Die Künstlerin spielt mit ihrer Skulptur, der Monitoruhr, auf die Gestalt der traditionellen Sanduhr an. Das alte Zeitmeßgerät fasziniert bis heute, weil es das Vergehen der Zeit als buchstäbliches Verrinnen (von Sand) sichtbar macht. Rakauskaite ersetzt den Sandfluß zeitgemäß durch den Bilderfluß heutiger Medienwelt. Auf den verschiedensten Ebenen setzt die Künstlerin die Benutzung der Sanduhr in Parallele zur Nutzung der Fernsehgeräte:
— Die Sanduhr muß durch das Eingreifen des Nutzers immer erneut aktiviert werden; da der Sand schwerkraftgemäß nur von oben nach unten läuft, hat man die Uhr nach jedem Durchlauf umzukippen. Dem entspricht das Aktivieren der Fernsehgeräte durch Drücken des »Power«-Knopfes respektive durch Bedienung der Programmtasten.
— Man kann ein Programm als Zeitrahmen für das Fließen von Bildern verstehen. Das Programm umfaßt ein Bildkontingent wie die Behälter der Sanduhr einen Sandvorrat.
Bis vor wenigen Jahren benutzten wir im Alltagsleben das Angebot von Fernsehprogrammen weitgehend zur Strukturierung von Tagesabläufen: Abend war es, sobald die heute-Sendung des ZDF oder die Tagesschau der ARD liefen. Film und Fernsehen entwickelten Zeitmaße (Reportage 45 Min., Spielfilme 90 Min. mit besonderer Hervorhebung von »Überlängen«), mit denen wir im Alltag zu rechnen lernten.
Sanduhren haben eine Fließrichtung, Egle Rakauskaites Monitoruhr ebenfalls. Für uns alle wird die Fließrichtung durch die Vorstellung bestimmt, daß Zeit pfeilartig gerichtet ist — aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft; oder im menschlichen Leben als Entwicklung von der Geburt bis zum hohen Alter. Rakauskaite veranschaulicht das durch Einspeisung von Bildsequenzen mit Aufnahmen von Kleinst- und Klein-kindern, die über den oberen Monitor, und mit Aufnahmen von alten Menschen, die über den unteren Monitor ausgestrahlt werden. Dadurch entsteht der Eindruck von fließender Lebenszeit analog zum Verrinnen der Zeit in der Sanduhr.
Seit alters benutzen Künstler das Motiv der Sanduhr, uni den Betrachter an das schnelle Vergehen der Lebenszeit zu erinnern. Aber der Sinn dieses Zeichens erfüllte sich nicht im Betrachten von Darstellungen der Sanduhren. Entsprechend weist die Monitoruhr darauf hin, daß die Nutzung der Tages- und Lebenszeit sich nicht darin erschöpfen darf, stets nur dem Vorbeifließen der Bilder zuzusehen, um Zeiterfahrungen in machen. Vielmehr fordern uns die bildlichen Fixierungen verschiedener Zeiteinheiten auf, darüber nachzudenken, was zwischen den Bildern geschah - oder was das Leben zwischen Geburt und Tod kennzeichnet.
Damit der Betrachter der Monitoruhr zugleich die Bilder des oberen und des unteren Bildschirms wahrnehmen kann, hat Rakauskaite über und unter den Monitoren Rundspiegel plaziert - wie Spione an Erkerfenstern, Supermarktkassen oder unübersichtlichen Straßenkreuzungen. Sobald der Betrachter versucht, sich selbst in den Spiegeln zu sehen, verschwinden die Monitorbilder aus dem Blick.
In der Tradition der Bildsprache wird »Widerspiegelung« ebenfalls als Metapher der Flüchtigkeit verstanden.
Der selbstbetrachtende Blick in den Spiegel wird eitel, sobald man die Flüchtigkeit, die Vergänglichkeit des augenblicklichen Selbstbildes vergißt. Wer sich durch den Spiegel an die Flüchtigkeit mahnen läßt, reflektiert. So wuchs der Spiegeldarstellung die Bedeutung von »Nachdenken« zu. Zu reflektieren heißt, die eigene Situation im weltlichen Dasein zu bedenken, indem man sich klarmacht, wie weitgehend das Selbstbildnis von der Erscheinung abweicht, die man der Welt bietet. Der morgendliche Blick in den Spiegel, das empfindet so gut wie jedermann, zwingt uns, den Abstand zwischen Selbstbild und reflektiertem Bild anzuerkennen — meist ein peinliches Erlebnis, es sei denn, man versucht mit Hilfe gerade des Spiegels sein Erscheinungsbild kosmetisch zu manipulieren.
Rakauskaite verzichtet darauf, die ausgestrahlten Bilder der Kleinkinder und Greise unter irgendwelchen Gestaltungsgesichtspunkten zu verändern. Entsprechend dem Gebrauch der Spiegelmetapher wäre es schließlich nur ein Akt künstlerischer Eitelkeit zu glauben, daß Lebenszeit erst durch das Gestaltungspotential des Künstlers Kontur erhielte. Rakauskaite beschränkt sich darauf, die Gestalten des Lebens sichtbar werden
zu lassen, wie das etwa Porträtisten leisten. Deshalb sieht man in den Spiegeln die Bildschirme aus dem Querformat ins Hochformat gekippt, das üblicherweise für Einzelporträts von Individuen verwendet wird.
Der Aufbau der Monitoruhr veranlaßt den Betrachter, wenn er die Bilder der Jungen und Alten in den Spiegeln sehen möchte, den Blick wechselweise zu heben oder zu senken. Auch diese Blickrichtungen sind metaphorisch aufgeladen, z.B. in der christlichen Bildsprache als Blick himmelwärts oder erdwärts — respektive als Blick in die Sphäre der göttlichen Zeitlosigkeit oder in die weltliche Endlichkeit des Grabes. Um die Gestaltanalogie zur Sanduhr mit ihrer schwerkraftmäßigen Fließrichtung von oben nach unten aufrechtzuerhalten, mußte Rakauskaite die Bilder der Kleinkinder über den oberen Monitor wiedergeben, denn auch die Lebenszeit wird als gerichtetes Fließen von der Geburt zum Tode empfunden. Zu dieser formalen Entsprechung tritt also eine inhaltliche: Der Blick in die kosmische Sphäre versichert uns der ewi-gen Erneuerung; der Blick zum Boden mahnt an die Notwendigkeit, das Leben zu vollenden. Diese Notwendigkeit vollzieht sich gerade im Wandel der Technologien mit großer Geschwindigkeit. Weil über kurz oder lang die Bildröhren durch neuere Technologien ersetzt werden, wird die Monitoruhr selbst zum Zeichen des permanenten Wandels der Zeiterscheinungen.
Die Uhr des Lebens wird gekippt, damit von neuem Lebenszeit vergehen kann.
Abbildungen:
Monitoruhr, 1998, 218x70,5x63cm, 2 Fernsehbildschirme, 2 Spiegel, Holz, Aluminium, Plexiglas
Monitoruhr, 1998 (Zeichnung)