Welche Rolle spielte bei historischen Ereignissen die Musik? Soweit zu diesen Ereignissen militärische Aktionen gehörten, glaubte man, nicht auf das Dschingderassassa verzichten zu können. Für Siegeszuversicht im Gleichschritt der Leiber und Gemüter hatte das Marschgeblase zu sorgen. Obwohl diese Zeiten noch gar nicht so lange zurückliegen, scheint Musik in den gegenwärtigen historischen Ereignissen beim Fall ganzer Imperien keine Rolle zu spielen.
Bis vor kurzem waren zum Beispiel die Auftritte des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker noch von martialischem Getöse begleitet; bei seiner Absetzung und bei der seiner Kollegen blieb die Sphäre stumm. Man hörte in peinigendem Schweigen der uniformierten Triumphmusiker von einst gerade noch die Bemerkung, Honeckers Lieblingsmusik sei die 9. Sinfonie von Beethoven. Aus ihr beziehe er jetzt wie in Nazizeiten Trost und Kraft. Merkwürdige Vorstellung, daß Diktatoren und Demokraten, Henker und ihre Opfer, Spießer und Bürger, japanische Manager und kaufkräftige Jugend der Welt sich lebensfromm zusammenfinden, um in der Freude schöner Götterfunken ins Elysium einzuziehen.
Hätte Musik tatsächlich die Macht, solche Perversionen zu inszenieren, als die man auf den ersten Blick zumindest die Versöhnung von geheimen Staatspolizisten mit ihren Gefängnisinsassen zu werten bereit ist, dann würde das die Musik der Versöhnung, auch wenn sie von Beethoven stammt, zur Musik der Verhöhnung werden lassen. Bitte, bitte, nicht Beethoven bei der Revolution – Beethoven abtreten, abtreten! Er selbst hätte dieser Aufforderung wohl als erster zugestimmt. Denn bekannt ist ja, daß er seine Widmung der Eroica an Napoleon wütend ausstrich, als er erfuhr, daß Napoleon die Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nur dazu zu benutzen schien, sich selbst als Kaiser aus eigener Machtvollkommenheit zu inthronisieren; in Beethovens Augen eine perverse Verkehrung der revolutionären Forderungen des Volkes.
Aus dem Geschehen der französischen Revolution wird immerhin die Funktion der Musik in der Geschichte deutlich: Das kleine belanglose und beiläufig zustandegekommene Liedchen „auf, auf ihr Kinder des Vaterlandes“, das als die Marseillaise überliefert ist, wurde die erste Nationalhymne. Von da an glaubte keine neuzeitliche Nation, ohne Hymne auskommen zu können, auch die Deutsche Demokratische Republik nicht.
Aber die Hymne dieses Staates wurde, wie er selber, zu einer Welteinmaligkeit. Hat man je zuvor von einer Hymne gehört, die man nicht singen durfte? 1971 hatte die alleinherrschende Staatspartei ihren Bürgern verboten, die Hymne zu singen; sie durfte nur noch gesummt werden. Übrigens kann man darin die wahrhaft zukunftsorientierte Kraft der DDR sehen: Sollten nicht ab sofort alle Nationalhymnen nur noch gesummt und nicht mehr gesungen werden, fragte sich mancher, als er am 9. November 1989 in Berlin die deutschen Staatsmänner Kohl, Genscher, Brandt, Momper das Deutschlandlied singen hörte?
Aber offensichtlich kann man beim Summen einer Hymne noch viel anspruchsvollere Gedanken entwickeln, als sie durch den Text der Hymne vorgegeben werden – wie anders hätten die Bürger der DDR nach 20 Jahren bloßen Summens so radikale Forderungen erheben können, wie sie am 9. November zum Ausdruck kamen: „Deutschland einig Vaterland“? Das nämlich steht im verbotenen Hymnentext der DDR: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland“. Heißt das Singverbot, Worte seien doch mächtiger als Musik, die im Falle der DDR-Hymne von Hanns Eisler stammt, und die weiß Gott nicht weniger geeignet ist, gemeinsame Herzensausgießungen zu stimulieren als irgendeine andere Musik?
Wenn schon, dann hat der Text der DDR-Hymne, nicht aber die Musik, bei den umwälzenden Ereignissen von 1989/90 eine Rolle gespielt. Eine musikalisch stumme Revolution? Kein musikalischer Ausdruck für das weltgeschichtlich Große und Einmalige dieses Prozesses? Müssen wir auf ältere Angebote zurückgreifen?
„Der Mensch an sich ist feige und schämt sich für sein Gefühl, daß es nur keiner zeige, weil die Moral es so will. Wenn im Fall des Falles er sich im Dunklen versteckt, der liebe Gott sieht alles und hat Dich längst entdeckt. Eins und eins das macht zwei, drum küß und lächle dabei, wenn Dir auch manchmal zum Heulen ist. Glücklich, wer das Heute genießt und was vorbei ist, vergißt, es kommt, wie es kommen muß, erst kommt der erste Kuß, dann kommt der letzte Kuß, dann der Schluß“, sang Hildegard Knef.
Also: eins = Deutschland Ost und eins = Deutschland West, macht zwei, zwei deutsche Staaten, so lautete bisher die weltpolitische Arithmetik, und nicht etwa eins = DDR und eins = BRD, das macht ein einig Vaterland. Und warum? Weil, wie die Knef feststellt, der Mensch an sich und nach Meinung unserer westlichen Bruderländer wie der östlichen Vaterländer, vor allem der großdeutsche Mensch, offensichtlich böse ist. Aber immerhin sagt und singt die Knef auch, daß es kommt, wie es kommen muß. Eben, das sagt auch Gorbatschow: die Geschichte werde selbst aus dem Desaster herausführen, das sie angerichtet hat, mit einem Schluß, der allen Beteiligten leider stets unbekannt ist.
Mit dem angstmachenden Unbekannten, mit dem Dunklen in der Geschichte hat es die große Musik immer schon zu tun gehabt, wenigstens die deutsche Musik. Und welche wäre deutscher und größer als die Musik Richard Wagners, welche hätte je in die europäische Geschichte größere Perspektiven eingebracht als der Ring des Nibelungen? Müssen wir auch diesmal die Tetralogie als den eigentlichen musikalischen Ausdruck der jüngsten Weltenwende akzeptieren? Um uns die Sache nicht zu leicht zu machen, wollen wir uns an ein besonderes Ereignis der Rezeptionsgeschichte des Rings erinnern, nämlich an die erste Studioeinspielung der Walküre durch Bruno Walter im Wien des Jahres 1935 (sie ist zugleich die erste Studioeinspielung einer Wagneroper überhaupt).
Diese Aufführung ist für viele Kenner, und sie haben das bekannt, bis heute Maßstab künstlerischer Qualität geblieben. Das lag natürlich einerseits an den Fähigkeiten der beteiligten Musiker, also des Dirigenten Bruno Walter, der Sopranistin Lotte Lehmann, des Tenors Lauritz Melchior und des Baß’ Emanuel List. Sie waren erstrangige Musiker ihrer Zeit, aber die Situation, in der sie die Aufführung zustandebrachten, und die Absicht, die sie mit ihr damals im Juni 1935 verbanden, trugen noch entscheidender zu der Beispielhaftigkeit dieses musikalischen Ereignisses bei. Geplant war die Einspielung ursprünglich – ausgerechnet von dem Produzenten „his master’s voice“, was man damals zeitgemäß mit „auf Befehl des Führers“ hätte übersetzen müssen – für Berlin. Da aber die Musiker trotz ihres internationalen Renommees dem Hitlerregime aus rassistischen Gründen nicht mehr genehm waren, gingen sie im Wiener Exil daran, die Einspielung als künstlerischen Protest gegen die Einvernahme Wagners durch die NS-Ideologie anzulegen – ein ungeheurer Affront zu einer Zeit, in der Bayreuth die Hauptkultstätte des Dritten Reiches wurde; so jedenfalls will es einer der besagten Kenner und Bekenner, nämlich Ulrich Schreiber, gewertet wissen: „Diese schon legendäre, für manch einen sogar mythische Größe der Bruno Walterschen Einspielung sollte aber nicht dazu verleiten, sie zu einem Mittel der Aufhebung geschichtlicher Realität zu mißbrauchen. Walters Interpretation ist auch ein Zeugnis der Zeitgeschichte, sie ist Licht aus Deutschlands Nacht ... Sie gibt zumindest Anlaß zu der Hoffnung, daß Musik eben letztlich nicht durch Politiker ausschlachtbar ist und auf einen verbindlichen ideologischen Nenner gebracht werden kann. Diesen ungeheuren geschichtlichen Druck, der auf der Musik keines anderen Komponisten lastet, kann man der Aufnahme selbst anhören.“
Von dem verständlichen Pathos dieser Aussage abgesehen, bleibt doch zu fragen, ob ein- und dieselbe Partitur, ein- und derselbe Text einmal als Ausdruck des Widerstandes gegen die Nazidiktatur inszeniert werden kann, und zum anderen, wie Hitler mehrfach bekundete, als Ausdruck der reinsten und geheimsten geschichtlichen Logik der Weltbeherrschungspläne germanischer Herrenmenschen ins Spiel gebracht werden kann. Geht das zusammen? Ist das nicht bloß frommer Wunsch, Wagners Werk von Hitler zu befreien, eine Absicht, die Martin Gregor-Dellin naiv als Zielsetzung heutiger Wagnerpflege propagierte? Sollte nicht langsam klar sein, daß solche „Reinwäsche“ dem Werk Wagners, vor allem dem Ring, gerade die Bedeutung nimmt, die sie in der Geschichte der Deutschen gehabt hat? Sie verstanden das Wagner-Werk, wie auch immer begründet, als reinste Ausprägung ihrer Weltmission, wie auch als Beweis für deren notwendigen und tatsächlich eingetretenen Zusammenbruch. Der Ring stimulierte politische und kulturelle Größenphantasien und trug doch wesentlich zu deren Aufhebung bei. Und das nicht erst, seit Hitler in Wagner seinen einzigen kongenialen Vorläufer sah – nein, lange vor Hitler hatte das begonnen.
Wir können nicht mehr leugnen, daß Wagner diese Zusammenhänge gesehen und gewollt hat, als er nach dem ersten gescheiterten deutschen Versuch, die Einheit zu erzwingen, also nach 1848, begann, den Ring zu konzipieren. Mit einer von niemandem überbotenen Hellsicht arbeitete er die Konstanten der deutschen Geschichte heraus, die bis heute zu gelten scheinen. Gerade weil Wagner tatsächlich genau das traf und im Werk zum Ausdruck brachte, was deutsche Geschichte bestimmt, können wir auch von heute aus mehr oder weniger unvermittelt in diesem Werk die Ereignisse gespiegelt sehen, die uns gegenwärtig so bewegen und die keinen eigenen zeitgenössischen Ausdruck finden können, weil sie, wie gesagt historische Prozesse und nicht eigentlich zeitgenössische sind.
Wir tun dem Wagner-Werk damit keine Gewalt an, abgesehen davon, daß Wagner sich ausdrücklich berechtigt sah, das Denken und Vorstellen der Deutschen mehr oder weniger gewaltsam unter die Logik seines eignen Werkes zu zwingen, der er folgte, weil er sie als die der deutschen Geschichte erkannt zu haben glaubte. Ein Beispiel für solche Logik hat sich uns, ohne daß irgendjemand Derartiges geplant hätte, eröffnet: Mit dem 9. November 1989 holten wir auch unfreiwillig und unabsichtlich den 9. November 1938, den Tag des Reichsprogroms gegen die Juden, in unsere Gegenwart ein; desgleichen den 9. November 1923, den Tag des ersten Versuchs Hitlers, die Weimarer Republik zu zerschlagen, die ihre Geburtsstunde am 9. November 1918 hatte. Die „Novemberverbrecher“ wurden für den „Schandfrieden von Versailles“ verantwortlich gemacht, also für die Zerschlagung des deutschen Kaiserreichs an jenem Ort, an dem im Januar 1871 eben dieses Reich gegründet worden war, ein Ereignis, auf das sich Wagner mit der Gründung seines eigenen Reiches der Kunst in Bayreuth ausdrücklich bezieht.
Daß die Kette solcher Ereignisse der von Wagner rekonstruierten Logik der deutschen Geschichte entspringe, kann man gerade gegenwärtig überrascht und zugleich verstört, im Sinne Wagners, nachvollziehen, wenn man etwa den 1. Aufzug der Walküre mit „Vereinigungsinstinkten“ hört und liest.
Der 1. Akt führt uns einen Flüchtling in fremdem Hause vor Augen, ganz so, wie sich die Ostdeutschen im Herbst ‘89 ins fremde Haus der BRD, der Westdeutschen, flüchteten. Der Flüchtling wird gastlich aufgenommen, obwohl die Frau des Hauses offensichtlich fürchtet, daß ihre humanitäre Hilfe von dem eigentlichen Herrn des Hauses mißverstanden werden könnte. Der Flüchtling ist psychisch schwer belastet durch die Verfolgung jener, die ihm nicht gewähren wollten zu sein, der er ist. Allerdings weiß er selber nicht so genau, wer er ist. Er spürt immerhin die Zumutungen, die er an seine Gastgeberin stellt, da „Mißwende“, eine fremde Einflußnahme auf sein Schicksal, ihm folge, wo immer er sich hinbegebe. Aber die Gastgeberin versichert ihm, auch in ihrem Hause sei trotz gegenteiligen Anscheins nicht alles so wohlbestellt, wie der Flüchtling und Gast es glauben möchte. Der Hausherr erscheint. Sein Unbehagen an der Situation wird genährt, weil ihm auffällt, daß der Flüchtling und seine Frau merkwürdige Ähnlichkeiten zeigen. Was dem Hausherrn an seiner Frau immer schon unheimlich erschienen war, bemerkt er nun auch an dem Gast, „der gleißende Wurm glänzt auch ihm aus dem Auge“. Wer ist der Flüchtling? Wieso ähnelt er der Hausherrin? Sobald nun Hunding, der Wirt, sich selber zu kennzeichnen beginnt, legen sich uns peinliche Assoziationen nah. Hunding sagt: „Wendest Du von hier Dich nach Westen, dann wirst Du, in Höfen reich, dort Sippen hausen sehen, die meine Ehre behüten“. Da wird doch dem heutigen Hörer unter dem Druck der gegenwärtigen Ereignisse nahegelegt, als den eigentlichen Herren unseres BRD-Hauses die Westmächte zu sehen. Eine irrwitzige Sicht, aber keineswegs irrwitziger als viele der bisher an das Szenario des Ring geknüpften „Interpretationen“ resp. die von Wagner selbst seinen Werken unterschobenen Lesarten.
Bevor wir aus ihnen Schlußfolgerungen ableiten, müssen wir uns noch etwas mehr in den Sog solcher in sich geschlossener, von den jeweiligen zeitgeschichtlichen Ereignissen nahegelegter „Wahnwelten“ einlassen. Also: Der Flüchtling und Gast kennzeichnet sich selber als jemand, der eigentlich Friedmund heißen möchte, also dem Frieden geweiht, und Frohwald sein möchte, also jemand, der absichtslos offen sein eigenes Schicksal verwalten möchte; doch Wehwald muß er sich nennen, also jemand, der aus seinem eigenen Elend nicht herausfinde. Sein Vater sei Wolfe gewesen – wobei dem heutigen Hörer wahnhaft, aber unabweislich in Erinnerung kommt, daß die Wagner-Enkel Hitler stets mit „Onkel Wolf“ ansprachen.
Der Flüchtling macht auch klar, daß er ursprünglich eine Zwillingsschwester gehabt habe von eben jenem Vater Wolfe; er sei aber durch die Ereignisse, die in den Taten eben jenes Vaters gründeten, von ihr getrennt worden. Das gemeinsame Heim sei zu Schutt verbrannt, der prangende Saal verkohlt. Die Logik der interpretatorischen Wahnwelt ruft die Erinnerung an das Ende des von Wolfe verursachten Zweiten Weltkriegs und die Teilung der Zwillingsdeutschen in Ost und West auf. Der Flüchtling schildert nun, wie er nach dem Zusammenbruch versuchte, seine Schwester wiederzufinden, ihm das aber nicht gelungen sei, da von seinem Rudel nur noch die abgeworfenen Wolfsfelle übrig waren – die Wölfe des Rudels hatten sich in gute demokratische Schafe à la Globke und ihre sozialistischen Pendants in der DDR verwandelt.
„Aus dem Walde trieb es mich fort“, sagt der Flüchtling, „mich drängte es zu Männern und Frauen, aber, ob ich um Freunde warb, immer war ich geächtet. Unheil lag auf mir, was Rechtes ich je riet, anderen dünkte es arg, was schlimm immer mir schien, andere gaben ihm Gunst. In Fehde fiel ich, wo ich mich fand, Zorn traf mich, wohin ich zog, gehrt ich nach Wonne, weckt ich nur Weh“, – eine genaue Beschreibung dessen, was den Gründervätern der DDR und ihren Programmatikern seit 1948 beschieden war. „Drum muß ich mich Wehwald nennen.“
Hunding, der Wirt, gibt auf die Enthüllung über das Schicksal des Flüchtlings folgende Antwort: „Die so leidig Los Dir beschied, nicht liebte die Norn Dich. Froh nicht grüßt Dich der Mann, dem fremd als Gast Du nahst“, eine Bekundung, wie sie die Westmächte gegen die mögliche Wiedervereinigung der Zwillinge BRD und DDR kaum anders vortrugen.
Und so fort von Szene zu Szene, inklusive der inzestuösen Verschwisterung von Siegmund und Sieglinde, von DDR und BRD, nachdem Siegmund erkannt hatte, ihm falle die Aufgabe zu, aus der festen Fügung der historischen Verhältnisse die Einheit herauszulösen: er zieht das Schwert, immer schon Symbol der Reichseinheit, das niemand anderer zu bewegen vermochte, aus dem Stamm des bisherigen Weltgefüges. Ist sie auch Wahnsinn, so hat diese Interpretation unter dem Druck der Ereignisse doch ihre einleuchtende Logik. Man kann sich ihr nicht mit dem Hinweis darauf entziehen, daß das Verständnis der Werke Wagners im Dritten Reich nur eben der gleichen Logik wahnhaften Wähnens gefolgt sei wie zuvor das des Wilhelminischen Imperialismus.
Man mag es die Größe eines Werkes nennen, daß es in je unterschiedlichen historischen Situationen gleichermaßen ad hoc adaptierbar ist. Man kann sich aber nur schwer darauf einlassen, Wagners Werk allein für in diesem Sinne groß zu halten, wozu man angesichts der Tatsache gezwungen wäre, daß die Wirkungsgeschichte des Werkes von Wagner die aller anderen Kunst- und Wissenschaftswerke unserer jüngeren Geschichte bei weitem übertrifft. Die Ursache dafür kann nicht in der schieren künstlerischen Einmaligkeit Wagners liegen, sondern in dessen Konzept und Strategie.
Aus der Rekonstruktion dieser Konzepte und Strategien geht unmißverständlich hervor, daß es Wagner von vornherein auf etwas ganz anderes abgesehen hatte als auf das bloße Kunstschaffen. Sein Gesamtkunstwerk ist eben kein Kunstwerk, sondern ein Weltenbau, ein Versuch, mit den Mitteln der künstlerischen Überwältigung zugleich eine politische, eine soziale, eine ökonomische eine pädagogische Utopie zu verwirklichen. Wagner kam es nicht darauf an, als bloßer Künstler, wenn auch als genialer, Geltung zu erlangen, sondern auch die Formen der Geltung, die bei dem eingespielten Rollenverständnis bis dato dem Fürsten, dem Feldherren, dem welterlösenden Heiland, dem Sozialrevolutionär vorbehalten waren, für sich zu reklamieren.
Hartmut Zelinskys Rekonstruktionen dieser Konzepte Wagners sind schlechterdings nicht zu widerlegen, wenn es denn überhaupt noch einen Sinn machen soll, sich auf das Selbstverständnis eines Künstlers, eines Politikers oder Propheten einzulassen. Aber die Art, in der man Zelinskys Arbeit aufgenommen hat resp. eben nicht, sollte uns stutzig machen. Hat nicht das Werk Wagners die historische Wahrheit erst für sich, wenn man ihm alle jene Intentionen zugesteht, die Zelinsky aus Wagners Schriften, Libretti, aus den Tagebüchern Cosimas und unzähligen zeitgenössischen Quellen rekonstruiert hat? Gerade die Bekundungen der Zeitgenossen Wagners zeigen, wie gut er verstanden wurde, und die Anmerkungen Cosimas zu diesen Äußerungen der Zeitgenossen belegen, daß Wagner sich zumeist ex negativo gerade von den Gegnern seiner Konzepte richtig verstanden wußte.
Warum wollen wir das nicht gelten lassen, warum akzeptieren wir bedenkenlos die historische Fälschung der Wagnerschen Konzepte und Strategien durch diejenigen, die ihn auf einen, wenn auch großartigen, Filmmusikproduzenten reduzieren wollen? Solche programmatische Verharmlosung wird ja auch zum Beispiel mit der Figur des Reichsgründers Bismarck betrieben, dem man bei seinen Friedrichsruher Revolten bestenfalls zugesteht, auch einige Dunkelseiten gehabt zu haben. Es spricht vieles dafür, daß wir mit diesen vermeintlich ehrenrettenden Verniedlichungen der grundsätzlichen Frage entgehen wollen, inwieweit die „Macht der Kunst“ aller Macht gleicht, sei es der ökonomischen, der politischen oder der kirchlichen. Daß es Macht in den Beziehungen der Menschen notwendigerweise gibt und geben muß, wird kaum jemand bestreiten. Schwächere Gemüter versuchen aber, sie auf die Macht, Wünschbares und Gutes zu tun, zu beschränken. Vornehmlich der machtvolle Künstler soll darauf festgelegt werden, zu läutern und zu reinigen. Für die irreversiblen Prozesse, die an die Durchsetzung solcher Macht geknüpft sind, möchten vor allem Machtprätendenten selbst nicht zur Verantwortung gezogen werden. Wie man das umgeht, dafür hat der Übergang vom Dritten Reich zu den beiden Nachfolgerstaaten und gerade jetzt der Übergang vom stalinistischen Totalitarismus zur sozialen Demokratie hinreichende Beispiele geliefert. Angesichts der Größe welterlösender Ideen könne angeblich kein einzelner Mächtiger zur Verantwortung gezogen werden. Die Reinheit und Größe der von ihm vertretenen Positionen lasse ihn selbst schuldunfähig werden.
In der Kunst hat man mit dem Postulat der Autonomie eine Möglichkeit gefunden, die Künstler in die Unzurechnungsfähigkeit zu entlassen. Da stört ein Künstler wie Wagner, der für sich die Zurechnungsfähigkeit reklamiert, der offen und bewußt sein Machtstreben kennzeichnet und seinen Anspruch auf außerkünstlerische Geltung mit erschreckender Eindeutigkeit vorträgt. Der Künstler Wagner hat sich nicht zum musikalischen Illustrator geschichtlicher Ereignisse degradieren lassen wollen, sondern in sie mit seinen Mitteln einzugreifen versucht. Es ist nicht zu erwarten, daß er selbst zu den Verfahren seiner Adepten gegriffen hätte, für sich die Unschuld des Künstlers zu reklamieren; denn das Interesse für die Tragödie der historischen Täter ist ja die Grundlage eines jeden Dramatikers. Was hätten ihm dramatische Konstellationen bedeuten können, wenn er die Täter von vornherein wegen Unzurechnungsfähigkeit exkulpieren müßte? Die „Götterdämmerung“ mag er zwar als Weltuntergangscouplet bezeichnet haben, aber in jedem Falle ging es ihm um den Untergang, das heißt um die Letztbegründung der Geschichte durch deren Eigenlogik: Auferstehung kann es ohne Apokalypse nicht geben, Bauen ist immer eine Form der Zerstörung, Taten werden erst bedeutsam durch die Opfer, die sie hervorrufen.
„Das letzte Wort ist Untergang“ – gerade dann, wenn man die Erlösung will. Offensichtlich wollen wir auch als Künstler nichts mehr, weil wir nicht schuldig und zur Verantwortung gezogen werden wollen. Freilich kann auch das Größe sein, möglicherweise die einzige Form von Größe, die wir noch anerkennen können; aber dann sollten wir aufhören, künstlerische Konzepte und Strategien, wie die Wagners, als gegenwärtig wirkende Kräfte ins Spiel zu bringen und sei es ins Theaterspiel. Wagner von seinen Absichten und Wirkungen zu befreien, heißt ja ohnehin, ihn in der Historie zu beerdigen.