Magazin Kunstforum International

Bd. 150, Zeit - Existenz - Kunst

Kunstforum International, Band 150, Titelseite
Kunstforum International, Band 150, Titelseite

Trotz des modischen Diskurses über Zeit in Feuilletons, Ausstellungen und anderswo, sozusagen als Vorhut des Jahrtausendwechsels, muss man doch immer wieder die irritierende Feststellung treffen, dass das existentielle Zeitbewusstsein eine Rarität ist: Der Umgang mit der Temporalität entspricht keiner Objektivität, sondern hat sich, da einem historischen Prozess der Zivilisation unterworfen, mit der Zeit entwickelt - das ist eine von dem Soziologen Norbert Elias in seinem Versuch Über Zeit nahegelegte Erkenntnis, die quasi die Grundbasis der KUNSTFORUM-Reflexionen in diesem Band ist.

Überhaupt erweist sich bei näherem Hinsehen die per Uhr messbare Zeit ohnehin als ein logisches Konstrukt, ja als ein nur relativ taugliches Hilfsmittel, Beziehungen zwischen Menschen herzustellen, deren Handlungen zu synchronisieren: Denn kaum, dass wir in einer anderen Zeitzone und somit meist auch in einer anderen Kultur landen, wo die Zeit anders vergeht, werden Zeitsysteme, die uns zuvor so objektiv wie unverrückbar erschienen, Lügen gestraft. Denn jede Kultur und jede Religion gehen von ihren Zeitvorstellungen aus, die sich in deren jeweiliger Zeitpraxis niederschlagen. Darauf, dass Zeit, ob wissentlich oder unwissentlich, von uns subjektiviert wird, hebt der erste Teil der KUNSTFORUM-Dokumentation ab. Nachgefragt wird, ob, und wenn ja, wie Künstler, Philosophen, Filmregisseure und Literaten Zeit existentiell erleben und wie sich deren Zeitverständnis in ihrem jeweiligen Medium ausdrückt. Die Dokumentation spürt also der Vernetzung von ZEIT · EXISTENZ · KUNST nach. Mehr noch, sie führt vor, wie Zeit direkt oder indirekt in Bildern ansichtig wird und zur Ausstellung gelangt und wie sehr sich Zeitbilder und Zeitkonzeptionen auch innerhalb des herrschenden Zeitsystems von Werk zu Werk verschieben oder gar subversiv werden.

Der nächste Band DAUER · SIMULTANEITÄT · ECHTZEIT (herausgegeben von Birgit Richard und Sven Drühl) wird sich dann speziell mit der Wahrnehmung von Zeit unter dem Aspekt der Neuen Medientechnologien, mit der Neukonstruktion von abonnementn im Kontext der technisch erzeugten Bilder befassen.

Erschienen
1999

Herausgeber
Jocks, Heinz-Norbert

Verlag
KUNSTFORUM International

Erscheinungsort
Ruppichteroth, Deutschland

Issue
Bd. 150

4 Der Zeitpfeil von Augustin

Jocks: Hat sich Ihr Verhältnis zur Zeit mit der Zeit verändert?

Brock: Schwer zu sagen, aber es könnte so aussehen. Das hängt davon ab, in welchen Zeitdimensionen man sich jeweils bewegt. Als Ästhetiker bin ich seit zwanzig Jahren auf die neurophysiologische Begründung meines Fachbereichs ausgerichtet; ich gehe davon aus, dass so etwas wie eine naturevolutionäre anthropologische Konstantenangabe für unser ästhetisches Bearbeiten der Welt möglich ist. Seit mindestens 35.000 Jahren besitzen Menschen das Gehirn, mit dem wir heute noch funktionieren. Da hat sich nichts geändert. Meine Einstellung zur Zeit hat sich insofern gewandelt, als ich nicht mehr durch das, was man im Alltag sieht, schockiert werden kann. Also schnell wechselnde Moden und angegebene Verfallsdaten, Sollbruchstellen, die Panik, zu spät zu kommen, die Befürchtung, nicht zeitgemäß oder up to date zu sein – so etwas verliert sich vollständig. Man ist besser in der Lage, scheinbar evidente Anforderungen wie "man muss doch mit der Zeit gehen" zurückzuweisen.

Jocks: Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Kunst und Zeit?

Brock: Von Augustin stammt die theologische Begründung von Zeit im Sinne des Zeitpfeils: Er kommt aus der dunklen Vergangenheit, wird in einem kurzen Teil sichtbar und verschwindet in dunkler Zukunft wieder. Der nach der Scholastik, nach dem Universalienstreit und nach Anselm von Canterbury entwickelte Zeitbegriff kam aus der bildenden Kunst, weil Maler sich mit der Frage beschäftigen mussten, wie sich etwa in der Darstellung von Marias Lebensweg ihre verschiedenen Lebensabschnitte gleichzeitig und parallel zueinander auf einem Bild veranschaulichen lassen. Sie fragten sich z.B., wie die Heimsuchung von Maria durch den Verkündigungsengel darstellbar sei. Da gibt es ein Nacheinander zeitlicher Verlaufsformen in fünf Stadien: zunächst das Erschrecken Marias; dann das Überraschtsein durch die Verkündigung des Engels; danach das Eintreten Marias in eine Diskussion mit dem Engel; schließlich das Akzeptieren des Auftrags und am Ende ihr Dank. Das musste dargestellt werden, aber auch die verschiedenen Stationen ihres Lebens nach der Verkündigung. Dazu benötigten die Künstler einen Zeitbegriff bildlicher Art. Übrigens ist Giotto der erste Großmeister, dem es mit den Arena-Fresken von Padua um 1310 gelang, das Problem aufs Raffinierteste zu lösen. Stellen Sie sich außerdem die Geschichte vor, wie die betagten Eltern Marias selbst eine Verkündigungsvorgabe bekommen und wie Marias Vater, ein Hirte namens Joachim, der in den jüdischen Tempel will, um zu beten, dort abgewiesen wird, weil er keinen Sohn gezeugt hat und zur Herde zurückkehrt. Giotto zeigt das anhand der Darstellung eines Hundes als Hund des Herrn. Das heißt, das Tier erkennt den Zurückkehrenden. Darin wird die Zeitbegrifflichkeit ausgedrückt. Dass der Hund zusammen mit seinem Herrn lebte und der Herr wegging und wieder zurückkehrt, das alles manifestiert Giotto in einem einzigen Gestus, indem er den Hund so darstellt, dass die ganze Kette zeitlicher Verlaufsformen, darunter auch die vorwegnehmenden, für jeden Betrachter erfahrbar wird. Die Künstler haben, und das ist ein Hauptteil der Evolution in der bildenden Kunst, ungeheure Anstrengungen unternommen, um Zeitbegrifflichkeiten zu schaffen, und dabei ungeheure Resultate erzielt. Teils geschah das unter Rückgriff auf die Antike, etwa den architektonischen Grundtypus "Zentralbau" des Pantheon. Die Künstler haben auch mit Rücksicht auf antike Mythologien geklärt, was überhaupt eine mythologische Aussage sei, nämlich eine zwar von Menschen irgendwann verfasste, aber inzwischen urheberlos gewordene. Ein Homer, wer auch immer er gewesen sein und wann auch immer er gelebt haben mag, hat die Ilias und die Odyssee aufgeschrieben. Diese Erzählungen gewannen so sehr an Macht, dass es nicht mehr darauf ankam, wer ihr Urheber war. Es handelte sich um Erfahrungen , die für jedermann, der zum Kulturkreis gehörte, evident waren wie das Schicksal des ewigen Wanderers und Heimkehrers. Verschiedenen Autoren, die zwischen 1435 und 1439 aus Byzanz nach Florenz kamen, um dort den Lehrbetrieb der untergegangenen Universität von Konstantinopel fortzusetzen, gelang es schließlich, den Begriff der Wahrheit in vernünftiger, auch heute für die Wissenschaft noch gültiger Weise darzulegen: demnach sind Sätze, die wir für wahr halten, nicht mehr auf einen individuellen historischen Autor zurückführbar. Vielmehr gelten sie weit darüber und über ihre Epoche hinaus. Das Urheberloswerden war in gewisser Weise eine Produktion der Zeitform der evidenten Dauer. Was wahr ist, ist wahr für lange Zeit oder sogar für immer. So ist auch die Naturwissenschaft ohne die Erfindung von Zeitschöpfungsformen wie Ewigkeit, Wahrheit oder Dauer gar nicht denkbar. Wenn sie den Gesetzen der Natur, z.B. der Schwerkraft nachhorchte, kam es darauf an, die Naturevolution, also die geschichtlichen Veränderungen unter dem Aspekt zu untersuchen, was sich nicht verändert. Folglich wurde die historische Betrachtung von Formwandel auf Formkonstanz und von Formkonstanz auf Formwandel hin eingeführt. Im Grunde ein ungeheuerlicher Schritt, da Zeit substantiell formuliert werden konnte, was in wissenschaftlichen Operationen und Experimenten nutzbar war: objektiviert als Newtonsche Zeit, aber auch als Erfahrungs- und Erzählzeit. Diese Zeitformen haben eine viel größere Bedeutung bekommen als etwa die heute schon relativierte Newtonsche Auffassung.Aus dem Dunkeln ins Dunkle.

Jocks: Wie verändert sich die Darstellung von Zeit in der Kunst mit den Medien wie Malerei, Skulptur und Film?

Brock: Das Entscheidende in der gesamten Medienentwicklungsgeschichte ist wohl mit dem "Recording" verbunden, also der Möglichkeit, eine einmalige Aufzeichnung bildlicher oder auditiver Art beliebig oft wiedergeben zu können. Das war mit der Fotografie für Augenblickswahrnehmung und mit dem Film durch erneutes Abspielen bereits möglich, wenn auch nur in fester Hand einiger Weniger. Erst seit dem Videorecording für jedermann fand dieses Zeitverständnis enorme Verbreitung. Es hat sich quasi den alten christlichen Vorstellungen der Wiederauferstehung von den Toten wie ein Synonym angenähert. So können wir heute Clark Gable per Film wiederauferstehen lassen oder ein authentisches, nur zufällig auf Ton aufgenommenes Ereignis beliebig häufig wiederholen.

Jocks: Wie verändert sich unser Verhältnis zur Zeit per Recording?

Brock: Jedermann kann sich von der Zeiterfahrung als pfeilhaftes Vorbeifliegen aus dem Dunklen ins Dunkle ablösen und sich den geschichtswissenschaftlichen oder künstlerischen, sehr unterschiedlichen Zeiterfahrungen öffnen. Dass man nicht mehr an der kalendarischen Zeit klebt, ist grundlegend für die Alltagserfahrung. Was das beinhaltet, zeigt sich, wenn man etwa bei der Silvesterparty in Kollision mit unterschiedlichen Wahrnehmungsformen von Zeit gerät: Da ist die Zyklizität, die sich aus dem Umlauf der Erde um die Sonne ergibt, also der Wechsel Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, sowie die chronologische Voranschreibung der Jahre. Beides in der Vorstellung zusammenzukriegen, bereitet uns ziemliche Schwierigkeiten. Aber es gibt das künstlerische, in der Ausstellung "Macht des Alters" gezeigte Beispiel von James Cabot, das dies dennoch veranschaulicht.

Jocks: Mit der Ankunft Neuer Medien sollen Zeitschwellen hinfällig werden, nicht wahr?

Brock: Man mag den Eindruck gewinnen, aber die freie Verfügbarkeit ist dennoch nicht gegeben, weil wir auf rein somatischer Basis und weitgehend auch aufgrund unserer Abhängigkeit von psychosomatischen, auch mentalen Prozessen der Alterung irreversiblen, in der Evolution als sinnvoll herausgearbeiteten Bedingungen unterliegen. Davon kann man sich nicht freimachen. Wer den permanenten Wandel erlebt in den Appellen, alle halbe Jahre die Anzugzuschnitte zu wechseln, der muss sich klarmachen, warum das nicht per Dekret eines Diktators ein für allemal aus der Welt geschafft wird. Wann auch immer man dies versuchte, etwa Mao mit seinen blauen Ameisenanzügen, scheiterte der Versuch kläglich. Langsam wird also erklärlich, warum wir nicht Herrscher über die Zeit sind. Es gibt eine Tendenz in den historischen, kulturwissenschaftlichen und sonstigen Disziplinen, den Master of Time zu machen, um ein methodisches und theoretisches Fundament für die Entwicklung von Zeitbegrifflichkeit auszuweisen. In gewisser Hinsicht sind heute sogar Naturwissenschaftler, auch wenn sie auf die neuesten Technologien ausweichen, gezwungen, Historiker zu sein. Das liegt in der Logik der Verwendung technologischer Angebote. Sie müssen sich um die Geschichte ihrer Disziplinen kümmern und selbst dann historisch denken, wenn sie glauben, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Maschinen aus der bisherigen Geschichte entlassen zu sein. Wer einen Positronenemissionstomographen verwendet, glaubt vielleicht, er benötige weder Kenntnisse der darstellenden Anatomie noch womöglich der Anatomie überhaupt. Im Gegenteil, durch den PET erweist sich die historische Entwicklung der darstellenden Anatomie erst besonders leistungsfähig. Der Historisierungsdruck steigt, und die Historisierung würden wir in unserem Bereich eher als Musealisierung auffassen. Der negativen Bewertung des Begriffs der Musealisierung lässt sich entnehmen, wie groß der Widerstand gegen den Verzeitlichungsdruck ist, obwohl jedermann dazu neigt, mit seinen Produkten, Büchern, Bildern in Archiven oder Museen zu landen. Selbst alter Plunder wird auf Trödelmärkten als "Antiquität" zum geldwerten Gut.