöner Schaurigkeit zu, sie entziehen sich jeder Ästhetik des Schreckens, sie faszinieren nicht. Damit gerät Martha Laugs in eine Paradoxie. Einerseits soll sie ihre Bildwerke als möglichst starke Attraktoren unserer Wahrnehmung anbieten, andererseits würde sie damit ihrer Einsicht widersprechen, daß Künstler keinen Vorwand liefern dürfen, Bilder als tatsächlich leistungsfähige Medien der Verwandlung des Entsetzlichen ins Wohlgeordnete zu gebrauchen. Wie macht man Bilder, die zu möglichst intensivem Betrachten veranlassen, aber nicht faszinieren dürfen? Man konzipiert sie als schräge Bilder, als schlechte Bilder, als Kitsch, also als offensichtliche Demonstration der Paradoxie. Aber auch dergleichen Ironisierung und Karikierung künstlerischen, wissenschaftlichen oder alltagsmenschlichen Versuchs, nach der Kinderzimmerlogik das Chaos als Ordnung anderer Art umzudefinieren, kann Martha Laugs nicht von der höheren Warte besserer Einsicht anbieten. Viel wäre jedoch bereits erreicht, wenn wir akzeptierten, was uns die gestaltungsmächtigsten und redegewandtesten Zeitgenossen zu erkennen geben: ihre Perplexion, ihre tatsächliche Sprachlosigkeit, ihren Abschied von priesterlicher Beschwörungsmacht und philosophischer Erkenntnisgewißheit. Die Künstler- und Wissenschaftlerpapas werden es uns eben nicht mehr richten können; den Versicherungen der Dompteure wilder Naturgewalten werden wir nicht mehr Glauben schenken; die theologischen Beschwörungen apokalyptischen Endes als wohlbedachte Voraussetzung der Erlösung taugen nur noch zur Rechtfertigung von Willkür und Terror.

Also signalisiert der Zyklus „100 Ansichten wunderbarer Anblicke“ nur das Eingeständnis, daß auch Religionen, Künste und Wissenschaften keine Möglichkeit mehr bieten, Beherrschung des Schrecklichen zu garantieren, verweist der Zyklus die Zeitgenossen auf ihre Eigenverantwortung. Jenseits von Erhabenheitspathos, kindlichem Gottvertrauen und Anmaßung allmächtiger Geisteskräfte diese Verantwortung zu akzeptieren macht zunächst sprachlos. Aber – mit Grabbes Worten: nur das Eingeständnis der Verzweiflung über unsere leichtfertige Vertrauensseligkeit und dumme Selbstgewißheit kann uns retten vor den Desastern, die wir mit eben diesen Einstellungen selber produzieren. Daß daran nicht nur stiernackige Militärs, machtgeile Politiker, ausbeuterische Unternehmer beteiligt waren und sind, sondern vor allen anderen Wissenschaftler, Künstler und Theologen, sollten wir durch Angebote wie die von Martha Laugs endlich akzeptieren lernen.

Statt große Kunst – die Tafelbilder der Gesundbeterei – uns über die Köpfe zu halten, um vor Einsichten geschützt zu werden, wie man einst behauptete, sich mit Aktentaschen über den Köpfen vor den „Erkenntnissen“ der Atomphysiker schützen zu können, gilt es zu akzeptieren, das große Kunst nur darin groß ist, unsere Kleinheit und Ohnmacht sichtbar werden zu lassen, damit es große Männer schwerer haben, Akzeptanz für ihre großen Taten zu finden.

Werk ohne Wirkung?

Martha Laugs hatte wie ähnlich arbeitende Künstler Schwierigkeiten, ihrem Publikum klarzumachen, worin die Leistung ihres Vorgehens besteht. Die Bilder als Auslöser befreienden Lachens zu bewerten schien der Ernsthaftigkeit des erörterten Problems gegenüber unangemessen zu sein. Der Verzicht der Künstlerin, in ihren Arbeiten irgendein Mittel zur Bewältigung des Problems zu empfehlen verhinderte, sie als Autorität für nachahmenswerten kritischen Einspruch auszuzeichnen. Wohlweislich vermied es Martha Laugs auch, irgendwelche künstlerische Schöpferkraft mit humanitären Appellen den sogenannten unmenschlichen, eiskalten Praktiken bornierter positiver Wissenschaftler entgegenzusetzen. Die Ausstellung bot keine Möglichkeit, wohlfeile Rechtfertigungsstrategien von Künstlern nachzuvollziehen, sie etablierten aus ihrem Selbstverständnis heraus immer schon die Kunst als Gegenwelt zur technischen Welt. Denn jede Einlassung auf die Geschichte der Künste im technischen Zeitalter belegt eine solche Annahme als – wenn auch verständliches – Wunschdenken eines Publikums, das seinem eigenen Blick auf die Moderne die fromme Unschuld bewahren möchte. Die Künstler wußten zu genau, daß ihre Wirkungsansprüche nur Chancen hatten, erfüllt zu werden, wenn sie wie die positiven Wissenschaften mit den natürlich oder kultürlich gegebenen Voraussetzungen des Einwirkens auf andere Menschen kalkulierten. Die Mehrzahl der für tatsächlich wirksam gehaltenen Kunstproduktionen bestand, zumindest seit Wagners Zeiten, im wesentlichen aus dem Kalkül der Wirkungen, die man zu erzielen versuchte. Die Künstler erwiesen sich als ausgefuchste Empiriker der Psychologie, der Soziologie und der Neurophysiologie. Selbst da, wo sie sich als Sendboten heilsgeschichtlicher Visionen zur Geltung bringen wollten. Wo sie auf das Pathos der Irrationalität setzten, um sich vor Widerlegungen zu schützen, taten sie das zumindest so rational begründet wie nur irgendein positiver Wissenschaftler. Vor allem aber konnten und wollten sie sich nicht aus sozialen und politischen Umsetzungen von Optimierungsstrategien für das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen und die Ausformung des individuellen Lebenspotentials heraushalten, seien diese Umsetzungen nun universalsozialistisch, nationalsozialistisch oder in irgendeiner Form liberalistisch begründet. Die Künstler waren in diese Projekte nicht nur auf gleiche Weise verstrickt wie Wissenschaftler, Politiker oder Unternehmer, sie haben diese Projekte mitkonzipiert und mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten zu entfalten versucht. Ja, die tatsächlich Wirkungsmächtigen unter ihnen wußten, daß ihren individuellen Vorstellungen in dem Maße Bedeutung zukam, wie sie sie Projekten der Positivität verschwisterten. Für diesen Sachverhalt steht bis heute der Fall Wagner. Er spiegelt sich in den vielen kleineren Fällen Riefenstahl, Breker, Benn, Speer, Jünger, Celine oder neuerdings denen der afro-amerikanischen Rapper und der Mehrzahl aller Künstlergestalter der Unterhaltungsbranche, die angeblich ja nur leichte Kost ohne soziale oder politische Auswirkungen produzieren. Der scheinheilige oder naive Appell „Wagner von Hitler zu befreien“ oder Wagners musikalisches Schaffen von seinen weltbildlichen Programmen zu trennen, weil die Kunst nichts mit der Politik, der Wirtschaft oder der Waffentechnologie zu tun habe, würde darauf hinauslaufen, dem Künstler Wagner seine Wirkung zu nehmen, also seine Werke in bestenfalls Wohlgefallen stimulierende Hintergrundgeräusche aufzulösen.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten

Aus den überlieferten Berichten für das Reichssicherheitshauptamt über die „Stimmung“ unter der Zivilbevölkerung wurde eine besonders gefährliche Fragestellung von Alltagsmenschen herausgefiltert; die simple Frage „Was soll eigentlich passieren, wenn wir den Krieg planmäßig gewinnen?“ schien das gesamte Projekt radikaler zu kritisieren als der defaitistische Zweifel am Endsieg. Denn auf die Frage gab es keine überzeugende Antwort.

Heutigen Konsenstheoretikern setzt die gleiche Frage zu: Und was kommt nach dem Konsens? Heilsbotschaftern tritt der Volksmund mit der Feststellung entgegen, daß das paradiesische ewige Hosianna-Singen und Manna-Essen eher erschreckend wirke als das Verbleiben in einem „höllischen“ Dasein. Künstler oder Architekten, die – wenn auch nur partiell – die Gelegenheit bekamen, ihren Visionen von Idealstädten und Idealwelten Ausdruck zu verleihen, mußten die Erfahrung machen, daß die von ihnen mit den Wohltaten Gesegneten die Idealstädte bestenfalls als Kasernen oder Gefängnisse nutzen wollten und die Idealwelten der Disneyländer als unerträglichen Kitsch bewerteten.

Die radikalste Frage an die Projektoren von Weltgestaltung als heilsgeschichtliche Erlösung von den Übeln und dem Elend unseres Daseins heißt also wohl: „Was passiert, wenn diese Projekte tatsächlich realisiert werden?“

Nicht nur historische Erfahrungen, sondern auch systematische Überlegungen geben die Antwort: „Dann beginnt das ganze Theater von vorn – auf einer neuen Stufe der Evolution.“ Die positive Theologie verwies dafür auf die Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies, in dem wir ja bereits waren. Die positive Naturwissenschaft verweist auf die Leistung der Natur, sich jederzeit in einem stabilen – wenn auch fließenden – Gleichgewicht zu halten. Sie ist jederzeit paradise now. Vor diesen auf die Ewigkeit gerichteten Zeithorizonten erweisen sich auch die wirkungsmächtigsten Heilsprojekte als unerheblich, weil es für die Natur oder den Gott gleichgültig ist, wie sie ausgehen. Für menschliches Handeln ist deshalb die Einschränkung, ja die Beschränkung des Horizonts notwendig. Die ist aber nur erreichbar, wenn die Positivität all dessen, was über diese beschränkten Horizonte hinausgeht, vorausgesetzt wird. Nur vor dem Horizont der Ewigkeit werden kurz- oder mittelfristig angelegte Strategien beurteilbar. Für diesen Sachverhalt hat die FDP-Abgeordnete Uta Wuerfel die tagtäglich jedermann zugemutete Aufforderung in den Rang des wissenschaftstheoretischen Grundpostulats erhoben: „Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Hierin manifestiert sich das Kriterium aller Positivität von Medizinern, Ingenieuren, Therapeuten, Künstlern, Politikern und Unternehmern. Die Bedeutung oder die Wirksamkeit ihrer Handlungsstrategien bemißt sich daran, welche Risiken und unerwünschten Folgen ihr Handeln zeitigt. Deshalb gilt uns entgegen aller humanitären Selbstbeschwichtigung für das Alltagsgespräch wie für die elaborierte Bewertung von Kulturtätern aller Typen als vorrangig interessant, was die ruinösesten Konsequenzen hatte oder nach Meinung der Problemfindungsexperten haben könnte. Der Maßstab der Positivität ist also ein jeweiliges Gelingen, das sich im Scheitern von Alternativen zeigt, eine Schöpfung, die sich durch Zerstörung entfaltet. Deshalb vermögen die Positivisten aller Handlungsfelder ihre Zielvorgaben kurz- oder mittelfristigen Operierens so einvernehmlich als schöpferische Zerstörung auszuweisen – ohne alle ideologischen Verbrämungen, die man einfach gar nicht nötig hat, um den programmierten Zelltod zu akzeptieren oder den Untergang eines Unternehmens, einer Institution, eines Staates oder einer Gesellschaft. Wen’s erleichtert, der mag das als belustigende Narretei des verrückt gewordenen Gottes oder der entarteten Natur sich vorstellen. Für die Begründung von Positivität wird die Lüge auf gleiche Weise benötigt wie die Wahrheitsbekundung, das Falsche wie das Richtige, die Orthodoxie wie die Häresie. Die positiven Wissenschaften aller Branchen lehren uns, die Logiken des Chaos wie die der Ordnungen zu beschreiben, die Bestimmbarkeit der Dysfunktion mit Blick auf das Funktionierende zu würdigen. Auf die psychologische Ebene übertragen, heißt das: eine Reihe von Macken erweist sich als gesundheitsförderlicher als die forensische Unauffälligkeit. Oder kurz: Jeder Positivist ist beschränkt aus Klugheit.

Literatur
Bazon Brock: Ästhetik gegen Unmittelbarkeit – die Gottsucherbande, hrsg. von Nicola v. Velsen. Köln 1986
Armin Hermann: Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Stuttgart 1982
Lansing Lamont: Day of Trinity. New York 1965
Martha Laugs: Technically Sweet. Mülheim 1996
Psychogramm eines Erfinders – Interview mit Samuel Cohen, dem Mann, der die Neutronenbombe erfand. In: H. P. Dürr (Hrsg.): Unter dem Pflaster liegt der Strand. Berlin 1984

siehe auch: