Ausstellungskatalog Krieg und Kunst

Umschlag Krieg und Kunst
Umschlag Krieg und Kunst

Der dritte Weltkrieg ist bisher ausgeblieben – er wäre wohl auch der letzte. Gleichwohl brennt die Welt an allen Ecken: radikale Erhebungen nationaler und kultureller Minoritäten, fundamentalistische Ausschreitungen der vermeintlich Rechtgläubigen gegen die Verblendeten lassen jede globale Ordnung aus den Fugen geraten. Mehr denn je scheint Heraklits Satz zu gelten, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei, mehr denn je Carl von Clausewitz’ Einschätzung, er sei selbst ein Mittel der Politik.Krieg ist ursprünglicher als Frieden, dem wir angeblich unsere Kultur verdanken. Kultur aber wird, wie nicht zuletzt die jüngsten Diskussionen und Debatten erwiesen haben, selber kriegerisch. Angesichts der Schläge und Gegenschläge seit dem 11. September 2001 haben maßgeblich intellektuelle und Künstler sich in diesem Band zusammengefunden, um über das Verhältnis von Krieg und Kunst neu und kontrovers nachzudenken. Das Ergebnis ist die Diagnose eines bestürzend engen Zusammenhangs zwischen Krieg und Kultur in allen ihren Sparten: von der Fernsehunterhaltung bis zum Historiengemälde, von der Architektur bis zum Design der Vernichtung, vom Computerspiel bis zu den unmenschlichen, weil ohne Menschen betriebenen Waffengängen – überall orientiert sich die „Kulturmenschheit“ am barbarischen Ernstfall des Krieges.

Erschienen
01.01.2002

Autor
Brock, Bazon

Herausgeber
Koschik, Gerlinde

Verlag
Fink

Erscheinungsort
München, Deutschland

ISBN
3-7705-3742-4

Umfang
344 S. : Ill., Kt. ; 24 cm

Einband
kart. : EUR 39.90

Seite 9 im Original

1.1 Säkularisierung der Kulturen. Generelles zum Projekt Kunst und Krieg – Kultur und Strategie

In seiner jüngst publizierten Studie "Was ist Kultur?" kommt der Marxist und Oxford-Professor Terry Eagleton zu der Schlußfolgerung, daß die grundsätzlichen und erstrangigen Probleme unter Menschen durch Krieg, Hunger, Armut, Krankheit, Verschuldung, Drogen, Umweltverschmutzung, Migration und dergleichen entstünden und nicht so sehr durch Symboliken, Sprachenstreit, Wertorientierung, kurz durch Kultur. Man müsse die Kulturproblematik stark relativieren, wenn man an die entscheidenden Konfliktlagen der Gegenwart herankommen wolle.

Es ist klar, was gemeint ist. Auch wir glauben nicht, daß es in den Kulturkämpfen um Kultur geht. Vielmehr werden kulturelle Sachverhalte benutzt, um Argumente für das Verhalten in den grundlegenden Konflikten zu finden. Beispiel: Hält ein weißer Polizist einen afroamerikanischen Autofahrer an, um ihm innerstädtische Geschwindigkeitsübertretung vorzuhalten, so liegt für den Autofahrer die Erklärung nahe, er sei von dem Polizisten wegen seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Ethnie und ihrer spezifischen Kultur angehalten worden, denn letztere Merkmale seien viel auffälliger als die Limitübertretung von 10 Meilen. Verursacht etwa in New York ein orthodoxer Jude einen Verkehrsunfall, dessen Opfer zu einer anderen kulturellen Minderheit gehört, entstehen gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Minoritäten, die als Kultur- oder Glaubenskämpfe von beiden Seiten dargestellt werden.

In eben diesem Sinne werden die Kulturkämpfe geführt, um sinnfällige Erklärungen und Entlastungen für Sachverhalte wie Armut, Analphabetismus, Unterlegenheitsgefühle, Terrorismus und dergleichen Konfliktindikatoren zu finden. Alle effektvollen Argumente für und gegen konflikthaltige Positionen entstammen dem kulturellen Selbstverständnis der Beteiligten, und insofern geht die Empfehlung, kulturelle Belange in Konflikten zu relativieren, an deren vorrangigem Gebrauch für die Konfliktdarstellung vorbei. Warum sind die kulturellen Argumente derart leistungsfähig? Weil sie nicht zu widerlegen sind, denn die kulturellen Sachverhalte wie Einheit der Sprach- und Glaubensgemeinschaften sowie ethnische, gar rassische Homogenität, sind ja kontrafaktische Behauptungen. So schreibt Haruki Murakami in seiner Studie über die Auswirkungen der Tokyoter U-Bahn-Attentate auf die japanische Psyche: "Es ist eine traurige Tatsache, daß von der Wirklichkeit abgekoppelte Sprache und Logik sehr viel stärker wirken als Sprache und Logik, die die soziale Wirklichkeit wiederzugeben versuchen." Robert Jay Lifton liefert in seiner Studie über apokalyptische Gewalt und den neuen weltweiten Terrorismus entsprechende Beispiele für aktuelle kulturelle Kontrafakte, die die terroristische Auffassung begründen sollen, man müsse die Welt zerstören, um sie zu retten.

Wir kennen diese Positionen hinreichend - etwa aus Richard Wagners Postulat des ästhetischen Terrorismus, demzufolge die Erlösung Ahasvers, der Juden, in ihrem Untergang zu sehen sei.
Das kulturelle Selbstverständnis, in dessen vorgeblichem Namen weltweit, aber vor allem auch in Europa, zahlreiche Konflikte blutig ausgetragen werden, ist in erster Linie durch seine bewußte Abkopplung von den wirtschaftlichen, sozialen, politischen Realitäten gekennzeichnet, also durch Kontrafaktizität, die normative Kraft entwickelt. Denn Kulturen sind durch Kommunikation aufrechterhaltene Beziehungsgeflechte zwischen Menschen, durch welche Verbindlichkeit in der Antizipation von Verhalten und Handlungen der Beteiligten erreicht werden soll Die Verbindlichkeiten entwickeln sich um so stärker, je exklusiver die Beziehungen sind. Exklusivität wird durch den Grad der Entfernung von der Wirklichkeit, das ist die kontrafaktische Potenz, bestimmt. Also muß in das kulturelle Selbstverständnis eine Vielzahl von ganz spezifischen, exklusiven Selbstbeschreibungen eingebaut werden, durch die die Unterscheidung einer Kultur in den Augen ihrer Mitglieder von allen anderen zu sichern ist.

Um derartige kulturelle Selbstverblendung daran zu hindern, in den Bereichen des Politischen, Sozialen und Ökonomischen gefährliche, ja desaströse Wirkung zu zeitigen, gibt es offensichtlich nur einen Weg, wie er seit zweihundert Jahren zur Zähmung religiös motivierter Intervention beschritten wurde. Es besteht kein Zweifel, daß für die westlichen Gesellschaften die strikte Trennung von Staat und Kirche die Basis für die Unterdrückung oder Beendigung desaströser Religionskämpfe bot - ganz im Unterschied zu jenen Drittweltländern, deren Status in auffälliger Weise mit einer nicht erfolgten Säkularisierung korreliert.
Demzufolge dürfte es auch nur einen erfolgversprechenden Weg zur Einhegung exklusiven kulturellen Selbstverständnisses geben: nämlich die strikte Säkularisierung von Kultur. Im Zentrum der Fragestellung unserer Arbeitsgruppe Kultur und Strategie sollen die Möglichkeiten für die Säkularisierung der Kulturen gerade dann stehen, wenn von der Verfassung das Recht auf freies Ausleben der behaupteten eigenen kulturellen Identität garantiert wird. Gerade eben fallen im Vereinsrecht die letzten Religionsprivilegien unter dem Druck religiös motivierten Terrors. Wie ist die Aufhebung von Kulturprivilegien zu denken, wenn dergleichen Terror (etwa der der ETA im Baskenland) nicht mehr religiös, sondern kulturell legitimiert wird? Bevor derartige Fragen in alltagstauglicher Weise beantwortet werden, gilt es, zunächst Voraussetzungen für die Beschreibung je spezifischer kultureller Selbstwahrnehmung und der aus ihnen abgeleiteten Privilegien zu schaffen. Dabei beschreiten wir zwei Wege: wir übernehmen die Erfahrung, die der heimkehrende Anthropologe mit fremden Kulturen gemacht hat, zur Distanzierung von unserer eigenen Kultur; das geschieht etwa in der Weise, wie sich seit dem 18. Jahrhundert die Naturwissenschaften und die universell, internationalistisch orientierten Künste aus der kulturellen Bevormundung befreit haben. Ihre schließlich erreichte transkulturelle Position kennzeichnen wir als globale Zivilisation gegenüber den regionalen Kulturen.

Zum anderen versuchen wir, die Erfahrung zu aktivieren, daß alle kontrafaktische Wahnhaftigkeit kultureller Exklusivität und der Glaube an sie nicht vor Niederlagen in Kulturkämpfen schützt (nach dem verbreiteten Denkmuster "Wir müssen gewinnen, weil wir nicht verlieren können, da Gott oder das Schicksal oder die Weltläufe uns begünstigen"). Auf die Erfahrung oder die Möglichkeit der eigenen Niederlage orientiert sich strategisches Denken. Denn strategisch hat zu denken, wer mit dem Scheitern der eigenen Vorhaben gerade deshalb rechnet, weil er das Scheitern zu verhindern sucht. Die rigiden Muster der Kulturkämpfe und ihrer Funktion für die Rationalisierung politischer, sozialer und ökonomischer Konflikte kann nur aufgeben, wer auch in kultureller Hinsicht strategisch denkt, also bereit ist, die Selbstzerstörung nicht mehr als Beweis für die Richtigkeit der eigenen kulturellen Position zu halten (nach dem Denkmuster "Je mehr Widerstand eine kulturelle Minderheit bei der Durchsetzung ihres Exklusivitätsanspruchs erfährt, desto großartiger, ja einmaliger und unaufgebbarer sei eben ihr kulturelles Selbstverständnis").

Das westlich strategische Verbot der Selbstzerstörung bei der Durchsetzung eines Geltungsanspruchs (Märtyrerlogik) formulieren wir als Ernstfallverbot. In der Beziehung von Kultur und Zivilisation sowie von kontrafaktischem und strategischem Vorgehen gilt es vornehmlich zu klären, wie kulturelles Verhalten beschrieben und bewertet werden kann, wenn das Eichmaß Zerstörung als Erlösung nicht mehr benutzt werden darf und wenn die barbarische oder terroristische Rechtfertigung nicht mehr zugelassen wird, der zufolge das Maß provozierter und zu erleidender Verfolgung, Demütigung und Entrechtung den Grad der eigenen Auserwähltheit bestimmt. Die Eichung der Kulturen am verbotenen Ernstfall wird, das ist absehbar, zentral werden für die Säkularisierung der Kulturen - sei es als Verwandlung in Folklore oder Unterhaltungsgenres wie Musikantenstadl oder Ethnotheater für Ferntouristen; sei es als Musealisierung zum Aufbau von Distinktionsressourcen für die globale Wirtschaft, die welteinheitliche Kommunikation und universelle Rechtsstandards.

Fatale Selbstgewißheiten

Die bekanntesten Formen bisheriger Einlassung auf die angesprochene Problematik firmierten unter dem Titel "Friedens- und Konfliktforschung". Den Glanz ihrer Wirkung in der Öffentlichkeit reflektiert noch heute, im SPIEGEL 7/2002, der mit selbstgewisser Kennerschaft in Bezug auf Nepal vorgetragene Satz: "Ursachen (der Gärungen und Krisen in Zentralasien) sind meist bittere Armut und der Aufzug amerikanischer Militärs, die im Kampf gegen den internationalen Terrorismus Stützpunkte errichtet haben." Die Armut, so also das wohlfeile Erklärungsmuster, ist die sinnfällige Ursache des Unfriedens zwischen den Individuen, Ethnien, Kulturgemeinschaften, Staaten - und die Armut kommt von der pauvreté. Um das Armutsargument auszuzeichnen, führen die Nutzer dieses Deutungsmusters stets an, wie ungeheuer reich sie in ihren eigenen Gesellschaften seien. In den zurückliegenden zwanzig Jahren lautete jedes zweite politische Argument (von links bis rechts), die Armut in der Welt sei vor allem ein Skandal angesichts unseres "unermeßlich reichen Landes".

Herr Exkanzler Kohl gewöhnte sich aus dem Bewußtsein dieses unermeßlichen Reichtums an, alle Probleme bei der freundschaftlichen Befriedung seiner internationalen Partner, vornehmlich den europäischen, durch finanzielle Angebote zu erreichen, die niemand ausschlagen konnte. Herr Minister Scharping versprach im Bewußtsein unermeßlicher deutscher Omnipotenzen den Militär-Airbus-Bauern (zu denen die deutsche Industrie kaum gehört), sämtliche Zusatzkosten zu erstatten, die durch das mögliche Ausscheiden Deutschlands aus dem Bauprogramm entstehen könnten. Dieser permanenten Überhöhung des eigenen Vermögens widersprachen z.B. die Tatsachen, daß die Bundesrepublik (auch schon vor der Wiedervereinigung) in so gut wie allen Rankings als bestenfalls mittelmäßig, zumeist aber unter dem Durchschnitt firmierte. Das Kontrafakt des eigenen unermeßlichen Vermögens dient also zur Begründung der Realitätsverweigerung - und in der Tat kennzeichnet die etablierte Friedens- und Konfliktforschung wie deren flackernden Widerschein im politischen Geschäft gerade die Weigerung, sich auf die Faktizität des Kriegs der Kulturen, des schurkischen Eigensinns, der Lust am Bösen, von latentem Mord und Totschlag einzulassen. Auch das hat psychologisch gute Gründe, denn der magische Bann über unangenehme Gegebenheiten legt den Eindruck nahe, die Bannung erledige das faktische Geschehen selbst, indem man ihm den Namen verweigert. Die fatal selbstgewissen und selbstüberzeugten, auf besten Absichten und politische Korrektheit verpflichteten Kriegs- und Konfliktbeschwichtiger gewähren allen herzliche Handlungsfreiheit (zur brutalsten Auslöschungskonkurrenz in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft), wenn sie nur die gewünschten verharmlosenden, menschen- und fortschrittsfreundlichsten Etiketten verwenden. Man verfährt nach anthropologischen Mustern, denen zufolge schon unsere antiken Kulturväter jedermann nahelegten, von den grauenerregenden Schicksalsdämonen, den Erinnyen, nur noch als von den gütigen und wohlmeinenden, glücksversprechenden Eudämonien zu raunen.
Ein zweites erfolgreiches Deutungsmuster der politisch korrekten Friedens- und Konfliktforschung hebt darauf ab, daß die permanenten Auseinandersetzungen in der elenden Dritten Welt durch den Kolonialismus stimuliert werden, und wenn nicht durch den Kolonialismus, dann durch den Neo-Kolonialismus. So argumentierten jüngst vierzehn Länderchefs, die in der SADC (Southern African Development Cooperation) an der Erfindung von Argumenten zusammenwirken, die sie von dem Vorwurf entlasten, selber für den Zustand ihrer Länder und deren internen wie externen Mißlichkeiten auch nur mitverantwortlich zu sein. Sie verbitten sich, daß an die Vergabe von Entwicklungsgeldern irgendwelche Auflagen oder Wirkungskontrollen gebunden werden, da sich in diesen Auflagen der Geist des Kolonialismus manifestiere.

Die wunderbar selbstgewissen afrikanischen Politiker erweitern das von Verantwortung entlastende Gefühl, Opfer der Armut und fremder Mächte zu sein, um die Gewißheit, die Neokolonialisten wollten ihnen mit der Verpflichtung auf Menschenrechte und andere zivilisatorische Minimalstandards nur ein eurozentristisches Weltverständnis aufnötigen, und diese Selbstgewißheit wird umso stärker, als Europäer und Amerikaner ihrerseits jenen Vorwurf der Eurozentrik vor- und nachbeten. Ihnen allen ist kaum klarzumachen, wie sinnlos der Vorwurf des Eurozentrismus angesichts der historischen Tatsache ist, daß die infrage stehende Einforderung universeller Menschenrechte und von Minimalstandards einer Weltzivilisation in Europa selbst über mehr als zweihundert Jahre gegen Europäer durchgefochten werden mußte. Diese kämpferische Durchsetzung der Standards innerhalb Europas erscheint nun als Konflikt Europas mit den außereuropäischen Staaten, Ländern, Völkern, Kulturen mit dem Effekt, daß die bestrittene Berechtigung zur Durchsetzung der Minimalstandards die europäische Entwicklungsgeschichte selbst bestreitet oder gar zu revidieren beabsichtigt. Derartige konservative Europäer rächen sich mit Hilfe der pathetischen Gegner des Eurozentrismus an der Geschichte der politischen, kulturellen und sozialen Machtkämpfe in Europa, die sie verloren geben mußten.

Einen solchen Racheakt verübte jüngst Jürgen Habermas, als er zur Bekräftigung allgemeiner Friedenspreisung allen Ernstes empfahl, Religionsgemeinschaften aus der Artikulation ihrer religiösen Sprache sogar auf parlamentarischer Entscheidungsebene zumindest ein aufschiebendes Vetorecht zuzugestehen (damit begann das Verfassungsgericht, als es mit dem "Schächtungsurteil" jeder Gruppe aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen ohne Betonung irgend- welcher Qualifikationsmerkmale zugestand, auf Ausnahmen von geltendem Recht kraft dieser religiösen Überzeugungen zu bestehen). In besonders auffälliger Weise rächen sich Rechtsextreme an dem Ausgang der europäischen Auseinandersetzung um Rechts- und Sozialstaatlichkeit, indem sie sich in den grassierenden Kulturkämpfen mit den islamischen Fundamentalisten umstandslos verbünden.

Konfliktverschärfung durch Annäherung

Verkürzt aber pointiert gesagt, galt bei Humanisten bisher allenthalben, daß man Menschen, etwa durch familiären Austausch oder gemeinsame Teilnahme an sportlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen einander näher bringen müsse, um das zwischen ihnen gegebene Konfliktpotential einzudämmen, wenn nicht gar vollständig zu neutralisieren. Wenn die Menschen miteinander erst bekannt, ja vertraut seien, würden sie daran gehindert, sich aggressiv gegen einander zu wenden. Nicht erst die systemische Familienpsychologie zeigt indessen, daß Konflikte, auch aggressiv und zerstörerisch ausgetragene, gerade aus familiärer Nähe entstehen und gespeist werden. Otto Hondrich sagt: "Gerade wenn Kulturen, im Guten wie im Bösen, einander näher kommen, wachsen Befremdungen und Reibungsflächen. Wenn sie sich angleichen, werden kleine Unterschiede als große erlebt ... Es blüht das Paradoxon der Konfliktverschärfung durch Annäherung." Dieses Paradox blühte offensichtlich unter den sieben Völkern Ex-Jugoslawiens, die seit dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der 80er Jahre relativ konfliktfrei lebten, weshalb sie zahlreiche Bindungen eingingen, die ethnische Grenzen, religiöse Bekenntnisse und sozialen resp. kulturellen Status übergriffen. Das Bewußtsein für das Risiko dieser Entgrenzung stellte sich ein, als ihnen mit der Ideologie des Multikulturalismus ein Mittel zur wechselseitigen Erpressung aufgenötigt wurde. Wie allseits zu beobachten, ist Multikulti-Euphorie eine zeitgemäße Ausprägung des Nationalismus von Omnipotenzphantasten. Die Politik der kulturellen Identität ermöglicht eben auch der Minorität von Nationalisten als Verlierern der europäischen Geschichte, der abstrakten Majorität, "Gesellschaft", gegenüber, Anerkennung zu erreichen in der Behauptung kultureller Autonomie. Mit diesem Autonomieanspruch bestreiten, ja bekämpfen sie z.B. das Grundgesetz demokratischer Ordnung, das ihnen erst formaliter die Durchsetzung ihres Loyalität erpressenden Spiels um Zugehörigkeit oder Ausschluß ermöglicht. Sie erpressen die Zugehörigen ("Kriegssteuer im Befreiungskampf") und beuten die Ausgegrenzten aus, indem man von deren Leistungen bedenkenlos profitiert (Inanspruchnahme von Sozialleistungen, die man selbst nicht erbringt). Die Politik der kulturellen Identität führt zwangsläufig zur Mafiotisierung der Gesellschaft, die sich ihrerseits als Ghettoisierung zur Erscheinung bringt, wobei aber die Ghettos freiwillig als Überlebenskampfgemeinschaften aufgesucht werden, um alle nicht zum eigenen Ghetto Gehörenden ohne Verpflichtung auf verbindliche Regeln, wie Vogelfreie behandeln zu dürfen. Genau diese wechselseitige Deklaration von Regel- und Bedingungslosigkeit kennzeichnet den Kulturkampf.
Wieso verfiel man eigentlich auf kulturelle Identität als Positionsbestimmung für Individuen und Gruppen? Das liegt schlicht an der humanistischen Auffassung, die Kultur sei eben Quelle aller humanitären Bestrebungen. Im bürgerlichen Zeitalter galt und gilt Kultur geradezu als Humanum schlechthin, das den Menschen jenseits aller zeitbedingten Zufälligkeiten kennzeichne. Vor allem vermittle sich in der Kultur die Beziehung von Individuen zu den sozialen Formationen, und wahre Individualität definiere sich in solchem Humanismus als Repräsentation umfassender Einbindung in die eigene Kultur. Mit der endgültigen Durchsetzung der politischen Formation Nationalstaat im Widerstand gegen den Globalisierungsversuch Napoleons wurde solche kulturelle Identität zum Zentrum nationalstaatlichen Selbstbewußtseins. Deswegen sollte es nicht verwundern, daß die radikalsten Programme und Praktiken nationalistischer Hegemonialbestrebungen in erster Linie von Kulturschaffenden aller Sparten entwickelt wurden und nicht von specknackigen Kanonenkönigen und monokeltragenden Militärköppen. Empfehlungen zum Massakrieren und Verbrennen der Feinde der eigenen Nation stammen von den erlauchtesten Freiheitsdichtern; der Auslöschungsantisemitismus wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von einem unserer größten Kulturgenies und Künstlerheroen zur unmißverständlichen Sprache gebracht.
Die vorrangige Begründung des Kontrafakts Identität aus der Zuschreibung kultureller Unterscheidungskriterien statt sozialer oder politischer Kriterien legitimierte sich als Humanismus, weil, wie gesagt, die Kultur Exemplum humanistischer Haltungen und Gesinnungen böte - jenseits von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die diesen Humanisten zur Denunziation antihumaner Auffassungen dienten. Das gilt bis heute, wo jede halbwegs vernünftige politische oder soziale Vereinbarung mit humanitärem Kulturpathos bestritten und ausgehebelt werden kann. Die Kritik an diesem Humanismus ist dringend geboten. Vor der allseits angedrohten weiteren Indienstnahme von Staat und Gesellschaft durch diese Humanisten sind Analysen der Kulturen und ihrer Indienstnahme für Identitätsbildung als Hirngespinst zu leisten. Darauf zielen die Beiträge zu unserem Projekt "Kultur und Strategie - Kunst und Krieg" ab. Diese Ausrichtung könnte man mit dem Programmnamen ‚Hominisierung vor Humanisierung‘ belegen. Dabei geht es um Grundlagen unseres Selbstverständnisses als Produkte der Naturevolution, wobei sich Kultur als Natur des sozialen Menschen verstehen läßt, denn nicht nur "in der Stunde der Gefahr brechen sich die Grundsätze der Sozialmoral Bahn (oder die in Genetik, Neurophysiologie und Soziobiologie angesprochenen Bedingungen unseres Lebens), die alle Kulturen teilen", so Otto Hondrich. In der Hominisierung unseres Selbstverständnisses akzeptieren wir, "als wahrhaft universal geltend: die Prinzipien der Reziprozität, der Präferenz der eigenen Kultur, der kollektiven Solidarität mit seinesgleichen, die Tabuisierung dessen, was uns zu nahe geht und damit das eigene positive Selbstbild zerstört" (Otto Hondrich).

Nur wer mit diesen grundlegenden Bedingungen unserer sozialen Existenz zu rechnen lernt, anstatt über sie in noch so wohlmeinender Absicht als kulturell zu überwindende Abhängigkeit von blinder Natur triumphieren zu wollen, wird die hinreichende Realitätstauglichkeit erwerben, aus der zumindest eine gewisse Sicherheit durch Selbstdistanzierung erreicht werden kann. Diese Selbstdistanzierung ist das einzige Mittel gegen Loyalitätserpressung und Gefolgschaftserzwingung in den Ghettos mafiotisierter Teilgesellschaften, deren kurzfristiger Erfolg um so größer ist, je wahnhafter, also kontrafaktischer, sie ihr kulturelles Selbstverständnis ausprägen. Denn unter den Bedingungen grundgesetzlichen Bestandsschutzes der religiösen und kulturellen Kontrafakte erreichen diejenigen den höchsten Ausbeutungseffekt gegenüber anderen, die die geringsten Skrupel haben, ihr Selbstverständnis mit den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten abzugleichen. Solche Nichtanpassung und verweigerte Integration sichert Willkür (vor allem im Bereich des Asozialen und des Kriminellen), der niemand gewachsen ist, der sich an Regeln hält und gerade dadurch gehindert wird, der Willkür als Ausdruck kulturell-religiösen Selbstverständnisses die Anerkennung zu verweigern.

Summa

Zwei Schlußfolgerungen für zukünftige Arbeit sind aus unseren Überlegungen in besonderer Weise hervorzuheben. Zum einen wird es notwendig sein, Kulturgeschichte unter dem Gesichtspunkt des Unterlassens und Verhinderns zu schreiben, denn dem Theorem vom Verbotenen Ernstfall zufolge gründet die Eichung kultureller Aktivitäten am Maßstab des Nichtgeschehenden (wie jüngst am Beispiel des verhinderten Attentats auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg öffentlich erörtert). Dem Theorem des Verbotenen Ernstfalles zufolge sind in die Geschichtsschreibung und in die politische Prospektion auch jene Ereignisse als bestimmend oder folgenreich oder großartig aufzunehmen, die nicht geschahen, weil man sie verhinderte. Die Geschichte dessen, was nicht geschah, die Geschichte des Verhinderns (Öko-Bewegung), des Unterlassens (Genetik) oder Nichttuns (moralische Gebote) gilt es, in politischer, sozialer und vor allem kultureller Hinsicht zu entwickeln.

Zum anderen ist es unabdingbar, Formen und Verfahren der Säkularisierung von Kultur zu entwickeln. Wenn grundgesetzlich das Ausleben religiöser und kultureller Selbstverständnisse von der Verfassung weiterhin garantiert werden soll, müssen Forderungen auf jede Art von Hilfe bei dem Ausleben der eigenen Überzeugungen unterbunden werden. Anderenfalls würde es einzelnen Gruppen gelingen, mit staatlichen oder gesellschaftlichen Subsidien ihren kulturellen Autonomieanspruch soweit durchzusetzen, daß für sie das Grundgesetz nicht mehr gilt, außer in der Inanspruchnahme der Freiheit, sich nicht an das Gesetz halten zu müssen.

siehe auch: