Magazin Skål International. 4/95

Erschienen
1994

Issue
4/95

Tourismus und Geschichte.

Seit in den Zeiten des Hellenismus zum ersten Mal in unserem Kulturkreis touristisch organisierte Bildungsreisen angeboten wurden, fragten sich die Veranstalter, wodurch sie ihre Erfolgsaussichten steigern und sichern könnten. Bis in unsere Tage kreisten die Überlegungen um drei Problemstellungen: zum einen galt es, eine entsprechende Infrastruktur in den Reisegebieten aufzubauen oder verfügbar zu halten, zum zweiten mußte man den Kunden die Besonderheit der Dienstleistung, die man anbot, vermitteln, und zum dritten galt es, das Anspruchsniveau zu steigern.

Zwei große Infrastruktur-Vorgaben konnte man nutzen, nämlich die der Handelsreisenden und die der Kulturstättenpilger. Antike Quellen bieten reichlich Hinweise auf diese Infrastrukturen; für die Kulturstättenpilger zum Beispiel die in Delphi, für die Handelsreisenden die in Ephesos.

Die römischen Satiriker des 1. Jahrhunderts n. Chr. (erstrangig Juvenal) machten sich schon drastisch Luft über touristische Weltenbummler. Die Inschriften an den Wänden ausgegrabener Gasthäuser in Pompeji zeugen von den Problemen, die die Reisenden in ihren Herbergen verursachten: "Wir geben zu, uns schlecht benommen zu haben, Herr Wirt, weil wir uns nicht ganz stubenrein verhielten; aber wenn Sie uns fragen, warum wir uns als solche Schweine aufführten, dann antworten wir Ihnen: Sie sind selber Schuld, weil Sie nicht für die nötige Infrastruktur sorgten."

In diesem Umfeld bewährten sich die Touristikveranstalter zum ersten Mal als Kulturschöpfer, indem sie Reiseliteratur als literarische Gattung etablierten und für die Ausbildung, sowie Beschäftigung von Touristenführern sorgten. Die Reiseführer als literarisches und personales Medium bot man sehr bald auch den Handelsreisenden und Pilgern an, das heißt, man gewann eine Klientel hinzu, indem man ihr nahelegte, das Geschäft und die religiösen Verpflichtungen mit Bildungsinteressen zu verknüpfen.

Nachdem sich die Massen der aus ganz anderen Gründen "Reisenden", die Völkerwanderungsmassen, in ihren neuen Siedlungsräumen etabliert und die missionarisch reisenden Kreuzzügler sich erschöpft hatten, starteten die "Touristikunternehmen" als höfische Agenten von neuem. Sie organisierten die Attraktionen des Unterhaltungsgewerbes von Oster- und Herbstmärkten, engagierten Künstler als Propagandisten höfischen Ruhms und städtischer Attraktivität (incl. reger Produktion von Souvenirs; der Nachfrage wegen fälschte man auch bedenkenlos antike oder historische Stücke, Spolien).

Diese historische Erfahrung prägt bis heute die Angebotspalette des Touristikgewerbes: eine halbwegs sichere und kommode Reisemöglichkeit zu einem attraktiven Ort heilsgeschichtlichen, ökonomischen oder historischen Interesses; kennerhafte Führung am erinnerbaren Ort und Unterhaltung, das heißt Erwartungserfüllung der Klientel auf eine Folge dichter Erlebnisse, emotionale Stimulierung und Konfrontation mit dem Unerwartbaren.

Die Spezifik der Dienstleistung von Bildungstouristik wird uns durch die Schilderungen Boswells nahegebracht. Dieser Autor des 18. Jahrhunderts führt anhand der obligatorischen Kontinentalreisen junger englischer Aristokraten alles vor, was Angebot und Nachfrage zur Übereinstimmung brachte. Boswell verweist auf die frühesten Quellen von Begründungen der Bildungsreiseaktivitäten, nämlich auf Herodots damals schon mehr als zweitausend Jahre kursierende Auffassung von Historia als "eigenem Augenschein"; will sagen, der Bildungstourist beglaubigt die Geschichtsschreibung durch seinen eigenen Augenschein. Die Bildungstouristik erwies sich als Faktor der Geschichtsschreibung, insofern viele Menschen durch ihre Reisen an die Orte historischer Geschehnisse die Bedeutung der Geschichtsschreibung belegten. Boswell begründet die moderne Dimension der Bildungstouristik, indem er zeigt, für wen die Historiker schreiben und welchen Anforderungen sie zu genügen haben. Der Tourist wird zum Zeitzeugen der Wissenschaft!

Es ist bisher weitgehend unterschätzt worden, wie sehr die Historiker von jenen abhängen, die als Bildungstouristen die Evidenz ihrer Erzählungen beglaubigen. Damit ist die dritte Säule des bildungstouristischen Angebots eng verknüpft, nämlich die Rolle des Bildungstouristen aufzuwerten und sein Anspruchsniveau zu erhöhen.

Wirksame Geschichtsschreibung als Entwicklung jeweils zeitgemäßer Sichten auf die Historie stützt sich auf die Fähigkeiten der Touristen, durch ihr Interesse die Bedeutung geschichtlicher Ereignisse für ihre eigene Gegenwart zu bekunden. Die Kulturtouristik führte den Historikern ihr Publikum zu.

Seit dem 18. Jahrhundert ist das kulturtouristische Angebot von entscheidender Kraft der Orientierung für die Historiographen. Massenauflagen historischer Werke rechnen seit dem 18. Jahrhundert mit Lesern, die dem eigenen Augenschein verpflichtet sind. Heute kann man sagen: Historiker haben in dem Maß Bedeutung, wie es ihnen gelingt, Massen von Touristen für ihre Themen zu interessieren, das heißt, der Kulturtourismus bietet den Historikern Evidenzerlebnisse für die Bedeutung ihrer Arbeit.

Um nur ein Beispiel für diese Zusammenhänge anzugeben, berufe ich mich auf Arbeiten von Gustav Faber. Für mich ist er der Prototyp eines zeitgemäßen Kulturtouristen in seiner Rolle als personales und literarisches Medium, das detaillierte historische Kenntnisse durch das Interesse eines zeitgenössischen Bildungsreisenden vermittelt. Deshalb übertraf er in seiner Rolle als Führer von Bildungstouristen einerseits die Fähigkeit der Profihistoriker, historische Fragestellungen zu entwickeln, und andererseits das lebensgeschichtliche Interesse der Touristen zu stimulieren. Er war im goetheschen Sinne der gebildete Dilettant, der Herausforderungen an die Touristik und die Historiografie so zu formulieren wußte, daß er neue Arbeitsfelder für Geschichtsschreibung und Bildungstourismus öffnete.

Meine eigenen Erfahrungen, die immerhin 30 Jahre Praxis als Navigator und Führer von Touristen umfassen, hat mich zu der Auffassung kommen lassen, daß die jeweils zeitgenössisch wichtigen Fragestellungen an die Geschichtsschreibung von Touristen ausgehen. Schließlich ist auch jeder Historiker ein Bildungstourist mit spezifischen Fähigkeiten und jeder Tourist ein Historiker mit eigenen Fragestellungen. Das Spezifikum der bildungstouristischen Dienstleistung besteht also in der Herausforderung an die Historiographie (dafür gibt es allein aus den zurückliegenden 30 Jahren ungezählte Belege). Und die Tendenz, das Anforderungsniveau der Klientel zu erhöhen, ergibt sich aus der Notwendigkeit, die touristische Attraktivität von historischen Ereignisräumen für diejenigen zu steigern, die in ihnen als Touristen bereits zu Hause sind. Damit beweist sich die seit Herodots Zeiten postulierte Einheit von eigenem Augenschein und Herausforderung interessegeleiteter Fragestellung: Wie gelingt es, die Geschichte als aktuell wirksame Kraft zu erfahren? Der Bildungstourist, der Kulturtourist kommt auf seine Kosten, indem er der Geschichtsschreibung Fragen stellt, auf die sie bisher weder Antworten noch wohlbegründete Vermutungen gegeben hat.

Der Fragehorizont des Bildungstouristen fordert erst die Historiker heraus, Fragen zu stellen, die in ihrem professionellen Milieu bisher nicht gestellt wurden. Bildungstouristik erweist sich insofern als erstrangige kulturgeschichtliche Herausforderung.

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